Tobias Conradi: Breaking News. Automatismen in der Repräsentation von Krisen- und Katastrophenereignissen.

Paderborn: Fink 2015. ISBN 978-3-7705-5907-7. 343 S. Preis: € 34,90.

Autor/innen

  • Stefan Sulzenbacher

Abstract

In seiner 2015 publizierten Dissertation untersucht Tobias Conradi die Wirksamkeit von Automatismen innerhalb Repräsentationen von Krisen- und Katastrophenereignissen in bundesdeutschen Nachrichtensendungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Anliegen seiner Arbeit ist es dabei nicht nur, jene Schemata, Stereotypen und journalistische Routinen herauszuarbeiten, durch die Krisen und Katastrophen repräsentierbar werden, sondern eben diese "diskursive[n] Automatismen" (S. 17) zudem einer kulturwissenschaftlich informierten Machtanalyse zu unterziehen. Zu diesem Zweck werden televisuelle Berichterstattungen von ZDF (Heute Journal), ARD (Tagesthemen) und RTL (RTL Aktuell) zum Hurrikan 'Katrina', den London-Anschlägen sowie der verschwundenen Maschine des Fluges AF447 mittels einer Kombination aus Ansätzen der Cultural Studies, der Diskursanalyse und Aspekten von Akteur-Netzwerk-Theorien in den Blick genommen.

Der Charakter einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit zeigt sich nicht zuletzt angesichts der gängigen Unterteilung in einen stärker theoretisch gehaltenen und einen daran anschließenden analytischen Teil. Die durchgehend sorgfältige Strukturierung gliedert den Text dabei in zwölf Kapitel, die argumentativ schlüssig aufeinander aufbauen. So wird im Theorieteil anfänglich in die Forschungsperspektive 'Automatismen' eingeführt und somit der größere Rahmen der Auseinandersetzung benannt (K2). Daran anschließend werden in je eigenen, jedoch thematisch miteinander verbundenen Abschnitten die zugrunde gelegten Konzepte Repräsentation (K3), Diskurs (K4), massenmediale Kommunikation (K5) und Medienereignis (K6) theoretisch erschlossen, ehe ein methodologisches Kapitel anhand der Eingrenzung des Materialkorpus und der Formulierung analyseleitender Thesen fließend in den empirischen Teil übergeht (K7). Die detaillierten Analysen der Einzelereignisse, die ebenfalls je kapitelweise erfolgen (K8–10), werden in einem anschließenden Abschnitt in Hinblick auf diskursive Muster und Schemata in der Repräsentation von Krisen- und Katastrophenereignissen zusammengeführt und verdichtet (K11), ehe im Fazit die Frage nach Automatismen in eben diesen Repräsentationen wieder aufgenommen und somit die konzeptionelle Klammer zum ersten inhaltlichen Kapitel geschlossen wird (K12).

Eben diese konzeptionelle Klammer (und gewissermaßen den Entstehungskontext) der Auseinandersetzung bildet jenes Verständnis von 'Automatismen', wie es seit 2008 vom gleichnamigen Graduiertenkolleg an der Universität Paderborn als Forschungsperspektive verfolgt wird. Unter der Überschrift "Strukturentstehung außerhalb geplanter Prozesse" (S. 33) definiert Conradi Automatismen dabei (K2) als Prozesse, die (1) keiner zentralen Steuerung unterliegen und insofern auf eine Verteilung von Handlungsmacht auf unterschiedliche, unabhängig voneinander beteiligte Akteure (in weit gefasstem ANT-Verständnis) verweisen; (2) aufgrund der Verkettung von miteinander verbundenen Abläufen auf unterschiedlichen Ebenen Selbstständigkeit suggerieren; (3) eng mit Prozessen der Kumulation und Emergenz zusammenhängen und Strukturentstehung als aus Wiederholung resultierende Anhäufung oder aber als Ergebnis von Verdichtung begreifbar machen; (4) durch Bewusstmachung bestimmter Funktionen und Abläufe immer auch die Möglichkeit einer Entautomatisierung bieten.

