Paul B. Preciado: Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie.

Berlin: b_books 2016. ISBN 978-3-942214-18-6. 460 S. Preis: € 20,–.

Autor/innen

  • L* Reiter

Abstract

"Am Anfang dieses Buches habe ich Testosteron genommen […]; ich wollte mich selbst enthaupten, mir den Kopf, der von einem Geschlechts-Programm geprägt war, abschneiden, ich wollte einen Teil des molekularen Modells sezieren, das in mir wohnt. Dieses Buch ist die Spur, die von diesem Schnitt geblieben ist" (S. 419). In Testo Junkie entwickelt Paul Preciado anhand von Gendertheorie, einer Genealogie einer geschlechtsbezogenen Pharmazie und der Protokollierung der Eigeneinnahme von Testosteron eine "somapolitische Theorie des Selbst" (S. 11).

Nicht nur die Anwendung von Testosteron und das Verhältnis zum eigenen Körper sind radikal im als "Körper-Essay" (S. 11) bezeichneten Selbstversuch, sondern auch der Umgang mit wissenschaftlichen Referenzen. So lautet eine Überschrift "Paris Hilton im Bett mit Max Weber" (S. 277), und mit Klassikern aus Philosophie, Feminismus oder der Porno-Branche wird durchgehend hart umgegangen: "Buffy tötet den Vampir von Simone de Beauvoir. Der Dildo, Paradigma aller Prothesen teleproduzierter Lust, schluckt den Schwanz von Rocco Siffredi" (S. 37). Testosteron-Gel, Dildos, Sex und Drag-Workshops werden wie der eigene Körper und Affekte als Schnittstelle politischer Phänomene verstanden und sind für Testo Junkie wichtiger als der Bezug auf kulturtheoretische Texte. Diese werden nur dann herangezogen, wenn sie sich in das Sammelsurium der Lustproduktion einfügen lassen. Preciado eignet sich neben Theorien von Donna Haraway, Angela Davis und Paolo Virno auch literarische Gattungen an. Neben dem Essay parodiert Preciado eine metaphysische Abhandlung, schreibt ein Kapitel als Manifest und kreiert einen Genre-Mix, der sich kaum noch um wissenschaftliche Standards kümmert.

Diese sind jedoch bei weitem nicht das Einzige, was zum Ausverkauf bereit steht: "Gender for sale" (S. 230). Geschlecht versteht Preciado als Techno-Ökologie, welche seit dem 20. Jahrhundert und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg durch folgende Techniken geprägt ist: "Photographische, biotechnologische, operative, pharmakologische, cinematographische oder cybernetische Techniken konstruieren die Materialität der Geschlechter performativ" (S. 131). All diese Techniken fasst Preciado mit dem Begriff der Pharmapornographie, welche die zwei bedeutenden Stränge Pharmaindustrie (Hormonforschung) und Pornographie im weiteren Sinne (Medien, Technologien, Pornifizierung des Körpers) in Bezug zur Produktion von Geschlecht setzt. "Die zwei Pole der pharmapornographischen Industrie (der pharmazeutischen wie der pornographischen) funktionieren gerade durch ihre Gegensätze, sie konvergieren nicht miteinander. Die pornographische Industrie produziert zwar mehrheitlich normative und idealisierte Repräsentationen [...], die pharmazeutische, biotechnologische Industrie und die neuen Formen der künstlichen Befruchtung [...] gestalten die Grenzen zwischen den Geschlechtern jedoch unablässig neu." (S. 127f.)

Während in dieser These die pharmazeutische und pornographische Industrie als tendenziell gegensätzlich gedacht werden, nuancieren die historischen Analysen deren Verhältnis. So beschreibt Preciado im Kapitel 'Pharmamacht' detailliert die Herstellung eines Wissens von Sexualität durch die Photographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Ausbeutung der Bevölkerung in Puerto Rico im Zuge der Hormonforschung in den 1960er-Jahren, die Einführung der Pille, die Regulierung von Sexualität durch restriktive Gesetzgebung in Kanada (wodurch vor allem feministische Pornos zensiert wurden) bis zur Konstruktion eines Multimedia-Bordells für die Fußball-WM 2006 in Deutschland. Entwicklungen der letzten Jahre deckt Testo Junkie leider nicht mehr ab, da die spanischen und französischen Fassungen bereits 2008 erschienen.

Dass Testo Junkie jedoch weiterhin aktuell ist und für anschließende Forschungen einen Ausgangspunkt darstellen sollte, liegt zum einen am spezifischen Verständnis der historischen Modelle, das Preciado anhand von Michel Foucault entwickelt: "Es gibt keine historische Abfolge von Modellen […], sondern verbundene Gleichzeitigkeiten, transversale Aktionen vielfältiger somapolitischer Modelle, die auf die Subjektivität einwirken" (S. 123). So unterliegen Nase und Genitalien unterschiedlichen politischen Regimen: Die Genitalien unterliegen in geschlechtsangleichenden Operationen den strikten staatlichen Regulierungen eines souveränen Regimes, während die Nase in der Rhinoplastik als Schönheitsoperation den Warencharakter des pharmapornographischen Regimes besitzt. Letzteres zeichnet sich folgendermaßen aus: "Während die disziplinargesellschaftlichen Technologien der Subjektivierung den Körper von Außen kontrolliert haben – als ortho-architektonischen Körper –, sind die Technologien der pharmapornographischen Gesellschaften Teil des Körpers, sie werden Somatechnologien" (S. 81f.) und wirken dadurch auf molekularer und affektiver Ebene.

Die Entstehung dieser Somatechnologien verortet Preciado in der Hormonforschung und -anwendung: "Die telekinematische Theorie des Hormons ist Medientheorie, […] in der der Körper nicht mehr einfach ein Mittel ist, durch das Information ausgesendet, verbreitet und empfangen wird, sondern selbst die materielle Wirkung dieser semiotechnologischen Tauschoperationen" (S. 168). Nicht nur ein Verständnis des Körpers als materielle Wirkung von Hormonen, Technologien, Praktiken und Affekten bietet Anschluss für Debatten über Smart Environments und die Quantified-Self-Bewegung. Diese könnten sich ebenso auf die Zusammenhänge von Kapitalismus und Selbst beziehen, welche in Testo Junkie durch die Konfrontation von queerer Szene und Theorie sowie post-operaistischen Theorien (Antonio Negri, Silvia Federici) entfaltet werden: Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert verliert die Produktion von Warenobjekten an Bedeutung und "die Erfindung eines Subjekts und [seine] globale Reproduktion" (S. 37) werden immer bedeutender.

Im Zentrum dieser spätkapitalistischen Verwertung steht bei Preciado die potentia gaudendi, die orgasmische Kraft, welche an Stelle von Karl Marx' Begriff der Arbeitskraft tritt. Sie "existiert ausschließlich als Ereignis, Verhältnis, Praxis, Werden" und "ist gleichzeitig die abstrakteste und die materiellste aller Formen von Arbeitskraft, unhintergehbar fleischlich, dabei jedoch digital" (S. 43f.). "Der zeitgenössische Kapitalismus macht die reine Genusskraft produktiv, ob in pharmakologischer Form (als Molekül einer Tablette, das im Körper der Konsumierenden arbeitet), in pornographischen Repräsentationen (semiotechnisches Zeichen, das in digitale Daten konvertierbar ist […]) oder in den Sexdiensten (lebendiges pharmapornographisches Wesen […])" (S. 43). Dabei geschieht diese Verwertung in einer Kombination aus Selbst- und Fremdtechnologien, wenn das "cis-girl […] ihren Körper in ein konsumierbares Bild verwandeln" will und zugleich Kind "Hollywoods, von Porno, Pille, TV-Trash, Internet und Cyberkapitalismus" (S. 404) ist. Während das pharmapornographische Regime historisch betrachtet zunächst Zugriff auf die Körper von rassifizierten Sklav*innen und inter- sowie transgeschlechtlichen Personen hatte, dehnte sich dieser mit der Einführung der Pille auf cis-Frauen und mit Viagra auf cis-Männer aus, bis schließlich "jeder Körper zur mehr oder weniger virtuosen multimedialen techno-Hure" (S. 310) wird.

Doch Testo Junkie belässt es nicht dabei, kapitalistische Funktionsweisen und Techno-Ökologien des Geschlechts herauszuarbeiten, sondern zeigt auch Fluchtlinien auf, die "dem Kontrollsystem entkommen" (S. 147). Diese sind jedoch nicht als ein "oppositionelles biologisches oder historisches Subjekt" (S. 340) verkörpert. Stattdessen geht es um die gemeinschaftliche Wiederaneignung von Techniken, die diese zu Commons anstelle von proprietärem Gut machen: "Mein Geschlecht gehört nicht meiner Familie oder dem Staat oder der pharmazeutischen Industrie. Mein Geschlecht gehört nicht dem Feminismus oder der lesbischen community oder der queer-Theorie. Gender muss dem Makrodiskurs entrissen werden und verdünnt werden mit einer guten Dosis mikropolitischer, hedonistischer Psychedelika" (S. 391).

Es geht Preciado darum, dass die "durchaus fragilen Archive über Feminismus, black-, queer-, und trans-Kultur, [dass] dieses Minderheitenwissen in kollektives Experimentieren transformiert werden, in physikalische Praktiken, in Lebenswege und Formen des Miteinander" (S. 348). Derartige Transformationen schildert Preciado an der Teilnahme und Organisation von Drag-Workshops und dem Gender-Hacking, der eigendosierten Hormoneinnahme. Sie dienen dazu, "technolebendige Körper als ein biopolitisches Archiv" (S. 389) zu formen. Dass dies ebenso gut eine kapitalistische Strategie sein könnte, wird in Testo Junkie nicht vernachlässigt. Das Politische liegt laut Preciado jedoch im Kampf um ebendiese Strategien, die von unseren Körpern untrennbar sind. Unsere technolebendigen Körper, diese "'pharmapornographische[n] Fabriken' […] existieren gleichzeitig als Rohmaterial, als Produzent/innen (aber selten als Besitzer/innen) von gender-Biocodes und als pharmapornographische Nutzer/innen" (S. 388). Sowohl in der queeren Szene als auch beim Hacking und der Open-Source-Programmierung verortet Preciado die Entstehung einer Bewegung, die nicht-proprietäre Techniken einer 'Free Fuckware' oder 'OpenGender' schaffen und sich für einen möglichst freien Zugang zu ebendiesen minoritären Strategien einsetzen, die sich in und durch unsere Körper materialisieren.

Doch der "politischen Geste [würde] jede Kraft fehlen", wenn es nicht zu einem kollektiven Prozess von "Legionen schweigender Transsexueller" (S. 63) und Genderhacker*innen käme. Mit der Übersetzung von Testo Junkie durch Stephan Geene ist hoffentlich ein weiterer Beitrag zum gemeinsamen Experimentieren geleistet. Insbesondere da die Übersetzung den zitierten Konzepten große Achtung schenkt und beispielsweise Gilles Deleuze' 'devenir' nicht wie in der englischen Ausgabe von 2013 als 'evolutionary process', sondern als 'Werden' wiedergibt. Auch das handliche Format des Buchs ist für die äußerst lustvolle Lektüre geeignet, indem es den Leser*innen und deren orgasmischer Kraft eine freie Hand zur Verfügung stellt:

"[U]nd wie Vampire werden wir kommen, um deinen Durst nach Sex, Blut und Testosteron zu stillen" (S. 422).

Autor/innen-Biografie

L* Reiter

ist Student*in der Medienkulturanalyse/Analyse des pratiques culturelles an den Universitäten Düsseldorf, Wien, Nantes. Von 2012 bis 2014 Redaktion und Lektorat beim Peer-Reviewed Journal SYN. Magazin für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Zurzeit Arbeit an der Masterthesis Transgender Videologs und Technoökologien des Geschlechts.

Publikationen:

–, "Revisionen. Ästhetik des Anfangens und verkörperte Kritik". In: SYN. Magazin für Theater-, Film- und Medienwissenschaft 12, 2016, S. 101–109–/Eva-Maria Kleinschwärzer/Elisabeth Stecker (Hg.): verquer. Relektüren der Abweichung, Berlin u. a.: LIT 2013 (SYN 6)

Veröffentlicht

2016-10-18

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft