Gertrud Koch/Volker Pantenburg/Simon Rothöhler (Hg.): Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema.

Wien: Synema 2012. (FilmmuseumSynemaPublikationen: 15). ISBN 978-3-901644-39-9. 184 S. Preis: € 20,–.

Autor/innen

  • Angelika (Aki) Beckmann

Abstract

Als André Bazin nach dem Wesen des Kinos fragte, war dieses noch gleichbedeutend mit dem des Films, – heute, ziemlich genau 50 Jahre später, ist Kino längst nicht mehr der einzige Ort, an dem Film rezipiert wird. Vielmehr reiht sich die Kinoleinwand in eine Vielzahl von Medien ein, auf denen und durch die bewegte Bilder zirkulieren und konsumiert werden: von der riesigen IMAX Leinwand bis zum winzigen touch screen, vom elitären Ausstellungsraum zu egalitäreren Plattformen wie YouTube bis hin zu den einstigen Rivalen des Kinos, dem Theater und dem Fernsehen.

Die Auswirkung dieses Wandels sowohl auf das Dispositiv, also das Kino, als auch auf die ästhetische Praxis, also den Film, war Objekt der zentralen Fragestellung der prominent besetzten internationalen Tagung "Entgrenzungen des Kinos- Grenzen des Films / Cinema without Walls- Borderlands of Film", die 2010 in Berlin stattfand und deren Vorträge nun als Tagungsband in der Reihe FilmmuseumSynemaPublikationen vorliegen. Vom Tod des Kinos will hier niemand sprechen; vielmehr soll der Versuch unternommen werden, sowohl das Spezifische als auch die Grenzen des Films und des traditionellen 'Lichtspielhauses' neu zu denken, sowie den Begriff des 'Zuschauers' bzw. der Zuschauer-Erfahrung neu zu definieren.

Eben dieser Erfahrung ist der erste Abschnitt des Buches gewidmet: "Past and Present" nennt sich das Kapitel, in dem Raymond Bellour, Jonathan Rosenbaum und Miriam Hansen über einen veränderten Umgang mit Film schreiben und darüber, wie sich dieser in einem Denken über Film manifestiert: in der Filmtheorie (Bellour), dem (journalistischen) Schreiben über Film und der Frage nach dem Wandel der Bedeutung von Cinéphilie (Rosenbaum) und der Vermittlung von Filmerfahrung an eine (junge) Generation von Studierenden, wie sie Miriam Hansen in ihrem (posthum erschienenen) Aufsatz "Max Ophuls and Instant Messaging. Reframing Cinema and Publicness" beschreibt.

Auch wenn Hansens Forderung, von Kulturpessimismus Abstand zu nehmen und kommenden Generationen die Chance zu geben, Kino neu zu entdecken und zu erfinden, quasi programmatisch für den Sammelband im Klappentext des Buches zitiert wird, klingt doch das Spezifische der (herkömmlichen) Kinoerfahrung in ihrer Argumentation überzeugender: das Kino als Gegenpol zu einer Alltagskultur, Kino als eine Utopie eines 'Zeit-Orts' wie ihn Alexander Kluge beschreibt, an dem verschiedene Zeitlichkeiten erfahrbar sind, durch das, was man sieht ebenso wie durch das, was man beim Sehen erinnert und fantasiert.

Mit dem räumlichen Element einer Ontologie des Kinos beschäftigt sich auch Vinzenz Hediger: "Entgrenzungen des Kinos" oder "Cinema without Walls" sind für ihn Metaphern, die eine räumliche Inhärenz in der Filmtheorie beweisen. Welche neuen (Denk-)Aufgaben die Tatsache, dass der Film seinen ihm zugedachten Platz verlässt, für die Medientheorie mitbringt, zeigt er in seinem Aufsatz "Lost in Space and found in a Fold", der gemeinsam mit Tom Gunnings Frage nach dem indexikalischen Realismus in der Filmtheorie den Block "Theory Matters" bildet.

"Other Spaces/Other media" lautet der Übertitel des dritten Blocks: Um andere Räume, Expanded Cinema und interaktives Kino geht es in der Folge in den Beiträgen von Volker Pantenburg und Victor Burgin, um andere Medien bzw. Künste in den Texten von Thomas Morsch und Gertrud Koch. Die Verlängerung des narrativen Raums in TV-Serien durch Internet und DVD einerseits sowie andererseits innerhalb des diegetischen Raums einer Serie – durch die Metalepsie als narratives, selbstreferenzielles Phänomen – beschäftigt Thomas Morsch, während Gertrud Koch anhand des Einsatzes von filmischen Mitteln im zeitgenössischen Theater eines René Pollesch oder Christoph Schlingensief argumentiert, wie der einstige Dualismus Theater–Film untergraben wird.

Der Status des Bildes im digitalen Zeitalter ist Thema des letzten Kapitels: eine neue Ästhetik des Filmbildes einerseits, wie sie Simon Rothöhler anhand von HD Technologie anschaulich macht, und das Auftauchen neuer Märkte und Distributionsformen, wie sie Ekkehard Knörer beschreibt. Wir seien mit etwas Neuem konfrontiert und hätten nur eine anachronistische Terminologie zur Hand, um es zu benennen, stellt Ute Holl zu Beginn ihres Aufsatzes "Cinema on the Web and Newer Psychologie" fest, und doch machen Vergleiche zwischen Altem, Bekanntem und dem neuen, so schwer zu Benennenden Sinn: etwa die Analogie von Online-Plattformen zu Early Cinema, in seinen kurzen Formaten, der variablen Aneinanderreihung, der Attraktionsmontage. Oder dem Kino als Ort einer kollektiven Wahrnehmung bis hin zum Internet als dem kollektiven Gedächtnis schlechthin.

Um neue Erfahrungen zu beschreiben, erweisen sich die (alten) Theorien Walter Benjamins, die sich übrigens wie ein roter Faden durch den gesamten Band ziehen, als ebenso brauchbar wie die "neue Psychologie" eines Maurice Merleau-Ponty, der das Zusammenspiel des cinematographischen Apparates mit dem menschlichen Geist beschreibt: einen Menschen, der sich mit dem Geschehenen in Verbindung setzt, im Kino, das die cartesianische Teilung in res cognitans und res extensa aufzuheben vermag. Und auch Ute Holls Weg zu einer 'neueren Psychologie' kommt an der Vergangenheit nicht vorbei: Das Kino der sowjetischen Avantgarde konnte die Erfahrung der Moderne in Bilder übersetzen – man denke nur an die Überblendungen und raschen Schnitte eines Dziga Vertov – und vielleicht, so schlussfolgert Holl, stellt die digitale Mediennutzung einen ebensolchen Effekt für die zerstreute unaufmerksame Wahrnehmung von heute dar. Es werden wohl noch neuere Begriffe zu erfinden sein, die über eine simple ADHS Diagnose und kulturpessimistische Konsumkritik hinausgesehen, denn: " the Self 2.0. is no longer just a victim of an industrial merchandizing of imaginary commodities; it is engaged".

Autor/innen-Biografie

Angelika (Aki) Beckmann

Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in Wien und an der FU Berlin (Seminar für Filmwissenschaft), Teilnahme am Projektstudium "Film- und Geisteswissenschaften" (1998-2000, Universität Wien). Diverse Medienprojekte und freie journalistische Tätigkeiten. Seit 2004 Mitarbeiterin am TFM, seit 2006 Lehrbeauftragte ebendort.

Veröffentlicht

2012-12-11

Ausgabe

Rubrik

Film