Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Zur Historiografie von Theatralitätsgefügen.

Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach. Herausgegeben von Gisbert Amm. (Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 1998). ISBN 3-89602-199-0. Preis: ATS 218,--

Autor/innen

  • Ulf Birbaumer

Abstract

Leider sind sie immer noch vergriffen: die Studien über ein deutschsprachiges teatro dell'arte der Lessingzeit, die Rudolf Münz unter dem Titel Das "andere" Theater 1979 im Berliner Henschelverlag herausgebracht hat. Umso erfreulicher, daß wir jüngst von einem der profundesten Kenner nicht nur der deutschsprachigen Commedia (er lehrt derzeit in Mainz) wieder einmal ein Lebenszeichen in Buchform erhalten, und ein sehr grundsätzliches noch dazu, das wiederum sehr umfassend in der Entstehungsgeschichte des "anderen Theaters" blättert, worin Gerda Baumbach (Leipzig) in einem einführenden Geburtstagsgeschenk an ihren Lehrer zum Thema Immer noch Theatralität eine Affinität zu den Ansätzen des russischen Theatertheoretikers und -historikers Vsevolodskij (recte Gerngross) ortet: bekunden doch beide ein besonderes Interesse für (Baumbach Gerngross zitierend) "das rituelle, das spielerische Theater" (S. 21).

Immer noch Theatralität? Gerade heute, und damit meine ich auch die Entwicklungen des spectacle vivant in den letzten drei Jahrzehnten, in denen sich der Paradigmenwechsel von der Asymmetrie von "Leben und Theaterspielen" zur Symmetrie zum Alltagsleben wieder einmal deutlich ablesen läßt, stellt Münz die richtige Frage zur rechten Zeit. Theatralität? Endlich wieder!

Nun ist es ja nicht so, daß Theatralität, die alltagsbezogene wie die artifizielle, in der Interdisziplinarität der Kulturwissenschaften kein Thema gewesen wäre (von Goffman bis Turner). Und die im vorliegenden Band versammelten Reden und Aufsätze von Rudolf Münz machen deutlich, daß auch ein Teil der Theaterwissenschaft diese Reflexion in den 80er und 90er-Jahren nie aufgegeben hat. Ähnliches beweisen auch Joachim Fiebachs unlängst publizierte Versuche um Theaterkunst und Theatralität1 sowie Gerda Baumbachs Wiener Habilitationsschrift zur außerliterarischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Parodie zwischen Spiel und Schau2. Aber innerhalb der gängigen Theaterhistoriographie bleiben sie die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Dabei hat Münz in seinen beiden "Theatralitätskonzepten" (1989 und 1994 - und natürlich schon im "Anderen" Theater) stringente Strukturvorschläge gemacht, die den diesbezüglichen Diskurs überaus reizvoll erscheinen lassen. Da ist vor allem einmal die Betonung der Wichtigkeit der griechischen Wurzel théa in theatron (die schon Gerngross hervorhebt), das Schau-Element gewissermaßen, das, so Münz, immer in Zusammenhang mit seiner Funktion der ostentazione gesehen werden müsse, um Theatralität sinnvoll zu begreifen.

In Verbindung damit skizziert er zweierlei Grundtypen von Theater (Theater und "Theater"), die Theaterkunst im weitesten Sinne einerseits und ein bestimmtes menschliches Verhalten im außerkünstlerischen Bereich (Riten, Feste, soziales Rollenspiel, Alltagsunterhaltung etc.) andererseits. Reaktionen auf diese tendenziell zunehmend normierten Phänomene waren die generelle Ablehnung jeder "Theaterei" (Nicht-Theater) bzw. "die Konzipierung eines Strukturtypus von 'Theater' der den beiden anderen bewußt entgegensteht", superartifiziell und entlarvend (vornehmlich durch die Maske). Alle vier konstituieren sie, historiographisch gesprochen, die Theatralität einer Epoche (S. 68 ff.).

Theatralität, so gesehen, sei nämlich als ein vorerst wertfreies Verhältnis, das die historisch veränderliche, dynamische Relation von Theater und "Theater" bezeichnet.

Aber Münz liefert in diesem Sammelband nicht nur innovative Strukturierungsvorschläge für eine neu zu schreibende Theatergeschichte, er umreißt auch deutlich die Themen und kennzeichnet unterstreichend die Forschungsfelder, die er vordringlich behandelt wissen möchte im Sinne der neu aufgegriffenen Theatralitätsdebatte.

