Rosemarie Brucher: Subjektermächtigung und Naturunterwerfung. Künstlerische Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen.

Bielefeld: transcript 2013. ISBN 978-3-8376-2270-6. 284 S. Preis: € 32,80.

Autor/innen

  • Tobias Heinrich

Abstract

Selbstverletzung im Rahmen der Performance-Kunst markiert eine mehrfache Grenzüberschreitung. Wenn Günter Brus in der Zerreißprobe (1970) mit aufgeschnittenem, blutenden Körper vor seinem Publikum in statischen Positionen kniet, stellt er die konventionelle Differenz von künstlerischem Subjekt und darstellendem Objekt grundlegend in Frage. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Irin Kira O'Reilly, die sich in ihren Arbeiten wiederholt, so etwa in Succour (2001), mit der menschlichen Haut als Projektionsfläche befasst. Durch Schnitte, die sie sich selbst mit einem medizinischen Skalpell zufügt, eröffnet sie realiter einen hinter der Haut liegenden, imaginären Projektionsraum.

Die Zurschaustellung schmerzhafter Selbstverletzung durchbricht in beiden Fällen etablierte Trennlinien zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Innen und Außen und letztlich auch zwischen Künstler/innen und ihrem Publikum.[1] Auf radikale Weise thematisiert Marina Abramović diese Beziehung in ihrer Performance Rhythm 0 (1974). Unter der Prämisse vollständiger Auslieferung stellt sie den Teilnehmer/innen frei, bereitliegende Gegenstände – unter anderem diverse Lebensmittel, Werkzeuge, eine Rose und einen Revolver – am Körper der Künstlerin anzuwenden. Eine schriftlich verfasste Absolution Abramovićs spricht das somit zum/r Akteur/in gewandelte Publikum von jeder Verantwortung für sein Handeln frei. Am Ende der Aktion ist die Kleidung der Künstlerin zerschnitten und ihre Haut von Dornen zerstochen. Selbst- und Fremdverletzung, körperliches Leid und dessen stoische Hinnahme finden sich hier aufs Dichteste ineinander verwoben.

Die künstlerische Selbstverletzung als geistige Überwindung körperlicher Grenzen steht auch im Mittelpunkt einer jüngst erschienenen Monographie der österreichischen Theaterwissenschaftlerin Rosemarie Brucher. In Abgrenzung vom rezeptionsästhetischen Forschungsparadigma, unter dem gerade die Performance-Kunst häufig betrachtet wird, setzt die Autorin ihren Fokus dabei auf produktionsästhetische Fragestellungen. Die Selbstverletzung im Kontext der Body-Art wird als kritisch-analytische Auseinandersetzung mit der eigenen Subjekthaftigkeit betrachtet. Bewusste Verwundungen des eigenen Körpers stehen damit im Zeichen der Überwindung physischer Gebundenheit und einer performativen Bestätigung der Autonomie des Menschen.

Als theoretisches Fundament der Studie dient die ästhetische Konzeption des Erhabenen, die ihre maßgebliche Kontur für die deutschsprachige Tradition in Kants Kritik der Urteilskraft gewinnt. In Adaption der sensualistischen Ästhetik Edmund Burkes grenzt Kant das Erhabene als Zusammenspiel von Lust- und Unlustzuständen vom Begriff des Schönen als reinem Wohlgefallen ab. Während Burke jedoch das Erhabene als Eigenschaft äußerer Gegenstände bestimmt, verlagert es Kant im Zuge seiner transzendentalphilosophischen Wende in das Innere des Menschen.

Zentraler Bezugspunkt für Bruchers Auseinandersetzung mit künstlerischer Selbstverletzung ist Kants Bestimmung des Dynamisch-Erhabenen: ein Gemütszustand in Konfrontation mit potentiell bedrohlichen Naturphänomenen. Als Beispiele nennt Kant Vulkane, Gewitter und das von Stürmen aufgewühlte Meer. In Anschauung solcher Gegenstände findet ein "imaginiertes Kräftemessen" (S. 58) zwischen der Natur und dem Subjekt statt. Gegenüber den genannten Naturgewalten muss jedoch jeder dem Menschen mögliche Widerstand zu gering erscheinen. Das Subjekt wird damit der Endlichkeit seiner Existenz gewahr – allerdings nur im Sinne seiner Körperlichkeit. Denn, so Kants dialektischer Einwand, angesichts der Unendlichkeit – eine Idee, über die der Mensch durch seine Vernunft verfügt – muss jeder Gegenstand der Natur, auch wenn er noch so übermächtig und bedrohlich erscheint, als begrenzt und damit unterlegen gedacht werden. Während also die Einbildungskraft an der sinnlichen Vorstellung einer den Naturgewalten ebenbürtigen physischen Kraft scheitert, kann sich die Vernunft in einem Akt der Distanznahme vor der Natur behaupten. Dem Unlustgefühl der physischen Begrenztheit durch die Natur steht damit die positive Entdeckung der geistigen Überlegenheit des Menschen über alle äußeren Maßstäbe entgegen, den Brucher als einen Akt freiwilliger Aufgabe des Physischen beschreibt.

