Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts.
Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2010 (Industrielle Welt 77). ISBN 978-3-412-20443-3. 440 S. Preis: € 46,20.
Abstract
Der Sammelband Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts ergreift die Initiative zur eingehenden Analyse der vielgestaltigen Medienlandschaft im europäischem Raum des genannten Zeitalters. Momentaufnahmen, Konklusionen helfen dabei, die Historiographie der Massenmedien neu zu konturieren, indem Fragen nach Austausch, Wechselwirkungen, Abgrenzungen, Trans- und Internationalität gestellt werden. Im Spannungsverhältnis von Phänomenen der Amerikanisierung/Europäisierung, Politik und Gesellschaft werden Kontexte der massenmedialen Öffentlichkeit vorgestellt und diskutiert.
Eines der populären Themen des Sammelbandes ist der Begriff der Amerikanisierung, der sich mit Stichworten der Kommerzialisierung, Publikumswirksamkeit und leichter Konsumierbarkeit verbinden lässt. Jörg Requate untersucht diesen Komplex in Hinblick auf Wirtschaft und Politik anhand einer historisch ausgerichteten Skizze zum frühen Pressewesen. Mit ebendieser Thematik setzt sich auch Thomas Mergel auseinander. In seinem Aufsatz über massenmediale Wahlkampfkulturen untersucht er den Einfluss von unterhaltungsspezifischen, homogenisierenden Charakteristika in Zusammenhang mit dem Strukturwandel der europäischen Medien seit den 1980er Jahren.
Die Beschäftigung mit Amerikanisierung öffnet ein weiteres wichtiges Forschungsfeld: das des Dreiecks von Nationalisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung. Dem widmen sich Uwe Hasebrink und Hanna Domeyer in ihrem gemeinsamen Beitrag zur Produktion von transnationalen und europäischen Publika durch das Fernsehen. Sie zeichnen Möglichkeiten und Grenzen bereits realisierter Projekte ab. Nationalisierung und Internationalisierung in Funktionseinheiten der Presse zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg nimmt auch Dominik Geppert unter die Lupe und zieht seine Schlüsse unter Berücksichtigung der in diesen Jahren jeweils dominierenden politischen Interessen.
Durch das in den Beiträgen häufig thematisierte Verhältnis von Politik und Medien entsteht das Bild eines 'massenmedial politisierten' Europas. Inge Marszolek und Adelheid von Saldern schildern die Beziehung des Mediums Radio zu Politik und Gesellschaft von der NS-Ära bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. In dieser Zeit durchlebt das Radio eine Verwandlung vom Leit- zum Begleitmedium, vom gemeinschaftsstiftenden zum individualisierenden, vom Perspektive bietenden zum instrumentalisierten Medium. Marszolek und von Saldern weisen dezidiert darauf hin, dass trotz des Wandels der politischen Systeme eine Eigenlogik des Radios erhalten blieb (Formate überleben politische Transformation).
Ein einleuchtendes Beispiel für den Zusammenhang von Medien und Politik liefert das Essay von Jan C. Behrends, der über die Instrumentalisierung der Massenmedien durch das sozialistische Herrschaftssystem schreibt. Die via Radio repräsentierte Macht sollte Massenmobilisierung, Erziehung, Kontrolle und Popularisierung bewirken. Doch die im Stalinismus eingeführte Methodik verliert ab den 1960er Jahren immer mehr an Wirksamkeit (Entstehung der Opposition bzw. ab 1985 zunehmende Mediendifferenziertheit). Dies hinterlässt nach der Wende zahlreiche desillusionierte Medienrezipienten einer geschwächten Zivilgesellschaft.
Das Verhältnis von Politik und Massenmedien untersucht auch Martin Kohlrausch anhand der Presse und ihrer Beziehung zur deutschen bzw. englischen Monarchie um 1900. Der Beitrag zeigt, wie sich die Presse als selbstsicherer, politischer Akteur profiliert bzw. wie sie als wirksames Mittel zu ambitionierter Machtrepräsentation bedient werden kann. Im Gegensatz zum üblichen Verständnis sind hinsichtlich militärischer Berichterstattung im Zweiten Weltkrieg aber nicht nur politisch motivierten Faktoren charakteristisch, sondern vor allem auch Darstellungskonventionen und Selbstinszenierungen von Heldenfiguren markant – so die Schlussfolgerung von Thomas Kubetzkys Aufsatz.
