Daniel Šuber/Hilmar Schäfer/Sophia Prinz (Hg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens.
Konstanz: UVK 2011. ISBN 978-3-86764-280-4. 364 S., Preis: € 44,–.
Abstract
Wie schon der Titel des vorliegenden Bandes treffend indiziert, gründet sich die Aktualität und multiple Anschlussfähigkeit von Pierre Bourdieus Werk vor allem auf dessen disziplinäre Dogmen und Grenzen überschreitendes Denken. In den letzten Jahren haben im deutschsprachigen Raum die Kulturwissenschaften ein verstärktes Interesse an den weithin impulsgebenden Konzepten, Theorien und Methoden des gegenwärtig international meistzitierten Sozialwissenschaftlers entwickelt.
Der vorliegende Sammelband bietet in seiner thematisch umfangreichen und breitgefächerten Darstellung aktueller kulturwissenschaftlicher Perspektiven in Bezug auf Bourdieu sowohl reflektierende theoretische Rekonstruktionen, neue Lesarten und Kontextualisierungen als auch Vorschläge zur Vertiefung bisher wenig beachteter Aspekte. Neben einem Einblick in paradigmatische Tendenzen kulturwissenschaftlicher Forschung, die vor allem in den Kritiken und Vorschlägen zu Ergänzungen und Erweiterungen von Bourdieus Konzepten deutlich werden, erschließen einige der prägnant geschriebenen Beiträge auch wesentliche Grundlagen und Zusammenhänge von Bourdieus wissenschaftlichem Werdegang und Denken. Die rekonstruktiven und analytischen Auseinandersetzungen mit Bourdieus wissenschaftlicher Tätigkeit und seinen Theorien machen gewiss viele der Artikel auch für eine weniger spezialisierte Leserschaft zu einer interessanten und bereichernden Lektüre.
Die facettenreiche Publikation entstand im Rahmen einer Kooperation und gemeinschaftlichen Initiative einer Fachgruppe von Soziologen der Universität Konstanz mit dem Konstanzer Exzellenzcluster 16 Kulturelle Grundlagen von Integration und der kulturwissenschaftlichen Abteilung der Universität St. Gallen. Die inhaltlich unterschiedlich ausgerichteten Beiträge entstammen Ringvorlesungen der Universität Konstanz, einem wissenschaftlichen Begleitprogramm zur Fotoausstellung "Zeugnisse der Entwurzelung – Pierre Bourdieu in Algerien" (S. 9), Workshops sowie der Mitarbeit weiterer AutorInnen. Leserfreundliche Übersichtlichkeit gewährleistet die systematische Gliederung des Inhaltes in sechs Themenkapitel, deren jeweilige Beiträge ich nun kurz skizzieren möchte:
Der erste Schwerpunkt "Zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus" diskutiert die theoretische Verortung von Bourdieus Konzepten. In Form einer Einführung zeichnet der Beitrag von Franz Schultheis den Beginn der wissenschaftlichen Tätigkeit Bourdieus und die Entwicklung von dessen sozialtheoretischer Positionierung unter Einfluss und Abgrenzung von Claude Lévi-Strauss nach. Vor dem Hintergrund einer Relektüre präsentieren die zwei folgenden Artikel des ersten Teils neue Lesarten Bourdieu'scher Theorien, in deren Folge Ideen zur Weiterentwicklung und Fruchtbarmachung derselben für kultursoziologische Erkenntnisinteressen formuliert werden. Andreas Reckwitz befasst sich mit der heuristischen Eignung von Bourdieus Habituskonzept für eine aktuelle Subjektanalyse, während Hilmar Schäfer eine Dynamisierung des Habituskonzeptes zugunsten einer adäquaten Analyse prozesshafter, offener Praxisformen anstrebt. Ausgehend von der poststrukturalistischen Prämisse der Wandelbarkeit und Instabilität sozialer Verhältnisse und kultureller Bedeutungsregimes konstatieren beide Texte eine Inflexibilität und Engführung Bourdieu'scher Theorien, die durch ihre Konzentration auf Reproduktionslogiken sozialer Strukturen bedingt ist.
