Miu Lan Law: Zu einer Ästhetik des Hybriden. Eine Geschichte der Verflechtung von deutschen Theaterkünstlern mit chinesischer Theaterkultur im frühen 21. Jahrhundert.

Berlin: Freie Universität Berlin 2011. 181 S. 38 Abb. URL: <a href="http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000020422">http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000020422</a>.

Autor/innen

  • Gabriele E. Otto

Abstract

Einer Ästhetik des Hybriden auf die Spur zu kommen, diesen Versuch unternimmt die Theaterwissenschaftlerin Miu Lan Law in ihrer Dissertation, indem sie sich – im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs Inter Art Studies der FU Berlin – der Geschichte der Verflechtung von deutschen Theaterkünstlern mit chinesischer Theaterkultur im frühen 21. Jahrhundert zuwendet.

In drei Teilen mit insgesamt sechs unterschiedlich gewichteten Kapiteln geht die Autorin den von ihr ernannten Leitsternen der "Hybridität" und "Hybridisierung" (S. 3) nach, wie sie zwischen deutschen Theaterkünstlern und chinesischer Theaterkultur exemplarisch in den drei von ihr ausgewählten Inszenierungen (One Table Two Chairs/Quintett; fluchtVERSUCHE; Häuptling Abendwind) in Erscheinung treten. Subtil verweisen die gewählten Termini "Theaterkünstler" und "Theaterkultur" auf die Vielzahl der Beziehungen und Akteure, deren Komplexität an den konkreten Produktionen herausgearbeitet wird – mit dem Ziel, über eben die "Ästhetik des Hybriden" eine neue "Betrachtung der Menschheit" (S. 161) zu veranschaulichen.

Bevor die Autorin jedoch im zweiten Teil, dem Hauptteil der Arbeit, einen Blick in den Spiegel der Gegenwart wirft, legt sie im ersten Teil die zeitbedingte Bedeutung der im Feld des Hybriden fokussierten Phänomene dar – unter Betonung des besonderen Interesses an der damit verbundenen, sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetischen Erfahrung. Nach der ausführlichen Entfaltung des Forschungsinteresses und seiner Bedingtheit bietet eine Vorausschau am Ende des ersten Kapitels einen strukturierten Überblick auf das, was den Leser erwartet.

Den Begrifflichkeiten und Phänomenen des Hybriden, der Chinoiserie sowie des Exotismus schenkt die Autorin im zweiten Kapitel ihre Aufmerksamkeit. Für das 'Hybride' wird den Lesern ein mühsamer Nachvollzug definitorischer Finessen verschiedener Disziplinen erspart, die den Begriff verwenden. Dafür wendet sich die Autorin zielgerichtet der Etymologie des Begriffes zu, wo sie auch für die eigene Intention – entsprechend des vorangestellten Mottos von Johnny Mercer: "You have to [,] Ac-cent-tchu-ate the pos-i-tive, …" (S. 16) – einen plausiblen Ansatzpunkt gewinnt, wenn aus der historisch dokumentierten Ambivalenz des Begriffes der positive Part in der folgenden Arbeit zum Hauptkriterium der Beschreibung wird. In dieser Perspektive wird 'Exotismus' knapp abgegrenzt in seiner genuinen Unmöglichkeit, aus der Begegnung mit dem Fremden eine Verbindung als Verflechtung entstehen zu lassen.

Gewinnt Miu Lan Law ihren Standpunkt in der Verwendung des Hybriden, der Hybridisierung aus dem Rückgriff auf die Etymologie, so fehlt dennoch nicht der gezielte Blick auf wesentliche Protagonisten der Hybriditätsdiskurse (u. a. Bhabha, Ang, Gruzinski, Said) und deren begriffliche Leistungen für die Analyse von Vorgängen bei der Begegnung und dem Zusammenwirken von Kulturen. Alfredo de Toro werden für die Betrachtung der 'Verschmelzung der Kulturen' wichtige Impulse entnommen, die den von der Autorin anvisierten Fokus auf das Positive, Originale und Neue des Hybridisierten stützen. Lan Law versäumt es nicht, in Bezug auf Bachtins Begriffsverwendung auch auf die unterschiedlichen Voraussetzungen von Begegnungen hinzuweisen, wenn sie für ihren Hauptgegenstand – die gegenwärtigen Theaterproduktionen mit deutsch-chinesischer Zusammenarbeit – differenzierend anmerkt, dass die Relation zwischen den beteiligten Künstlern bei den von ihr untersuchten Produktionen eine gleichberechtigte sei.

