Malda Denana: Ästhetik des Tanzes. Zur Anthropologie des tanzenden Körpers.
Bielefeld: transcript 2014. ISBN 978-3-8376-2719-0. 289 S. Preis: € 34,99.
Abstract
Gibt es die vollkommene Körperbewegung? Wenn ja, wer ist ihrer tatsächlich mächtig – Mensch oder Marionette? Ausgehend von Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater begibt sich die Philosophin, Tanzwissenschaftlerin, Choreografin und Dramaturgin Malda Denana in der überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation auf die Suche nach dem genuin Menschlichen in einer künstlerischen Bewegung. Im Anschluss an die jeweiligen theoretischen Kapitel des Buches um anschauliche Exkurse aus der Tanzpraxis ergänzt, liest sich das Werk der Tanzpädagogin wie ein Manifest einer anthropologischen Ästhetik des Tanzes und birgt durchaus das Potenzial, einen wertvollen Beitrag für die Fundierung des künstlerischen Tanzes im Forschungsfeld der Philosophie zu leisten.
Es ist die scheinbar mühelose Inbeziehungsetzung zweier bislang nur selten zusammen gedachter wissenschaftlicher Disziplinen, auf die Publikation neugierig macht. Die Autorin setzt sich zum Ziel, dem Versäumnis einer philosophischen Studie, die den Tanz auf Basis einer anthropologischen Ästhetik systematisch untersucht, nachzukommen. Ihre Abhandlung unterteilt sie in zwei Kernbereiche: Widmen sich die ersten beiden Kapitel einer ausführlichen Analyse des Tanzes als Gegenstand einer anthropologischen Ästhetik, der davon lebt, dass sich körperleibliche Wesen im Tanz selbst erfahren und sich mittels Bewegungen gestalten können, so legt die Autorin in den zwei weiteren Kapiteln den Fokus auf die tänzerische Bewegung an sich, die, immer im Zwiespalt zwischen Ausdruck und Darstellung, auch als Geste, Pathosformel oder Symptom funktionieren kann.
Rekurrierend auf Kleists Marionettentheater, auf das sich Helmuth Plessner in seiner anthropologischen "Konzeption des Doppelaspekts zwischen Leibsein und Körperhaben" (S. 39) bezieht, stellt Denana das Paradox der vollkommenen Bewegung an den Anfang ihrer Untersuchung. Aus tanzhistorischer Sicht gegenüber stehen sich dabei Carlo Blasis – der 1820 ein bis heute gültiges Tanzvokabular, ein Traité der klassischen Ballettkunst veröffentlichte – und Jean-George Navarro, ein Vertreter der Forderung nach weniger Symmetrie und mehr Natürlichkeit der Bewegung. Im ersten Kapitel, das den Tanz zum Terminus 'Künstlichkeit' in Beziehung setzt, wird der tanzende Körper als Instrument oder Werkzeug und gleichzeitig als das eigene Selbst gedacht. Der Körper ist dem Tänzer damit zugleich "zuständlich" sowie "gegenständlich" (S. 43). An der Arbeit mit dem Spiegel, der es ermöglicht, den eigenen Körper aus einer Distanz heraus zu betrachten, wird das Phänomen des "Doppelaspektes" (ebd.) und der Selbstreflexivität bei Plessner eklatant, der sich des Begriffs der "Grenze" (ebd.) bedient. Die "körperleibliche Gebrochenheit" (S. 46), die bei keinem anderen Lebewesen außer dem Menschen festzustellen ist, stellt bei Denana eine Bedingung für den künstlerischen Tanz dar. Weiters stellt die Autorin bereits hier eine Verbindung zwischen Tanz und Spiel im Sinne einer "freien Verfügbarkeit und Führung von Bewegungen" (S. 45) her, die für eine philosophische Theorie des Tanzes unabdingbar ist.
