Manuel Zahn: Ästhetische Film-Bildung. Studien zur Materialität und Medialität filmischer Bildungsprozesse.

Bielefeld: transcript 2012. (Theorie Bilden: 28). ISBN 978-3-8376-2121-1. 256 S. Preis: € 29,80.

Autor/innen

  • Karin Fest

Abstract

In welcher Form trägt das Medium Film zu ästhetischer Bildung bei? Manuel Zahn reflektiert in seinem Buch Ästhetische Film-Bildung. Studien zur Materialität und Medialität filmischer Bildungsprozesse anhand unterschiedlicher Beispiele – etwa mit Peter Tscherkasskys Filmen L'Arrivée und Outer Space und Christopher Nolans Memento – das ästhetische Bildungspotenzial das diesen Filmen eingeschrieben ist. Dabei wird der Zuseher als Spurenleser in den Prozess der Filmerfahrung eingebunden, indem das Spurenlesen die medienspezifischen Eigenschaften der Filme freilegt. Das Buch bietet nicht nur exemplarisch Einblicke in die praktische Anwendung, es legt außerdem eine fundierte theoretische Grundlage für das Forschungsfeld ästhetische Filmbildung vor.

Der Begriff der Filmbildung wird von Zahn kritisch reflektiert und mit Bezug auf deutschsprachige Medientheorien, wie beispielsweise von Dieter Mersch oder Sybille Krämer, eine differenztheoretische Perspektive entwickelt. Es geht ihm dabei weniger darum, was Filmbildung ist, sondern um die Frage, wie Filmbildung überhaupt möglich sein kann. Insofern ist die von ihm gewählte Schreibweise von Film-Bildung dem "methodischen Zweifel" (S. 9) geschuldet, der darauf abzielt, die beiden Begriffe Film und Bildung zunächst noch auseinanderzuhalten. Mit Rekurs auf Heide Schlüpmanns theoretische Bestimmung von Film und Kino, die das Kinoerlebnis als elementaren Bestandteil von Bildung wahrnimmt, konzentriert sich Zahns Analyse auf Kinofilme bzw. Filme, die vorwiegend im Kino gezeigt werden. Die Eingrenzung auf Filme, deren spezifischer Aufführungskontext das Kino ist, weist schon darauf hin, dass es sich bei dieser methodischen Herangehensweise an den Komplex Film und Bildung um einen explizit material-ästhetischen Zugang handelt, der Film samt seiner Apparatur betrachtet.

Der erste Teil des Buches unterzieht medienpädagogische Konzepte einer kritischen, diskursanalytischen Lektüre und betrachtet Film-Bildung unter den Bedingungen von Medialität. Die performative Dimension von Ästhetik sowie die ästhetische Erfahrung, die mit der Wahrnehmung von Filmen einhergeht, überträgt Zahn in bildungstheoretische und medienpädagogische Diskurse. Neuere Medientheorien bilden die Grundlage für Überlegungen zur Medialität des Films: Dieter Merschs Konzept einer Negativen Medientheorie erlaubt es, ästhetische Forschung am Film mit Film zu betreiben (Kapitel 2). Die Unterscheidung von Medium und Medialität verweist auf das Paradox einer "anwesenden Abwesenheit": Film wird in seiner Performativität als Erfahrung gelesen, der sich immer auch etwas entzieht. Zahns methodischer Rückgriff auf eine solche Medientheorie zielt darauf ab, diese Medialität als 'Spur' (Sybille Krämer) zu entdecken, die in Medien und den Betrachtern bzw. Nutzern hinterlassen wird. "Künstlerische Arbeiten im Medium Film können somit nicht nur auf ihre Medialität verweisen, sie können gleichsam das Subjekt der Film-Erfahrung einer Situation aussetzen, in der es sich im Bezug auf das Andere seiner selbst, die Medialität seiner Erfahrungsordnungen, seiner Welt- und Selbstverhältnisse erfahren kann." (S. 11) Der Künstler tritt als Spurenleger auf, während der Betrachter des Mediums das Spurenlesen, im Sinne einer ästhetischen Erfahrung, übernimmt.