In einer präzisen Analyse legt die Autorin die dreigliedrige Struktur des Dynamisch-Erhabenen mit den Elementen 'Gefährdung', 'Aufopferung' und 'Erhebung' frei. Gefährdet findet sich der Mensch in seiner Begrenztheit als Sinnenwesen. Aufgeopfert wird diese körperliche Seite der Existenz in der imaginierten Konfrontation mit übermächtigen Naturgewalten. Gleichzeitig stellt diese Aufgabe aber einen Triumph des Vernunftvermögens dar, denn keine äußere Macht kann so groß gedacht werden, dass sie die Ideen der Unendlichkeit und der Unsterblichkeit als Signum der geistigen Seite menschlicher Existenz negieren könnte. Das finale Element dieses Dreischrittes kennzeichnet also einen Akt der Selbsterhebung des Subjekts über seine sinnliche Natur. Brucher weist jedoch darauf hin, dass die dialektische Beziehung von Aufopferung und Erhebung nicht im Sinne aufeinanderfolgender Phasen gedacht werden darf, sondern als Gleichzeitigkeit widerstrebender Zustände: "Denn obwohl im Erhabenen die Macht der Vernunft über den Körper und damit deren scheinbare Andersartigkeit fühlbar werden können, bleibt auch die bedrohte, geopferte Sinnlichkeit des Menschen in der konstitutiven Funktion der Unlust präsent" (S. 80).

Mit Schiller verschiebt sich der Fokus vom imaginierten Leid in der Konfrontation mit der Natur zum faktisch erfahrenen Schmerz bzw. seiner dramatischen Darstellung. In der stoischen Annahme des Unvermeidbaren äußert sich der freie Wille gegenüber dem auf die Sinnenwelt bezogenen Selbsterhaltungstrieb des Menschen. Vernünftige Einsicht in die Vergänglichkeit des Physischen ließe den Menschen in letzter Konsequenz auch dem Tod furchtlos entgegentreten. Schiller differenziert dabei zwischen dem Erhabenen als Geisteshaltung und dessen Manifestation in konkreten Handlungen, die als symbolischer Vollzug menschlicher Freiheit dienen. In diesem Sinne interpretiert Brucher nun den Akt der künstlerischen Selbstverletzung als existentielle Form der Furchtbewältigung.

Das zuvor erschlossene theoretische Fundament dient im zweiten Teil der Studie als Interpretament zur Analyse zweier prominenter Vertreter/innen der Performance-Kunst. Mit VALIE EXPORT wird die Ästhetik des Erhabenen von der Autorin auf einen künstlerischen Ansatz appliziert, der einen betont feministischen Anspruch vertritt. In Hyperbulie (1973) bewegt sich die Künstlerin zwischen elektrischen Drähten, mit denen sie im Verlauf der Aktion immer wieder in Berührung kommt. Dieses Arrangement beschreibt VALIE EXPORT in einem erläuternden Text als Versinnbildlichung der schmerzhaften Beschränkungen, die das Subjekt in seinem gesellschaftlichen Korsett erleiden muss. In der metaphorischen Inszenierung verschiebt VALIE EXPORT jedoch das Setting eines solchen (Ohn-)Machtverhältnisses. Im Sinne Schillers kann die künstlerische Selbstverletzung als emanzipativer Akt der Subjektermächtigung verstanden werden. Der leidende Körper der Künstlerin wird zum Symbol ihrer Willensfreiheit. Wie Brucher zu zeigen vermag, ist die Ambivalenz des Erhabenen dabei jedoch in vollem Maß präsent, denn die Selbstbehauptung des weiblichen Subjekts vollzieht sich durch eine "Verschiebung der Aggressorrolle" (S. 188). Der Körper selbst bleibt weiterhin unterworfen – als passives Opfer der Subjektermächtigung.