Gerade die theoretische Auseinandersetzung mit Repräsentationen von Krisen- und Katastrophenereignissen – deren Verständnis als Störungen oder Irritationen von Normalität und Alltäglichkeit durch ein vermeintliches 'Hereinbrechen des Realen' bereits im Buchtitel anklingt – erweist sich vor diesem Hintergrund als besonders vielversprechend. Dem Autor gelingt es damit nicht bloß, diskursive Automatismen (im Sinne von Mustern und Schemata) der Berichterstattung, sondern auch kulturelle Automatismen aufzuzeigen, die gerade in der (regelhaften) Repräsentation von Ausnahmezuständen und Unordnung gesellschaftliche Ordnung stiften. Repräsentation wird im Rahmen der Untersuchung nicht als Widerspiegelung von Realität gefasst, sondern im Anschluss an Stuart Hall als kulturelle und soziale Praxis der Bedeutungsgebung verstanden (K3). Diese "Praxis der stetigen Re-Aktualisierung, Verfestigung und Veränderung einer 'symbolischen Ordnung'" (S. 56) ist dabei weder durch Bedeutungsakte des Sprechens und Verstehens, noch durch prädiskursive Objektivitäten determiniert, sondern wird durch die wechselseitige Bezugnahme von "symbolischer Ordnung und Referenten in einem kontinuierlichen und zirkulären Prozess" (S. 57) als dynamisches Modell konzipiert.

Auch in diesem Zusammenhang wird der Wahl des Untersuchungsgegenstandes erneut Bedeutung zugemessen, scheinen Repräsentationen von Krisen- und Katastrophenereignissen laut Conradi doch bereits "in sich eine besondere Qualität des 'Realen' zu besitzen" (S. 63). An dieser Stelle (K4) erhält das Konzept der Repräsentation durch die Betonung seiner Verknüpftheit mit einem foucaultschen Diskursbegriff eine entscheidende Präzisierung hinsichtlich des angesprochenen Verhältnisses von Diskursivem und Nicht-Diskursivem. Trotz kenntnisreicher und erhellender Exegese vierer theoriegeschichtlich bedeutender Lesarten Foucaults (Clemens Kammler, Hinrich Fink-Eitel, Rolf Parr und Hannelore Bublitz) ist der Anspruch des Autors in diesem Abschnitt weniger eine möglichst klare und eindeutige definitorische Annäherung an einen 'richtigen' Diskursbegriff, denn eine eigene Positionierung bezüglich der Frage nach einer "Grenze des Diskurses" (S. 87) entsprechend des Erkenntnisinteresses der Arbeit.

Da Repräsentationen in diesem Verständnis stets durch Sprache vermittelt Bedeutung erhalten und in Wissensstrukturen eingelassen sind, 'ist' eine Katastrophe nicht einfach eine Katastrophe, sondern wird als Ereignis "erst im Rahmen diskursiver Zuschreibungen, Einordnungen und somit innerhalb des Konnexes von Macht-Wissen-Strukturen erkennbar" (S. 88). Damit ist jedoch keineswegs ein exklusives Verständnis von Materialität als diskursivem Machteffekt aufgerufen, sondern ein etwas zögerliches Zugeständnis an die Macht der Materie formuliert: "Gerade in der Destruktivität von dem, was als Katastrophe bezeichnet wird, scheint sich eine Widerspenstigkeit und Eigenlogik auch von physischer Materialität zu offenbaren" (S. 88), die Diskurse anreizt oder herausfordert. Nachdem weiters detailliert auf diskursive Automatismen massenmedialer Kommunikation anhand des Kodieren/Dekodieren-Modells von Stuart Hall (K5) eingegangen und ein an Matthias Thiele angelehntes Verständnis televisueller Medienereignisse ausgeführt wurde (K6), folgt der ebenso ausführliche Analyseteil der Arbeit.