Dabei steht erwartungsgemäß, nicht zuletzt bei den ersten theaterwissenschaftlichen Interpretationen der Buchmalerei der Prager Prachthandschrift, die mittelbare Reflexionen du giullaresken Aktionen darstellt, der menschliche Körper als Abbild der Gesellschaft (nach Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 1998) im Mittelpunkt. Somit auch die arte giullaresca und deren vielfältige Träger - giullari nudi, Spielmann / Spielfrau?, forains, Trixter - bis hin zu D'Arco Silvio Avalles Proto-Zanni (Zeugnis von 1290) (S. 149), womit ein sehr frühes Bindeglied zur Commedia italiana und ihrem engeren Bezugsrahmen, der Commedia dell'arte, sich manifestiert. Ergänzen wir diese mediterrane und westliche Entwicklung auch noch durch die osteuropäischen Skomorochen (Baumbach, 1995), so scheint es nunmehr leichter geworden zu sein, Licht in die Entstehung dieser zu den "edelsten Erfindungen der Menschheitskultur" gehörenden professionellen Spektakelkultur zu bringen. Münz verweist auf die Standardwerke von Taviani, Molinari und Greco, die zwar noch das Geheimnisvolle der Commedia in ihren Buchtiteln betonen, aber doch auch darauf bedacht seien, "den Schleier wegzuziehen" (S. 142). In diesem Zusammenhang wird auch auf die editorische Arbeit Siro Ferrones verwiesen (sogetti-Ausgaben, Schauspieler-Briefwechsel), dem ich noch die 1993 bei Einaudi erschienene Geschichte der Commedia dell'arte im 16. und 17. Jahrhundert in Europa hinzufügen möchte, die schon im Titel der Dimension der Körperlichkeit in der Darstellung die der ökonomischen und politischen Zusammenhänge hinzufügt - Attori, Mercanti, Corsari - und damit über die vorweggenannten Forschungen wesentlich hinausgeht.

Und dann findet sich naturgemäß auch der wichtige Hinweis auf das Theater der Gegenwart, auf Dario Fo beispielsweise und auf die überraschende Begründung der Zuerkennung des Literaturnobelpreises (weil er sich in der Art der giullari auf die Seite der Entrechteten stellt), die einmal mehr in Erinnerung ruft, "daß nämliche mittelalterliche Arte giullaresca und renaissanceverbundene Commedia dell'Arte zwei Seiten derselben Medaille darstellen" (S. 141).

Und sonst? Was die Stoffe, was die angerissenen Themen betrifft: jede Menge an Anfeuerung der wissenschaftlichen Kreativität; Theater und Theatralität der Französischen Revolution, Nestroy, Wiener Volkstheater des 18. und 19. Jahrhunderts... - der Harlekinsprung hinein ins volle widersprüchliche Leben, die Maske als Mittel der Demaskierung, die Subversivität des anderen Theaters.

Und das alles subsummiert unter Arlecchinos "Eccomi" als Ausdruck der Insubordination gleichermaßen wie als Ausdruck der Verbindung zur anderen Welt und zur Utopie vom "Goldenen Zeitalter". Die Wissenschaft vom Theater macht wieder Spaß, vom Theater als spectacle vivant der Lazzi und der Gesten. Theater als Funktionskunst verstanden, das seine Sinnlichkeit aus der Körpernähe und dem darauf basierenden Verhältnis von "Geist und Bauch" bezieht.

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1 Joachim Fiebach: Keine Hoffnung. Keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität. Berlin, 1998 (Berliner Theaterwissenschaft, Bd. 4).

 

2 Gerda Baumbach: Seiltänzer und Betrüger? Parodie und kein Ende. Ein Beitrag zu Geschichte und Theorie von Theater. Tübingen, 1995.

Autor/innen-Biografie

Ulf Birbaumer

Studium der Theaterwissenschaft, Lehramt Deutsch und Französisch;

Eintritt in das Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Wien, 1986 Gastprofessur an der Sorbonne/Paris, 1992 Vorlesungsreihe in Florenz;

Arbeit als Theaterkritiker, Fernseh- und Kulturjournalist;

Veröffentlicht

2000-01-20

Ausgabe

Rubrik

Theater