Diese Einschätzung der Qualität der Zusammenarbeit am Beginn des 21. Jahrhunderts wirft einen Blick voraus auf das dritte Kapitel, in dem die über Jahrhunderte währende, facettenreiche Hinwendung zur chinesischen (Theater-)Kultur knapp aufgezeigt wird: Miu Lan Law richtet dabei ihr Augenmerk nicht auf die China-Rezeption bei Bertolt Brecht, wie es in der bisherigen Forschung in großem Maße der Fall war; vielmehr fokussiert Law eine Vielfalt an Begegnungen zwischen chinesischer und deutscher Theaterkultur, der bislang zumeist nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Mit dem Blick auf die Historie gelingt es nicht nur, Etappen sowie Facetten der Annäherung aufscheinen zu lassen, sondern auch die Ambivalenz von realitätsnaher und phantastischer Adaptation sowie die Imitation des Fremden im Prozess der Verflechtung sichtbar zu machen. Dabei allerdings ist anzumerken, dass der Aspekt des Ambivalenten von der Autorin selbst nur recht mittelbar wahrgenommen wird und sie in der Beurteilung von phantastischer und realitätsnaher Verwendung chinesischer Theaterkultur im historischen Rückblick schwanken lässt zwischen eben bloßer Phantasie und einer Befreiung von Bühnenobjekten. In Miu Lan Laws Deutung führt diese Befreiung zur Schaffung von etwas Neuem, insofern das Theater seinerseits einen Wert in der Realität gewinnt.

Das den Hauptteil der Arbeit einleitende vierte Kapitel klärt für die drei ausgewählten Inszenierungen zunächst Rahmenbedingungen und Rahmeninteressen der beteiligten Theaterkünstler und Kunstinstitutionen als Grundlagen und mögliche Einflussfaktoren der Zusammenarbeit. Aus dem mehrjährigen Austauschprogramm Hongkong-Berlin mit dem erfahrenen chinesischen Kulturmittler Danny Yung als Initiator der Inszenierungen One table two chairs wird Rommens Inszenierung Quintett ausgewählt und darin auch die Leistung erfahrener Kulturvermittlung hinsichtlich ihrer Rolle in der Hybridisierung betrachtet. Ein wissenschaftlicher Zugang zu chinesischer Theaterkultur ist mit Buddes Inszenierung fluchtVERSUCHE über Gaos Werk und Leben weiterer Gegenstand der Untersuchung spezifischer Hybridität. Nicht zuletzt richtet Miu Lan Law ihr Interesse auf die Untersuchung einer der Theaterpraxis entstammenden Kooperation interessierter deutscher und chinesischer Künstler, die jenseits offizieller Programme im Frankfurter WU WEI Theater entwickelt wurde.

Als Gemeinsamkeit aller drei Produktionen liegt ein beruflich-persönliches Interesse der deutschen Theaterkünstler an chinesischer Theaterkultur zugrunde. Im Unterschied zum vormaligen Verhältnis der Rezeption und des Transfers von chinesischer Theaterkultur tritt bei den Produktionen im 21. Jahrhundert ein persönliches Interagieren zwischen deutschen und chinesischen Theaterkünstlern durch die Präsenz von Künstlern unterschiedlicher chinesischer Herkunft im deutschen Theaterraum hinzu.

Dieser genauen Beschreibung der epistemischen Voraussetzungen folgen im fünften Kapitel detaillierte Darstellungen des Geschehens auf den Bühnen, die dem Leser einen Mitvollzug erlauben. Die differenzierten Analysen und Interpretationen der Inszenierungen seitens der Autorin Miu Lan Law unter Aspekten der ästhetischen Erfahrungen gestatten dem Leser ferner, zu Vorstellungen und Wahrnehmungen von Verflechtungen zu gelangen. Als bedeutende Momente der Hybridisierung streicht die Autorin für Quintett die interartistische Interaktion heraus, die auf Seiten der Rezeption zum synästhetischen Erleben führt und sich beim Zuschauer unmittelbar in der Aufführung einstellt, so dass ein Miterleben der Hybridisierung möglich wird.