Der zweite Teil des Bandes, welcher auf einen spezifisch Bourdieu'schen Stil soziologischer Erkenntnisgewinnnung mit dem Titel "Praxeologische Analysestrategien" Bezug nimmt, stellt informative Relektüren und weiterführende kulturwissenschaftliche Anschlüsse an die Methoden Bourdieus vor. Robert Schmidt präsentiert eine interessante Darstellung der Besonderheiten von Bourdieus Praxeologie als negatives soziologisches Analyseverfahren, welches Erkenntnisse aus der Differenz zwischen praxistheoretischer Logik und praktischer Logik zieht. Er schlägt vor, durch Ausarbeitung der Praxeologie neue, bereichernde methodische Perspektiven für die Kulturwissenschaft zu gewinnen. Herbert Kalthoff stellt, von Bourdieus praxistheoretischen Motiven inspiriert, ein noch offenes Forschungsfeld soziologischer Bildungsforschung vor, welches die Materialität schulischer Praktiken und Artefakte fokussiert. In einem Beitrag von Frank Hillebrandt werden Parallelen und Differenzen in den Ansätzen der Cultural Studies und Bourdieus Soziologie der Praxis herausgearbeitet, woraus Ideen zu einer Verfeinerung und Weiterentwicklung soziologischer Praxistheorie entwickelt werden.
Das dritte Themenkapitel "Mediale Repräsentationen und symbolische Gewalt" wendet sich der medialen (Re-)Konstruktion und Legitimierung von gesellschaftlichen Klassifikationssystemen, Hierarchien und symbolischer Ordnungsschemata zu. Bourdieus Ansätze, welche die Relevanz kultureller und symbolischer Repräsentationen für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit betonen, werden hier zum Ausgangspunkt dreier, an konkreten Beispielen anschaulich verdeutlichter Analysen visueller und textueller Mediendiskurse. Inhaltlich stehen dabei Genderthematiken im Vordergrund: Sophia Prinz und Mareike Clauss beschäftigen sich mit der Perpetuierung der Wahrnehmung und Legitimation geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster in filmischen Darstellungen; Irene Dölling beschreibt polarisierende, meinungsbildende Strategien in post- bzw. antifeministischen Diskursen deutscher Printmedien. Carsten Keller behandelt die mediale Thematisierung der filmisch und journalistisch als soziales Krisengebiet dargestellten Pariser Banlieues unter Infragestellung der Wirkung jener Konstruktionen.
Im Schwerpunkt "Kunst zwischen Hoch- und Populärkultur" wird auf Bourdieus Einschätzungen des Kunstfeldes als Austragungsort von kulturellen Machtstrukturen und Distinktionsprozessen Bezug genommen. In einer Auseinandersetzung mit dem Feld der Graffiti und Street-Art arbeitet Ulf Wuggenig heraus, inwiefern sich die Regeln der von Bourdieu wenig untersuchten Pop- bzw. subkulturellen Szenen mit den von ihm beschriebenen Feldlogiken hochkultureller Kunst vergleichen und erklären lassen. Nina Tessa Zahner hingegen kritisiert in der Frage nach gegenwärtigen kulturellen Praktiken von Kunstausstellungsbesuchen Bourdieus Auffassungen hinsichtlich habituell geprägter Dispositionen bezüglich Kunstrezeptions- und Wahrnehmungsmuster, da diese Zahner zufolge aufgrund von Transformationen des Kunstfeldes nicht mehr aufrechtzuerhalten seien.