Dass sich die einzelnen Beiträge in Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts nicht auf einige wenige Fragestellungen und Analysekriterien begrenzen lassen, hängt mit den gesellschaftlichen, politischen und medialen Wechselwirkungen zusammen, die eine Historiographie der Massenmedien in diesem ausgewählten Raum bedingen bzw. auszeichnen.
Der Problematik eines Geschichtsbildes, das auf medialem Wege (um)geschrieben werden kann, widmet sich neben Marszolek und von Saldern auch Frank Bösch. Er deklariert die Darstellungen des Holocaust in Film und Fernsehen zum Untersuchungsfeld hinsichtlich der Produktion von "Geschichtsentwürfen" (S. 417). Die eingangs erwähnten Gedanken- und Analysesäulen, die zahlreiche Beiträge stützen, werden in Böschs Aufsatz ebenfalls sichtbar, denn auch er thematisiert u. a. Aspekte der (Inter-)Nationalität, der Zensur, der gemeinsamen Aufarbeitung, der Vergangenheit und der Amerikanisierung.
Das medienwissenschaftliche Spektrum erweitert auch der Aufsatz von Knut Hickethier mit einem zusammenfassenden Blick auf die europäische Fernsehgesellschaft und Öffentlichkeit, mit all den Eigenschaften der "spezifischen Medialität" (S. 150) des Televisuellen. Friedrich Kübler befasst sich mit dem deutschen Medienrecht und vollzieht nach, wie sich das Verhältnis von Verfassungsrecht und Medienrecht gewandelt hat – und wie dieses Verhältnis den Schutz der Meinungsvielfalt und des Wettbewerbs garantieren konnte.
Ein oft unbeachtetes Feld greift Klaus Große Kracht mit seinem Essay über die katholische Kirche und deren Beziehung zur Presse- und Medienfreiheit auf. Er zeigt, wie das Prinzip der tradiert-religiösen Sichtweise einer katholischen Publizistik mit einem modernisierten, professionalisierten Journalismus-Bild (zwischen den 1930ern bis Anfang der 1970er Jahre) zu kämpfen hatte, bis sich schließlich letzteres durchsetzte.
Peter Birke widmet sich der ebenso brüchigen wie flüchtigen medialen Repräsentation von Arbeiterkämpfen in Deutschland und Dänemark, die sich von den 1950er Jahren bis in die 1960er Jahre vorwiegend fernab der medialen Öffentlichkeit abspielten. Zündstoff für die Veränderung der Darstellungsweise von Konflikten lieferte die Protestwelle der Studierenden. Oft war deren Präsenz in den Medien negativ konnotiert, wodurch eine gewisse Kontrolle über diese politisch-sozialen Bewegungen gewährleistet werden sollte.
Weniger problematisiert wird im Band die europäische Rezeptionsgeschichte der Massenmedien; dies erkennen aber auch die jeweiligen Beitragenden und deklarieren sie zum blinden Fleck der Medienhistoriographie (wie z. B. Behrends). Der 'Amerikanisierungsgedanke' ist ein Kernaspekt von Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts: Jedoch lassen die Vergleiche zwischen der europäischen und amerikanischen Medienlandschaft eine differenzierte Beschreibung insbesondere der letzteren vermissen. Einige interessante geographische Gebiete der europäischen Medienöffentlichkeit (bspw. Frankreich, Italien, skandinavische Länder oder das ehemalige Österreich-Ungarn) bleiben ebenfalls unbesprochen. Zudem beschränkt sich das Augenmerk weitgehend auf die 'klassischen' Massenmedien (Presse, Fernsehen, Radio) und diskutiert z. B. Telefon oder Internet nur am Rande, obwohl deren Erfolgsgeschichte spätestens Ende der 1990er Jahre beginnt. Ein Ausblick auf das 21. Jahrhundert fehlt ebenfalls.
Trotz dieser Kritikpunkte bietet der Sammelband eine profunde Basis für weitere medienhistoriographische Forschungen: eine erstaunliche Bandbreite an Themen und (alternativen) Anhaltspunkten für die Auseinandersetzung mit der massenmedialen Konstitution des europäischen Raums. Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts zeigt, wie sehr die Regionen in den nationalen Traditionen – trotz des 'Europäisierungswunsches' – verankert sind, wie ausschlaggebend die (amerikanische) Kommerzialisierung für Europa ist und wie sehr Herrschaft, Politik und mannigfaltige Machbeziehungen eine Wirkung auf Medienentwicklungen und die Transformation von Medienstrukturen haben.
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