Anhand von Lew Iwanows und Marius Petipas Schwanensee (UA 1877), Kris Verdoncks I/II/III/IV (UA 2007) sowie William Forsythes (N.N.N.N.) (UA 2002) analysiert die Autorin im ersten tanzpraktischen Exkurs drei Produktionen in Hinblick auf ihre zuvor aufgestellten Thesen. Wird bei der ersten Choreografie, deren Analyse (womöglich aufgrund einer Dauer von nur zwei Minuten?) viel zu kurz ausfällt, die Synchronität der "vier kleinen Schwäne" (S. 76) an die Grenze eines maschinellen Perfektionismus getrieben, karikiert Verdoncks Performance-Installation – ebenfalls von vier Tänzerinnen dargebracht – diese marionettenhaften Bewegungen, bevor bei Forsythe ein weiteres Mal vier (männliche) Tänzer unter dem Diktum einer Lebendigkeit als "Gebrochenheit von Leibsein und Körperhaben" (S. 86) und im Spannungsfeld zwischen Mensch und Marionette ihre Bewegungsgrenzen ausloten. Wie die Autorin zu Beginn ihrer Forschungsarbeit selbst zu bedenken gibt, wird in diesem Abschnitt die Problematik deutlich, dass Abbildungen von Szenenbildern nur sehr begrenzt eine Vorstellung der Choreografien zu geben vermögen und an ein Aufführungserlebnis in keiner Weise heranreichen.
Um den künstlerischen Tanz in der Anthropologie zu fundieren, zieht Denana im Verlauf des Kapitels "Zur exponierten menschlichen Bewegungskompetenz" Arnold Gehlens Konzept der "Bewegungsphantasie" heran und führt damit auch den Begriff der "Weltoffenheit" (S. 91) – im Sinne eines abstrakten Denkens, das über lebensnotwendige Abläufe hinausgeht – als für den Tanz formgebend ein. Angelehnt an die Gedanken Ernst Cassirers stellt sie resümierend heraus, dass die Symbolfähigkeit, die Möglichkeit zur Bedeutungsgenerierung sowie das Rückempfinden und die Rhythmik – allesamt Eigenschaften einer typisch menschlichen Bewegung – in besonders hohem Maße im Tanz zum Vorschein kommen. Im anschließenden tanzpraktischen Exkurs verschriftlicht die Autorin Bilder aus Xavier Le Roys Bewegungsexperiment Self Unfinished (UA 1998), in dem der Künstler den (eigenen) menschlichen Körper immer weiter deformiert, ihn fernab jeglicher natürlicher Bewegungen situiert und, indem er den Zuschauer in ein verwirrendes Spiel der Gliedmaßen verwickelt, auch die "Plastizität menschlicher Bewegungen" (S. 108) – im Sinne einer Variabilität – exzessiv zum Vorschein bringt.
Ernst Cassirers Verortung der menschlichen Bewegung im Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung stellt Malda Denana im dritten Kapitel ihr durchaus schlüssiges Konzept eines Spannungsfeldes zwischen Ausdruck und Darstellung entgegen. Der Ausdruck einer Bewegung wird festgemacht an ihrer "exzentrischen Positionalität" (S. 126), also der Wahrnehmung durch ein Außen und dem eigenen Bewusstsein des 'Gesehen-werden-Könnens'. Denn erst wenn der Schauspieler eine Distanz zu seiner Rolle aufgebaut hat, "kann er auch mit seiner Rolle, nicht nur in ihr spielen" (S. 160). Selbiges gilt auch für den Tänzer. Eine "Darstellungsabsicht und Darstellungsmöglichkeit" (S. 161) aber steht in Beziehung zum eigenen Ausdruck und kann nicht vom eigenen Körper getrennt werden. Hier gibt es Grenzen, die abermals Denanas Theorie eines Spannungsfeldes zwischen Ausdruck und Darstellung zu legitimieren scheinen.
