Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater.
Berlin: Alexander 2010. ISBN 978-3-89581-227-9. 327 S. Preis: € 29,90.
Abstract
Der zweisprachig auf Deutsch und Englisch veröffentlichte Band versammelt Beiträge der zeitgenössischen Forschung zum Erbe Adolphe Appias im Tanz und Theater der Gegenwart, die zunächst als Vorträge im Rahmen der gleichnamigen Tagung im Festspielhaus Hellerau 2007 gehalten wurden. Mythos und räumliche Architektur fanden so Eingang in das wissenschaftliche Schreiben als performative Recherche vor dem Hintergrund der historischen Kulisse. Indirekt dokumentiert der vorliegende Band diese örtliche Reflexion als Niederschrift bewegter Rede am historischen Ort, was die besondere Qualität der Textzusammenstellung von Gabriele Brandstetter und Birgit Wiens kennzeichnet.
Vermittels neuester 3-D-Visualierungstechniken evoziert Richard C. Beachams Beitrag im ersten Teil des Bandes zu "Appias Perspektiven auf Theater, Architektur und Medienkunst" zunächst das Erbe Appias anhand der computeranimierten Simulation seiner szenischen Module. Visualisiert wird hier aufgrund dieser am King's College in London neu entwickelten Technik die szenische Grundlage sowohl der Eurythmie und Rhythmusübungen Jacques Dalcrozes als auch der Szenographie für Glucks wohl bekannteste Operninszenierung von Orpheus und Eurydice aus dem Jahre 1912–13. Beeindruckend ist hieran nicht nur die realitätsnahe Rekonstruktion, sondern auch das medienarchäologische Interesse, das den bewegten Raum im digitalen Zeitalter bis hin zu jüngsten Explorationen der virtuellen Welt als 'Second Life' fortzudenken vermag. Weitergedacht wird der rhythmische Raum auch in solchen Projekten wie dem von Michael Takeo Magruder beschriebenen Vorhaben der Transmedia-Akademie (TMA) Hellerau, des Instituts für Drama and Performance Technologies an der Brunel University London und dem ebenfalls londonbasierten Arts Collective body>space>data., zumal digitale Performances der aktuellen Theaterpraxis sich ähnlicher virtueller Verfahren bedienen.
An diesen Themenkomplex anknüpfend spricht Annette Zinsmeister sogar von dem Erbe der szenischen Modularisierung als "ästhetisches Programm", das "Gleichförmigkeit in der Differenz und Wiederholbarkeit in der Unterschiedlichkeit garantiert" (S. 76). Sie verweist damit auf den Paradigmenwechsel der zeitgenössischen Choreographie beispielsweise in den Arbeitsweisen von Merce Cunningham und William Forsythe.
Näheres zum Einfluss Appias auf den Tanz erfährt der Leser dann auch im zweiten Teil des Bandes, der sich vorrangig der Choreographie und Bewegung im Raum widmet. Die Beiträge renommierter deutscher Theater- und Tanzwissenschaftler beschäftigen sich mit der Frage nach Raum und Wahrnehmung (Ulrike Haß und Gerald Siegmund) sowie der medialen Transformation solchen Wissens im Tanz und seiner Analyse anhand von William Forsythes Internetprojekt Synchronous Objects (Sabine Huschka).
Besonders interessant erscheint in diesem Kapitelabschnitt vor allem der aus der eigenen Tanzpraxis stammende Beitrag von Elizabeth Waterhouse, die sich der Frage nach Raum und lebendiger Verkörperung des Repertoires aus phänomenologischer Perspektive annimmt. "Dancing Amidst The Forsythe Company" beschreibt den bewegten Raum dergestalt als "complex and intelligent behaviour within a cultural ecosystem" (S. 162), das sich über die Raumvorgaben, inneren Gefühlswelten sowie das dem Tänzerkörper eigene Bewegungsvokabular herstellt. Der szenische Raum wird damit zum schöpferischen Lebensraum (habitat) der Bewegung des Tänzers und somit Ausdruck seines rhythmisierten Denkens und Erlebens (vgl. S. 171).
Im dritten und letzten Kapitel des Bandes befassen sich die Studien mit der für die Theater- und Medienwissenschaft zunehmend bedeutender werdenden Thematik von Bildlichkeit als Ereignisraum. Freddie Rokem eröffnet diese Sektion mit einem einprägsamen Rilke-Zitat, wonach im bildlichen Antlitz von Engel und Puppe das Schauspiel seit jeher Materie und Geist auf wundersame Weise oszillieren lässt. Sein Beitrag widmet sich vorrangig den historischen Quellen Martin Bubers, der als Dramaturg das Theater in Hellerau begleitete und hier im Rahmen der Aufführung von Paul Claudels Die Verkündigung seine Überlegungen zum "Raumproblem der Bühne" veröffentlichte. Es ist die unheilsame Nachbarschaft von Militärakademie und Kriegsschauplatz, welche die deutsche Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts überschattet und die Rokem hier kritisch hinterfragt. Derweil man den chorischen Körper feierte und das Eigentliche des Worts scheinbar erst in der Szene zum mystischen Ganzen zwischen Ich und Du emporstieg, wurde zeitgleich die unheilvolle Utopie der Gemeinschaft vor den Toren Helleraus für immer zugrundegerichtet.
Was Buber das "schöpferische Licht" nannte, überträgt Birgit Wiens auf den zeitgenössischen Wandel des Bildbegriffs, der in den Arbeiten der Theatergruppe "Hotel Pro Forma" im Sinne eines dynamischen Bildraums aus Licht und Sehen angewandt wird. Das Palimpsest als "bildnerisches Verfahren" (S. 241), wie Wiens es nennt, erweist sich dergestalt als Modell heutiger Szenographie, welches das Erbe Appias auf eindrucksvolle Weise fortführt.
Schließlich versammelt der Band neben weiteren Einzelstudien – wie der Barbara Gronaus zu Ilya Kabakovs und Christian Boltanskis Variation von Richard Wagners Ringzyklus Der Ring – Fünfter Tag. Der Tag Danach, 1999 oder der Freya Vass-Rhees zu Forsythes Antipodes I/II – auch ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit dem Komponisten und Installationskünstler Manos Tsangaris. Angesprochen werden in dieser Sektion vor allem die Dynamiken der Musik sowie Ulrike Grossarths Perspektiven auf den bewegten Beobachter.
Insgesamt liefern die auf ihren jeweiligen Gebieten äußerst renommierten Herausgeberinnen Gabriele Brandstetter und Birgit Wiens damit ein überzeugendes Beispiel gegenwärtiger Tanz- und Theaterhistoriographie. Auf die Gegenwart hin befragt wird nicht nur Appias Erbe, sondern auch der historische Ort Hellerau im unmittelbaren Spiegel seiner Vergangenheit. Es sind hierbei insbesondere Appias Experimente zu Raum und Bewegung, die sich – wie die vorgelegten Analysen nachweisen – nachhaltig auf das heutige Verständnis von Choreographie und Szenographie ausgewirkt haben, insofern wir heute das Bild im Theater als interdependentes Ereignis aus Raum, Licht und Bewegung verstehen. Der Sammelband ist daher vor allem interessierten Lesern aus den Bereichen Tanz, Theater, Szenographie und Musik zu empfehlen.
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.