Thomas Heise: Spuren. Eine Archäologie der realen Existenz.
Berlin: Vorwerk 8 2010. (Texte zum Dokumentarfilm 13). 493 S. ISBN 978-3-940384-22-5. € 24,–.
Abstract
"Berlin, 4. November 1989. Schnitt. Nah, außen, Tag. S/w VHS. Alexanderplatz. Vor dem Café im 'Haus des Reisens.' Ein Funktionärsmund. […] Die Kamera geht zurück, bleibt aber nah auf dem unteren Teil des Gesichts, bis es als das von Günther Schabowski erkennbar wird.
Günther Sch.: Und wer sind sie?
Michael K. off: Das ist Thomas Heise.
Autor off: Mein Name ist Thomas Heise.
Günther Sch.: Thomas filmt, deswegen kann er nicht sprechen. Er hat die Linse im Mund.
Die Kamera geht zurück bis Halbnah, dann Halbtotal. Günther Schabowski lacht.
Günther Sch.: Das ist auch eine Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen.
Die Kamera schwenkt nach links. Günther Schabowski steht verloren auf den Gehwegplatten herum. Er sieht in Richtung des Alexanderplatzes, der jedoch von Sträuchern verdeckt ist. Unverständliche Fetzen von Sätzen aus einem Lautsprecher. Unruhe. Schnitt." (S. 50f.)
Mit Thomas Heises Spuren. Archäologie der realen Existenz hat der Verlag Vorwerk 8 aus Berlin seine bis dato gelungene Reihe der Texte zum Dokumentarfilm um einen 13. Band erweitert. Auf fast 500 Seiten unternimmt man eine Spurensuche in das sich über mehr als drei Jahrzehnte erstreckende Schaffen des Filmemachers und Autors Thomas Heise. Die Texte und Abbildungen im Buch bilden "eine Collage aus abgeschriebenen Tonbändern, Notizen, Features, Filmskripten, Fragmenten und Funden, die der Autor von den 1970ern an aufgeschrieben, transkribiert, aufgelesen und bewahrt hat." (Klappentext)
Spuren bildet also eine Sammlung aus Resten und Fundstücken. Material, das, wie es treffend im Klappentext heißt, "noch nicht durch den Fleischwolf der großen Geschichte oder der Medien gedreht, [das] noch nicht zu den flurbereinigten Bildern unserer historischen Vorstellungen geronnen [ist]. […] Bodensatz von Geschichte/n und Grundlage für Heises Filme" (ebd.). Bodensatz: bitter und dunkel, der Rest, der bleibt, wenn die Tasse leer ist. Der Rest, in dem man lesen kann: was war, was ist, was sein wird.
"Autor off: Immer bleibt etwas übrig. Ein Rest, der nicht aufgeht, und am Ende habe ich den Anfang fast vergessen. Eines Tages holt dich die Geschichte ein" (S. 255).
Thomas Heises Filme widmen sich den 'ruinierten' Flecken deutscher Geschichte. Er folgt den Spuren zu den Dingen, den Orten und Menschen, die als Verschwundenes oder Verschwindendes zurückbleiben. In seinen Arbeiten werden die Ruinen an den Rändern der Geschichte – der Rest, der bleibt – zu lebendigen Erzählern. Sie erzählen von ihrem Leben und bezeugen eine Zeit, die 'so' nicht in den "flurbereinigten" (Klappentext) Lehrbüchern des Fachs, das man Geschichte nennt, zu finden ist.
Thomas Heise: geboren 1955 in Berlin (DDR), Lehre als Drucktechniker, 18 Monate Wehrdienst bei der NVA, später Regieassistent bei der DEFA und anschließend Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam Babelsberg (abgebrochen im Ergebnis operativer Bearbeitung durch das MfS, Ministerium für Staatssicherheit – Faksimiles der MfS-Akten und Briefe befinden sich mit im Buch). Auf Initiative Heiner Müllers und Gerhard Scheumanns war Heise von 1990–1997 Mitglied des Berliner Ensembles. Danach freiberuflich als Regisseur für Film und Theaterarbeit tätig. In drei prägnanten Zeilen zur Biografie von Heise heißt es im Klappentext am Ende des Buchs: "u. a. Meisterschüler der Akademie der Künste, Dokumentarist der Wende, sein Werk ein Speicher von Erfahrungen und Geschichten."