Der fünfte Themenschwerpunkt widmet sich dem sozialpolitischen Charakter von Bourdieus soziologischen Forschungen, indem auf dessen Beiträge zu den Themen "Postkolonialismus und Globalisierung" eingegangen wird. Jens Kastner beschreibt Bourdieus herrschaftsanalytische Auseinandersetzung mit der postkolonialen Situation in Algerien – welche auch als Basis seiner späteren Sozialtheorien zu verstehen ist – im Vergleich mit jener des postkolonialen Sozialtheoretikers Frantz Fanon. Boike Rehbein gibt eine kritische Reflexion zu Bourdieus relativ spät einsetzender Zuwendung zum Phänomen der Globalisierung, die sich vor allem in seiner oppositionellen Haltung und seinen politischen Interventionen gegenüber dem Neoliberalismus ausdrückte. Obwohl das heutige Verständnis von Globalisierungsprozessen nicht mehr jenem der Zeit Bourdieus entspricht und dieser somit entscheidende spätere Entwicklungen nicht mehr berücksichtigen konnte, befindet Rehbein Bourdieus theoretische Instrumentarien für eine Analyse der globalisierten Welt als anschlussfähig.
Im sechsten und letzten Themenschwerpunkt "Vernunftkritik und Reflexivität" werden entscheidende erkenntnistheoretische Grundlagen von Bourdieus Theorien und dessen Wissenschaftsverständnis anspruchsvoll und aufschlussreich erörtert. Der Beitrag von Andreas Langenohl, der sich mit Bourdieus wissenschaftlichem Reflexivitätsverständnis und seinem daraus abzuleitenden Verhältnis zu den Kulturwissenschaften auseinandersetzt sowie der Artikel von Daniel Šuber, welcher sich mit den Bezügen Bourdieu'scher Ansätze zur Philosophie und Vernunftkritik befasst, sind ebenso als wichtige Schlüssel für das Verstehen von Bourdieus theoretischem Ansinnen hervorzuheben.
Die Inhalte der Beiträge lassen Parallelitäten, Annäherungspunkte und Differenzen zwischen den Perspektiven Bourdieus und jenen der Kulturwissenschaften deutlich hervortreten. Zugleich lassen sich jedoch auch innerhalb der Kulturwissenschaften sehr unterschiedliche Annäherungen und Interessen an Bourdieus wissenschaftlichem Erbe feststellen. Anerkennung verdient die konsequente Bemühung einiger Beiträge, die historischen Hintergründe und gedanklichen Grundlagen von Bourdieus Theoriengebäude in die vorgestellten Reflexionen einzuarbeiten.
Trotz der Komplexität von Bourdieus Werk liegt dessen vielseitige Impulsgebung und Anschlussfähigkeit wohl nicht zuletzt in dem Anspruch begründet, Zugänge zu einem übergreifenden Verständnis für Logiken und Zusammenhänge gesellschaftlicher Verhältnisse auf Basis einer relativistischen Weltauffassung zu erschließen. Unter dem Anspruch "nicht personengebundene Denkweisen zu entwickeln und durchzusetzen, mit denen die verschiedensten Menschen Gedanken hervorbringen können, die bisher nicht gedacht werden konnten"[1], verfolgt Bourdieus wissenschaftliche Produktivität eine Richtung, die über die Auffindung geeigneter Begriffe und Instrumentarien zur Untersuchung mikrosozialer Prozesse und Phänomene hinausgeht. Unter diesem Aspekt scheint der in Bezug auf Bourdieu öfter geäußerte Vorwurf des strukturalistischen Determinismus und Reduktionismus – welcher auch in manchen der besprochenen Beiträge anklingt – nur im Rahmen einer meist perspektivisch bedingten, selektiven Darstellung seiner Theorien argumentierbar. Insgesamt verleihen die einander ergänzenden Perspektiven der AutorInnen in der Auseinandersetzung mit Bourdieu dem Band einen profunden, anregenden Charakter. In ihrer Gesamtheit tragen die Reflexionen, Erläuterungen und Kontextualisierungen der Verschränkung von Wissenschaft, Praxis und Humanismus im Wirken von Bourdieu Rechnung und vertiefen das Verständnis für dessen antiessentialistischen Denk- und Forschungsstil. Letzteres erscheint höchst relevant, um die in Bourdieus Werk erkannten Impulse für aktuelle Forschungsperspektiven angemessen fruchtbar zu machen.
---
[1] Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Surkamp 1987, S. 12.
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.