Das Spurenlesen wird an drei konkreten Beispielen erprobt: an zwei Filmen von Peter Tscherkassky, L'Arrivée und Outer Space, und an Christopher Nolans Memento. Jeder Film kann nur etwas zeigen, indem er 'sich-zeigt': Dabei geht es um die konkrete Zeit, in der die Filme erfahren werden und ihre medialen Spuren 'gelesen' werden können. Der performative Charakter, das Moment der Aufführung des Films, ist also zentraler Bestandteil der Analyse des Bildungspotenzials von Film. Die Reflexion auf Materialität, Technik, Apparatur, Medialität oder Zeitlichkeit findet sich in allen drei Beispielen wieder. Während L'Arrivée Spuren der Materialität des Kinos hinterlässt, spielt Outer Space mit seiner eigenen Medialität und somit mit der Wahrnehmung des Zusehers, dessen Erfahrungsraum durch die Instabilität des Bildes erweitert wird. L'Arrivée versteht Zahn "als experimentelle, filmische Forschungsarbeit, die Spuren hinsichtlich der Materialität und Technik der Filmbilder, ihrer Wahrnehmung und ihrer Geschichte legt" (S. 124). Sowohl L'Arrivée als auch Outer Space treten in ihrer Medialität als Rätsel auf, deren Spuren durch ästhetische Film-Erfahrung entdeckt werden.

Christopher Nolans Memento schöpft sein Reflexionspotenzial wiederum aus der komplexen Zeitstruktur (Rückwärtserzählung), in welcher der Film aufgebaut ist. In Anlehnung an Gilles Deleuze' Bildtypen analysiert Zahn die verschiedenen Formen des Zeit-Bildes in Memento. Der Autor geht im Spurenlesen dieser Bildtypen auf die Besonderheiten von Mind Game Movies ein, die auf eine spezifische kinematografische Denkform hinweisen. 'Zeit-Filme' wie Memento verlangen in besonderem Maße die Mitwirkung des Zusehers: "Darin liegt dann auch ihr ästhetisch bildendes Potential, denn solche Filme können die auf Prinzipien der Nützlichkeit, Ziele und Zwecke ausgerichtete, reduzierende Wahrnehmung verändern, indem sie in der Zeit ihrer Film-Erfahrung Anlässe zum Zögern, zum genaueren, wiederholten und differenzierten Wahrnehmen geben." (S. 213)

Die analysierten Beispiele bringen uns Film als ästhetische Erfahrung näher. Ihre Komplexität wird durch das Konzept der Spur, durch das Spurenlegen und -lesen, erfahrbar gemacht. Film-Erfahrung ist in diesem theoretischen Konstrukt nicht als abgeschlossenes Projekt zu begreifen, denn sowohl das wahrnehmende Subjekt als auch das wahrgenommene Objekt (der Film) sind als im Werden zu verstehen. Das Subjekt wird erst durch diese einmalige Erfahrung (denn es ist immer wieder eine andere, neue Erfahrung) gebildet und erkennt durchs Spurenlesen die Grenzen des 'Anderen'. "Film-Bildung ist der Erforschung eines solchen Anders-Werdens auf der Spur, sie versucht dabei Bildung prozessual zu denken und filmische Ereignisse als emergente Produkte von Bildungsprozessen wahrzunehmen und zu realisieren." (S. 225). Zahns Blick auf die spezifische Medialität des Filmischen, die in Bildungsprozessen eine wesentliche Rolle einnimmt, führt überzeugend vor, in welcher Form bildungstheoretische Überlegungen in direkten Zusammenhang mit der Rezeption von Kunst gebracht werden können. Die methodische Wahl des Spurenlesens erlaubt es vor allem, auf die Spezifika des Mediums Film einzugehen und dieses umfassend – hinsichtlich seiner Materialität, Selbstreferenzialität, Apparatur, Produktion und seines Aufführungskontexts – zu erfahren. Im Rahmen medienpädagogischer Forschung und der Vermittlungsarbeit mit dem Medium Film können Zahns Studien zur Materialität und Medialität filmischer Bildungsprozesse als solides theoretisches Grundlagenbuch herangezogen werden. Besonders die untersuchten Filmbeispiele, an denen der methodische Zugang erprobt wird, führen die komplexe theoretische Basis durch prägnante Analysen und plastische Beschreibungen anschaulich vor und zeigen, in welcher Form ästhetische Film-Bildung angewandt und erfahrbar werden kann.

Autor/innen-Biografie

Karin Fest

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft in mehreren Forschungsprojekten zu den Themen: Stadt und Film, ephemere Filmformen, Visual Culture, Medien- und Filmvermittlung.

Publikationen:

Karin Fest/Christoph Bareither/Kurt  Beals/Michael Cowan/Paul Debryden/Klaus Müller-Richter/Birgit Nemec (Hg.): Hans Richter: Rhythmus 21. Ein Schlüsselfilm der Moderne. Würzburg: 2012.

-/Marie-Noelle Yazdanpanah (Hg.): Geschichte und Filmvermittlung: Neue Perspektiven. Zeitgeschichte, 40/4 (2013). (im Erscheinen)

Veröffentlicht

2013-06-19

Ausgabe

Rubrik

Film