Heise, der Dokumentarist. "Thomas filmt, deswegen kann er nicht sprechen. Er hat die Linse im Mund", sagt Günther Schabowski.[1] Wer eine Linse im Mund hat, spricht mit der Kamera. Was sich in Heises persönlichen Portraits erzählt, sind Lebensläufe von Menschen an Orten, die er selbst als "Wüstungen" bezeichnet. "Wüstungen hießen Orte, die aufgegeben, die von Menschen verlassen worden waren, Orte, die nicht mehr von Menschen, sondern von zurückgebliebenen Toten bevölkert waren" (S. 402).
In den Zeitschichten dieser Lebensläufe an den Peripherien der Gesellschaft fördert Heise etwas zu Tage, das man den Blick auf ein Gesellschaftssystem nennen könnte, das subjektive Eigenschaften zu Objekten gerinnen lässt und damit erst über die von mir gerade verwendeten Zuschreibungen von Peripherie und Zentrum entscheidet. Das beginnt schon mit den ersten Selektionsverfahren im Grundschulalter, wenn die Noten darüber entscheiden, welchen Weg einer einschlägt – Außenseiter/ Spitzenreiter (eine Szene aus Heises Film Kinder, wie die Zeit vergeht, Filmskript, S. 342–383). Diese Selektionsprozesse normieren Existenzen und verobjektivieren Menschen. Die Einteilung in Erfolg und Misserfolg lässt soziale Schichtungen entstehen: Randgruppen, Verlierer, Sieger, Täter, Opfer. Was sich in Spuren solchen vereinfachenden Kategorisierungen immer wieder entgegen zu stellen versucht, sind singuläre Existenzen und deren Weg durch ein Leben in Institutionen, Apparaten und politischen Systemen. "Es handelt sich bei den Portraitierten um sehr konkrete Menschen, aber es sind zugleich auch Fälle. Anhand ihrer wird etwas Allgemeines sichtbar" (Girke im Gespräch mit Heise, S. 420).
Was hier sichtbar und (be)greifbar wird, sind die, wie Heise sagt, "realen Dimensionen von Geschichte" (S. 411). Und will man die begreifen, "muss man Biografien lesen, und zwar die von einfachen Leuten […]. Geschichte von denen, die Geschichte bezahlen" (S. 411). Der Bodensatz gehört mit zum Kaffeekochen – ohne diesen wäre es gar nicht möglich.
Spuren. Archäologie der realen Existenz. In einem Gespräch zwischen Heiner Müller und seinem Dramaturgen Alexander Weigel aus Heises Film Der Ausländer (1987/2004) (Filmskript, S. 234–249) kommen die beiden auf die Maulwurfstätigkeit der Archäologie zu sprechen.
Müller behauptet pointiert: "Archäologie ist auch Maulwurfstätigkeit. Archäologie ist nicht mit der Sinnfrage belastet, Geschichte ja.
Weigel schreibt: ... mit der Sinnfrage belastet. Ja. Arbeiten heißt anderes denken als das ...
Müller: ... was man vorher gedacht hat." (S. 240)
Heise durchwühlt mit seinen Filmen den Boden der Geschichte und stößt dabei auf die Überreste der Menschen, die ihn bereiteten. Was davon übrig bleibt und was das nun vorliegende Buch versammelt, ist ein Bergwerk in Bildern.
Und diese sind, wie er sagt, "eine Übersetzung von Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selber" (S. 422). Heises Bilder sind nicht einfach Gegenbilder zu herrschenden Vorstellungen. Er zeigt nicht 'nur' Bilder von Verlierern auf der einen Seite, oder 'nur' Bilder der zum eigenen Handeln unfähig gemachten 'Apparatschicks' einer Gesellschaftsordnung auf der anderen.
Er arbeitet: mit den Bildern/am Dazwischen. Seine Archäologie zielt nicht darauf ab, die Sinnfrage auszuschöpfen, indem sie möglichst tief vergrabene Funde zu Tage fördert und einfach inventarisiert. Sie zielt vielmehr auf Vermittlung ab. Heises Bilder sind Flächen. Bilder von Gesellschaftsflächen – Gesellschaftsoberflächen. Dabei machen sie etwas erfahrbar, das man vielleicht als 'Tiefenniveau' innerhalb der Oberfläche bezeichnen könnte. Und diese Niveaus vermitteln mitunter eine reflexive Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit in der Erfahrbarkeit von Geschichte, die mancher Intellektuelle aus der Distanz des theoretischen Eulenfluges nicht zu generieren im Stande ist.