Auch wenn die einzelnen Analysekapitel von einer äußerst ertragreichen empirischen Auseinandersetzung zeugen, ist es nicht Conradis Absicht, eine Diskursanalyse der drei unterschiedlichen "Großereignisse" (S. 165) mit umfassendem Anspruch vorzulegen. In den Blick geraten also weniger die einzelnen Gegenstände, als vielmehr diskursive Mechanismen und Automatismen, für die der Autor über die einzelnen Fallbeispiele hinaus Gültigkeit beansprucht. Herausgearbeitet wird somit einerseits, wie das Fernsehen, angereizt durch die entsprechenden Vorkommnisse, spezifische Ereignishaftigkeiten repräsentiert und bestimmte Themen und soziale Problemlagen "im Rahmen und in der Rahmung" eben dieser Ereignisse etabliert, verdichtet und weiterschreibt oder auch ignoriert (S. 166). Andererseits werden Prozesse der Abarbeitung der Ereignisse aufgeschlüsselt und Conradi zeichnet nach, wie krisen- oder katastrophenhafte Situationen als überwunden repräsentiert werden, ohne dass "im Rahmen des (imaginierten) Gesamtdiskurses" zu einem dem Ereignis vorausgehenden Ausgangspunkt zurückgekehrt wird (S. 166).

Die strukturellen Charakteristika der Repräsentation von Krisen- und Katastrophenereignissen, die Conradi analytisch bestimmt (K11), sind dabei in eine bestimmte Chronologie der Berichterstattung eingebettet, in der zunächst jene Ordnung problematisiert wird, die vor Eintreten des Ereignisses angenommen wurde und die mit einer parallel laufenden Einordnung spezifischer Problemlagen einhergeht. Daran schließt die Identifikation und Problematisierung relevanter Akteure an, bevor nach Lösungsstrategien gesucht und schließlich eine verschobene und neuartige Ordnung restituiert wird (S. 284). Anhand eben dieser Chronologie perspektiviert Conradi Krisen- und Katastrophenereignisse unter Berufung auf Jürgen Link zunächst als "'Kapitel' in 'mittleren Geschichten'", die den Zeitlauf in ein Davor und Danach ordnen und durch das Zusammenspiel diskursiver Dynamik und Kontinuität an der flexiblen Normalisierung gegenwärtiger Gesellschaften beteiligt sind. Und bevor sich die automatische Klammer mit der Bestimmung von Automatismen in der Repräsentation von Krisen- und Katastrophenereignissen als "elementare Mechanismen der Organisation kultureller Dynamik" (S. 319) schließt (K12), werden auch noch ihre gouvernementalen Aspekte innerhalb von "Un/Sicherheitsregimes" im Sinne eines kontinuierlichen Vorführens von Bedrohungssituationen und der Beteiligung an Problematisierungen gesellschaftlicher Teilbereiche diskutiert (S. 316).

Wie aus dem notwendigerweise fragmentarischen Überblick des Inhaltes evident geworden sein dürfte, liegt mit Breaking News eine äußerst umfangreiche, vielschichtige und dennoch übersichtliche Auseinandersetzung mit diskursiven Mechanismen und Automatismen in der Repräsentation von Krisen- und Katastrophenereignissen auf hohem theoretischen Niveau vor. Die Übersichtlichkeit verdankt sich dabei vor allem dem klaren (wenn auch komplexen) Schreibstil, der stringenten Argumentation und der überaus nachvollziehbaren Strukturierung. Die einzelnen Kapitel – vor allem des Theorieteils – sind dabei auch in sich derart überzeugend gestaltet, dass sie sich teilweise auch als valide Einführungstexte in den jeweiligen Schwerpunkt eignen. Insgesamt ist das Buch allen an Diskursanalyse und televisueller Berichterstattung Interessierten uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen.

Autor/innen-Biografie

Stefan Sulzenbacher

Stefan Sulzenbacher hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft (tfm) und Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert. Das tfm-Studium schloss er mit einer Diplomarbeit zu Männlichkeitskonstruktionen im Spielfilm und in filmischen Paratexten ab. Seit Mai 2015 ist er Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC) und in diesem Rahmen Projektmitarbeiter am tfm-Institut. Seine Forschungsinteressen umfassen Diskurs- und Dispositivanalyse, (mediale) Gouvernementalitätsstudien, Fernsehwissenschaft sowie Gender-Theorien mit Fokus auf Ansätzen kritischer Männlichkeitsforschung.

Publikationen:

aktuell:

–, "Binge-Watching 3.0? (Post-)Televisuelle Remediatisierungen von Männlichkeit". In: medien & zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart, 31 (3), 2016.

Veröffentlicht

2016-10-18

Ausgabe

Rubrik

Medien