In dem darauffolgenden Exkurs werden mit Schriften von Helmuth Plessner und Denis Diderot anthropologische Überlegungen hinsichtlich der Schauspielerei auch für den Tanz 'salonfähig' gemacht. Wie beim Schauspieler gehört es auch zur Aufgabe des Tänzers, sich durch Annäherung an ein Ideal und viel Übung eine möglichst große Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten zuzulegen. Aus diesem Repertoire kann sich nach Diderot, der wiederum zu Kleists Marionettentheater in Beziehung gesetzt wird, der Schauspieler bzw. Tänzer nun bedienen und wird dadurch gleichzeitig zum Maschinisten und zur Marionette. Durch ständige, bewusste Wiederholung und das regelmäßige Training vor dem Spiegel, das eine ästhetische Erfahrung durch das Publikum erst möglich macht, steht laut Denana eine gewisse Verdinglichung im Raum, die den "natürlichen Ausdruck" (S. 186) verblassen lässt. Diesen Widerspruch beschreibt die Autorin zwar als "irritierend", aber gleichzeitig auch als "belebend" für die Kunst (ebd.).
Der an Kapitel drei angehängte Exkurs, oder besser: Diskurs zu Dark Matters (UA 2009) von Kidd Pivot Frankfurt RM ist in Bezug auf das 'Marionettenhafte' im Tanz überaus aufschlussreich. Detaillierte Beschreibungen einzelner Sequenzen und Bewegungen machen die Verwendung einer Vielzahl von Abbildungen mangelhafter Qualität weitgehend überflüssig. Wenn der Mensch mit einer aus Holz erschaffenen Marionette, die nach und nach ein Eigenleben entwickelt, einen pas de deux tanzt und die Tänzerin sich am Ende selbst in eine Puppe verwandelt, die von einem anderen Tänzer 'in Form' gebracht wird und erst das Laufen erlernen muss, hat die plastische Inszenierung ihren Höhepunkt erreicht. Dieses Szenario korrespondiert mit Denanas Beweisführung hinsichtlich des bereits besprochenen Spannungsverhältnisses. Anhand der Bewegungen des Tänzers Jermaine Spivey beschreibt die Autorin eine Performance im Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Darstellung, bei der nicht klar auszumachen ist, ob sie den Zuschauer durch des Tänzers Eigenart und Originalität (Ausdruck) oder vermittels seiner virtuosen Beherrschung der Choreografie (Darstellung) fesselt.
Der Tanz trägt Züge der Geste, der Pathosformel und des Symptoms – diese These stellt Malda Denana in ihrem vierten und letzten Kapitel auf und beschreibt aufbauend auf Cassirers Gedanken zum 'Symbolhaften' den Tanz als etwas, das sich von jedem Einzelnen auf sein jeweils eigenes Leben rückbeziehen lässt. Den Tanz als Geste zu fassen bedeutet, ihm ein "Surplus an Deutungsmöglichkeiten" (S. 221) zuzuschreiben; den Tanz als Pathosformel und Symptom zu beschreiben weist auf das "symbolische Gedächtnis" (S. 226) des Menschen und das "innere Ergriffensein" (S. 227) hin. Dem künstlerischen Tanz wird somit das Recht zuteil, alles andere als eindeutig zu sein.
Anhand von Paul Valérys Dialog L'âme et la danse beschreibt Denana eine weitere Charakteristik des Tanzes, die auf der bereits erwähnten inneren Ergriffenheit basiert und diese auf die Spitze treibt: die Trance als Form des Übergangs und der Metamorphose. Anhand zweier eigentlich konträrer Stücke, dem Tanztheater Café Müller (UA 1978) von Pina Bausch, in dem gerade diese Traumartigkeit und der Trancezustand tänzerisch zum Ausdruck gebracht werden, und dem neoklassischen Ballett Apollon (UA 1928) von George Balanchine, beschreibt die Autorin, dass der "Kontrollverlust", der "Taumel", genauso wie die "tänzerische Behauptung" (S. 269) ein Teil des künstlerischen Ausdrucks sein können.
Inwieweit dieses 'ästhetische Plädoyer' tatsächlich einen Beitrag zu einer Fundierung des künstlerischen Tanzes in der Philosophie – wohlgemerkt ein hochgestecktes Ziel – leisten kann, wird sich zeigen. Dass mit diesem Werk ein "regerer Austausch zwischen der philosophischen Ästhetik und der Tanzwissenschaft" (S. 17) stattfinden wird, steht jedenfalls außer Frage.
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