Zur Illustration des Gesagten eine Szene aus dem Film Volkspolizei (Filmskript, S. 173–185) von 1985:
"ZUFÜHRUNG
Hauptwachtmeister Krüger: Herr Reinschmidt, versuchen Sie ganz kurz ein paar Sätze zu sagen.
Herr Reinschmidt: Ich bin aus meiner Kneipe gekommen und über den Hof vom Friedrichstadtpalast. Ich hatte Theaterkarten für 'Das Ei' [Studiotheater des Friedrichstadtpalastes, Anm.], aber die habe ich liegen lassen. 'Das Ei' kann man vergessen. 'Das Ei' ist nicht dem Niveau eines normalen Menschen entsprechend.
Hauptwachtmeister Krüger: Daran können wir beide nichts ändern.
Herr Reinschmidt: Und dann war ich im 'Prater' [ältester Biergarten Berlins, Anm.] und bin von da in die Schönholzer Strasse.
Hauptwachtmeister Krüger: Dort sind sie angesprochen worden durch einen Polizisten.
Herr Reinschmidt: Durch den Herrn, der mich da belegt hat.
Hauptwachtmeister Krüger: Herr Reinschmidt, Sie sind nicht belegt worden von dem Volkspolizisten. Wissen Sie, was der macht?
Herr Reinschmidt: Der passt auf, dass keiner rüberkommt nach drüben. Das weiß ich.
Hauptwachtmeister Krüger: Das ist Staatsgrenze. Und wenn der Polizist eine Kontrolle durchführt, ist das sein gutes Recht.
Herr Reinschmidt: Die Grenze, die uns bewacht und nicht die anderen.
Hauptwachtmeister Krüger: Wir brauchen jetzt keine Diskussion.
Herr Reinschmidt: Jeder Stacheldraht zeigt in unsere Richtung, dass wir nicht rüber können. Die Grenze ist nicht dafür da, dass die nicht zu uns können, sondern dafür, dass wir nicht rüber zu denen können.
Hauptwachtmeister Krüger: Dann gucken Sie mal in die Geschichtsbücher, wie die Kriege entstanden sind. Zum Beispiel der Zweite Weltkrieg.
Herr Reinschmidt: Der Stacheldraht zeigt zu uns.
Hauptwachtmeister Krüger: Herr Reinschmidt, schreien Sie bitte nicht so.
Herr Reinschmidt: Ich bin nicht einmal an der Mauer gewesen, und Sie nehmen mich mit.
Hauptwachtmeister Krüger: Versetzen Sie sich mal in diese Lage: Wenn Sie jetzt Volkspolizist wären ...
Herr Reinschmidt: Ich kann mich nicht in diese Lage versetzen.
Hauptwachtmeister Krüger: Wissen Sie, was ich kann? Ich kann Sie 24 Stunden hier festsetzen. Aber dazu habe ich keine Lust. Gehen Sie jetzt nachhause. Auf Wiedersehen, Herr Reinschmidt." (S. 173–185)
Warum das alles in Buchform? Diese Frage stellte sich mir und ich würde sie zum Schluss gern mit der Hilfe anderer beantworten. Zum einen gewährt das Buch die Qualität der Stille – wie Walter Benjamin das beschreibt –, die einen umfängt und einen Rückzugsort der Lektüre gewährt. Zum anderen fließt hier auch mit ein, was Roland Barthes über die Sogwirkung des Films gesagt hat: dass die Bilder so schnell wären und ihn unaufhörlich fort ziehen würden – man hat keine Zeit anzuhalten. Nimmt man diese beiden Beobachtungen nun zusammen, erhält man mit Spuren. Archäologie der realen Existenz eine Art 'Bilderbuch' – mit der Rasanz der Bilder verschiedener Gegenwarten in Film und Fragment sowie der Stille und Leere des Buches, die erst durch den Leser ausgefüllt wird. In Spuren zu lesen heißt, in der Geschichte und an seinem eigenen Denken – an seinem Zugang zum Verschütteten und Verdrängten – zu arbeiten. Damit kommt man der Wirklichkeit der 'Deutschen Geschichte' – um diesen Mammutbegriff hier doch noch zu verwenden – vielleicht ein ganzes Stückchen näher. Und frei nach Paul Celan steht dabei immer die Maxime im Vordergrund, dass Wirklichkeit nicht einfach ist: Sie will gesucht und gewonnen sein!
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[1] Günther Schabowski, SED-Funktionär, 1989 Erster Sekretär der Bezirksleitung Berlin.
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