Überlagerungen von Erfahrungen in den beiden Kulturräumen, plurimedial als Wiederholung und Gleichzeitigkeit dargestellt, bieten dem Rezipienten in Buddes fluchtVERSUCHE die ästhetische Erfahrung des "Kosmopoliten" (S. 122), dessen Wechsel zwischen den Kulturen ihm im "Sich-Einlassen auf andere Kulturen" (S. 123) künstlerische Freiräume schafft. Für die dritte analysierte Inszenierung fokussiert die Autorin auf jenen Part, der explizit als Vermittlungsteil einer Vorlage, dem Nestroy'schen Häuptling Abendwind in der Bearbeitung durch das WU WEI Theater eingefügt wurde. Die Bedeutung der 'Vermittlung' wird durch die Anwesenheit einer Dolmetscherin – als einer dem Stück neu eingeschriebene Rolle – dem Publikum sinnfällig in der Polyglottie der Darsteller.

Die Analyse konzentriert sich auf diese Rolle des Sprachvermittelnden, einem zweifelsohne wesentlichen Moment der Hybridität. Allerdings bleibt hier insofern ein Desiderat für weitergreifende Analysen, da mit dem Stück bereits eine Art Verflechtung von deutschem Theater mit fremder Kultur vorgenommen wurde. Durch die Rollenbesetzungen erhält das Stück/die Inszenierung einen ästhetischen Drill in den Verflechtungen, bei denen auf die tiefere Bedeutung von Übersetzung nur grundlegend hingewiesen wird.

Im sechsten Kapitel werden in einer abschließenden Betrachtung und Evaluierung der drei untersuchten Inszenierungen (Rommen, Budde, Sievert) die darin befindlichen Verfahrensweisen der Verflechtung noch einmal terminologisch reflektiert und als Verfahren des Übergangs, der Verwandlung und der Übersetzung gefasst. Resümierend besieht Miu Lan Law die Vielfalt der Verflechtungen, die ein breites Spektrum sowohl der aktiven Begegnung der Kulturen und des gleichrangigen Umgangs von Künstlern miteinander als auch einer Reflexion von Konstituenten der Gewordenheit einerseits und ihrer Entwicklung andererseits erlauben. Dabei scheint der Autorin zwischenzeitlich jedoch mit der expliziten Nähe zu Goethes Welttheater die realiter lediglich relative Bedeutung von Ästhetik und insbesondere des Theaters im Weltgeschehen etwas aus dem Blick zu geraten. Denn wiewohl die positive Positionierung und die Betonung des positiven Vermögens der Hybridisierung, wie die Autorin sie herausarbeitet und vertritt, zweifellos angenehm ist: Es bedürfte freilich einer Intensivierung derartiger hybrid-hybridisierender Theatererfahrungen und ihrer produktions- sowie rezeptionsästhetischen Analysen und Reflexionen, wenn denn jene ausgeglichene "Neue Weltordnung" und "Betrachtung der Menschheit" (S. 161), wie sie offenbar das experimentelle Theater gestattet, erzielt werden soll.

In diesem Sinne leistet die vorliegende Arbeit einen anschaulichen Beitrag, das Potential der Hybridisierung in ihren Facetten sowie als Weg gleichrangiger Begegnung und Interaktion aufzuzeigen.

Autor/innen-Biografie

Gabriele E. Otto

Studium der Germanistik, Deutsch als Fremdsprache, Allgemeine und Grundschulpädagogik und Didaktik an TU und FU in Berlin. 2008 Promotion über "Erzählverfahren in Ingeborg Bachmanns Prosa"/TU-Berlin. Seit 2009 DAAD-Lektorin für Literaturwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache an der Universitas Indonesia, Jakarta/Indonesien.

Publikationen:

– : Weibliches Erzählen? Entwicklung der Erzählverfahren in Ingeborg Bachmanns Prosa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.

Veröffentlicht

2011-12-14

Ausgabe

Rubrik

Theater

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