Im Gegensatz dazu führt die Bedrohung des Körpers bei dem zypriotisch-australischen Künstler Stelarc zu seiner künstlichen Ausdehnung und Transformation. Vielfach steht die Arbeit mit mechanischen Prothesen, die das Handlungsspektrum des Menschen erweitern und über sein natürliches Maß hinaus steigern, im Zentrum seiner Arbeiten. Die Anreicherung des Körpers durch technische Utensilien – ein mechanischer, dritter Arm, ein implantiertes künstliches Ohr oder ein überdimensionaler, spinnenartiger Bewegungsapparat: das Exoskeleton (1998) – dient der operationalen Ausdehnung des körperlichen Aktionsradius. Physische Verletzungen bzw. radikale Einschränkungen des eigenen Körpers werden dabei bewusst in Kauf genommen. Im Falle des implantierten Ohrs litt Stelarc in Folge der Operation an schweren Entzündungen und einer teilweisen Gewebsnekrose. Auch wenn der Apparat des Exoskeleton dem Künstler keine offensichtlichen Verwundungen zufügt, verbleibt dem Körper aufgrund der technischen Einrichtung der Maschine nur mehr ein minimaler Bewegungsspielraum. Doch gerade in diesem Zustand, statisch an den künstlichen Mechanismus gefesselt, manifestiert sich auf eindrückliche Weise erneut die Dialektik des Erhabenen in der Aufopferung der physischen Natur zugunsten der Selbstermächtigung des Subjekts.

Der Autorin gelingt es in bestechender Klarheit die theoretischen Grundlagen, die sie bei Kant und Schiller vorfindet, auf rezente künstlerische Ausdrucksformen zu applizieren, die gerade aufgrund ihrer Radikalität allzu leicht auf ihr provokatives Element reduziert werden. In der analytischen Einschränkung auf die subjektkonstitutiven Aspekte des Erhabenen legt die Autorin plausibel dar, wie die symbolische Aufopferung des Körpers zugleich als Selbstbehauptungsstrategie verstanden werden kann. In Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Lesarten des Erhabenen, etwa bei Jean-Francois Lyotard oder Hartmut Böhme, vermag die Monographie außerdem Perspektiven zu erschließen, die in der Verschränkung von Aufopferung und Erhebung über die subjektkritischen Positionen des Poststrukturalismus hinaus weisen. Zu fragen bleibt vielleicht, ob sich durch die im gewählten Ansatz bewusst ausgesparte Integration rezeptionsästhetischer Theoreme nicht noch ein produktiver Mehrwert für die Interpretation künstlerischer Selbstverletzungen ergeben könnte. Es ließe sich dadurch wohl auch eine engere Rückbindung an frühere Arbeiten der Autorin[2] herstellen. Doch auch in der vorliegenden Form erweist sich Rosemarie Bruchers Studie als erhellende Lektüre, die es ob ihres subjekttheoretischen Anspruchs verdient, weit über disziplinäre Grenzen hinaus rezipiert zu werden.

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[1] Vgl. Helge Meyer: Schmerz als Bild. Leiden und Selbstverletzung in der Performance Art. Bielefeld 2008.

[2] V. a. Rosemarie Brucher: Durch seine Wunden sind wir geheilt. Selbstverletzung als stellvertretende Handlung in der Aktionskunst von Günter Brus. Wien 2008.

Autor/innen-Biografie

Tobias Heinrich

Germanistikstudium an der Universität Wien und der Humboldt Universität zu Berlin. Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, Wien. Promotion 2013 zur Theorie der Biographie um 1800.

Publikationen:

(Auswahl)

– : "Wolfgang Amadeus Mozart – Die biographische Konstruktion eines Genies". In: Der Deutschunterricht 64/2, S. 14–27.

– : "Das lebendige Gedächtnis der Biographie: Johann Gottfried Herders 'Fünfter Brief zu Beförderung der Humanität'". In: Theorie der Biographie: Grundlagentexte und Kommentar. Hg. v. Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker. Berlin, New York 2011, S. 23–27.

– : "'This, I believe, is the only means of defying death': Johann Gottfried Herder's Concept of Intellectual Biography". In: Lumen 28, S. 51–67.

– : "Biographie als Hermeneutik. Johann Gottfried Herders biographischer Essay Über Thomas Abbts Schriften". In: Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Wilhelm Hemecker. Berlin, New York 2009, S. 13–41.

– : "Die montierte Biographie. Alexander Kluges Lebensläufe als Modell 'offener' Biographik". In: Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Wilhelm Hemecker. Berlin, New York 2009, S. 367–392.

Veröffentlicht

2013-12-12

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft