Krystyna Duniec/Joanna Klass/Joanna Krakowska (Hg.): (A)pollonia. Twenty-First-Century Polish Drama and Texts for the Stage.
London/New York/Calcutta: Seagull Books 2014. ISBN 978-0-8574-2-178-4. 589 S. DVD. Preis: $ 45,– bzw. ca. € 42,–.
Abstract
Jüngst ist ein wachsendes Interesse an zeitgenössischer Dramatik aus Polen zu beobachten. Davon zeugen neue Publikationen wie Loose Screws. Nine new plays from Poland (2014), … anfangen zu erzählen. Neues Polnisches Theater. Eine Auswahl (2015) oder Personen: Neue Theaterstücke aus Polen (2016) – und nicht zuletzt die Anthologie (A)pollonia. Twenty-First-Century Polish Drama and Texts for the Stage der Herausgeberinnen Krystyna Duniec, Joanna Klass und Joanna Krakowska. Diesen Übersetzungen ist es zu verdanken, dass polnische Theatertexte einem breiteren internationalen Publikum zugänglich werden.
(A)pollonia. Twenty-First-Century Polish Drama and Texts for the Stage präsentiert elf zeitgenössische Theatertexte polnischer Autor_innen in englischer Übersetzung auf nahezu 600 Seiten. Texte wie The Mayor von Małgorzata Sikorska-Miszczuk, Trash Story von Magda Fertacz, No Matter How Hard We Tried von Dorota Masłowska und Small Narrations von Wojtek Ziemilski finden sich darunter. Der Auswahl- und Übersetzungsprozess der Texte gestaltete sich intensiv und aufwendig. So fußt die Entstehung der Publikation auf einem transnationalen Projekt. Involviert waren polnische und US-amerikanische Übersetzer_innen, Autor_innen, Dramaturg_innen, Regisseur_innen sowie Wissenschaftler_innen, die im Rahmen von Workshops die Anthologie maßgeblich mitgestalteten. Ziel war es, aufführbare Übersetzungen für ein englischsprachiges Publikum zu entwickeln.
Charakteristisch für die ausgewählten Werke ist eine ironische, harte, experimentelle und teils slanghafte Sprache. Die Texte greifen sehr individuell die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen in Polen auf und zeigen ein Spektrum an gegenwärtigen sowie vergangenen sozialen und politischen Diskursen. Dabei werden historische Narrative sowie Konstrukte nationaler Identität in Frage gestellt.
Ein Text, der den Gründungsmythos der polnischen Identität herauszufordern versucht, ist (A)pollonia von Krzysztof Warlikowski, Piotr Gruszczyński und Jacek Poniedziałek, der zugleich der Anthologie den Namen gibt. Er behandelt prominente Schlüsselthemen und Konflikte des polnischen Theaters des letzten Jahrzehnts. Er unternimmt eine Analyse von Krieg und diskutiert Begriffe wie Opfer, Verantwortung und Schuld aus vielfältiger Perspektive mit den Mitteln des Dramas. Dabei werden Texte unterschiedlicher Epochen montiert und zueinander in Beziehung gesetzt; darunter Werke von Aischylos, Euripides, J. M. Coetzee, Hanna Krall und Jonathan Littell. Der polnische Regisseur Warlikowski, der kurz nach der Warschauer Premiere (A)pollonia bei den Wiener Festwochen 2009 inszenierte, macht Theater, das 'unter die Haut' geht, so die Herausgeberin und Theaterwissenschaftlerin Duniec. Dieses Anliegen ist auch in weiteren Theatertexten dieser Anthologie zu erkennen.
Die elf Werke arbeiten an der Demystifizierung nationaler Identität und zeigen die Widersprüche in der Darstellung nationaler Interessen auf. Sie untersuchen Kriegstraumata, Antisemitismus, thematisieren reflexiv den Diskurs um die Opferrolle Polens im Zweiten Weltkrieg sowie die ökonomische und gesellschaftliche Transformation nach der politischen Wende 1989. Es sind Tabuthemen wie der Opfermythos Polens, der polnische Katholizismus oder Transgender-Identitäten, mit denen sich die Autor_innen auseinandersetzen und dabei neue ästhetische Fragen sowie Zugänge hervorbringen. Dabei zeichnen sich dramatische und theatrale Innovationen ab.
Reichhaltiges visuelles Material – 35 Schwarz-Weiß Fotografien sowie eine DVD mit ausgewählten Szenen polnischer Erstinszenierungen von fünf Texten dieser Anthologie – veranschaulicht, welchen Sprung das polnische Theater seit Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor (immer noch in den deutsch- und englischsprachigen Theatergeschichtsbänden repräsentativ für 'das' polnische Theater) gemacht hat. Es tritt ein neues polnisches ''poor-pop'' Theater (S. XIII) hervor, so Joanna Klass. Die Herausgeberinnen zeigen mit ihrer Auswahl an Werken und mithilfe des visuellen Begleitmaterials diesen Umbruch im polnischen Theater des 21. Jahrhunderts auf. Sie verweisen auf die derzeit pulsierenden Themen der gegenwärtigen Dramatiker_innengeneration sowie die dramatischen, sprachlichen sowie inszenatorischen Veränderungen.
In ihrer Einleitung legen Duniec und Krakowska die historischen und politischen Kontexte der Dramen dar. Auf einundzwanzig Seiten unternehmen sie den Versuch, die (Kultur-)Geschichte Polens zu erläutern. Dabei werden einige der politischen, religiösen und historischen Sachverhalte der letzten 600 Jahre herausgearbeitet. Bereits in der ersten Zeile tritt das in Polen etablierte historische Narrativ in Erscheinung: ''Polonia was beautiful, proud, and unhappy. She suffered with sublime dignity'' (S. XIV). Zum Vorschein kommt hier jener Mythos nationaler Identität, der auf die Unterdrückung und staatliche Nichtexistenz Polens seit der dritten polnischen Teilung Bezug nimmt. Bezeichnend, dass dieser in einer Anthologie polnischer Dramen des 21. Jahrhunderts noch so präsent ist.
In der Einführung wird die Gliederung der Anthologie in vier Teile erläutert, die in jeweils unterschiedlicher Weise polnische Problematiken verhandeln: "Polin", "Transpolonia", "Postpolonia" und "Lack-of-Polonia". Sie sind mit historischen und nationalen Narrativen verknüpft und stellen begriffliche sowie thematische Bezüge zur jüngsten Geschichte Polens her. "Polin" (Hebräisch für Polen) umfasst zwei Dramen über den Holocaust. "Transpolonia" thematisiert die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland nach 1945. Durch das Prisma des Körpers wird im dritten Teil, "Postpolonia", der gesellschaftliche Wandel seit der politischen Wende 1989 betrachtet. Im vierten, "Lack-of-Polonia", stehen die Bedürfnisse der Jugend sowie polnischer Familien seit dem Übergang zur freien Marktwirtschaft im Fokus.
Gezielt wurde das Augenmerk bei der Auswahl und Übersetzung der Theatertexte auf international Leser_innen gelegt, wobei die Wahrung des ''uniquely polish flavor'' (S. XV) ebenso Priorität hatte. Ob die Herausgeberinnen ihr Ziel, aufführbare Übersetzungen für ein englischsprachiges Publikum zu entwickeln, erreicht haben, bleibt abzuwarten. Es gilt also Ausschau zu halten nach weiteren internationalen Inszenierungen polnischer Dramen der Gegenwart, die in (A)pollonia. Twenty-First-Century Polish Drama and Texts for the Stage enthalten sind.
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