Stephan Kurz/Michael Rohrwasser (Hg.): "A. ist manchmal wie ein kleines Kind". Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino.

Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2012. (Manu Scripta 2). ISBN 978-3-205-78746-4. 399 S. Preis: € 39,-

Autor/innen

  • Julia Ilgner

Abstract

Die Wiederkehr seines 150. Geburtstags gab verschiedentlich Anlass für neue Perspektiven auf Leben und Werk des Wiener Schriftstellers und Arztes Arthur Schnitzler. Unter den editorischen Publikationen ist – neben den sukzessiven Veröffentlichungen im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe und Peter Michael Braunwarths Traumtagebuch – das von dem Wiener Neugermanisten Michael Rohrwasser in Zusammenarbeit mit Stephan Kurz kuratierte Projekt um die gemeinsame Kinoerfahrung des Paares Arthur Schnitzler (1862–1931) und Clara Katharina Pollaczek (1875–1951) in den letzten Lebensjahren des Dichters hervorzuheben.

Quellenbasis dieser kinematographischen Beziehungschronik sind zum einen das von Werner Welzig und Braunwarth edierte Tagebuch Schnitzlers (1987–2000), zum anderen die unveröffentlichten Aufzeichnungen Pollaczeks, die diese unter dem Titel Arthur Schnitzler und ich (1932/33) der Wiener Stadtbibliothek (heutige Wienbibliothek im Rathaus) vermacht hat. Deren Handschriftensammlung, die zu den größten Nachlassarchiven des Landes zählt, einer breiteren wissenschaftlichen Leserschaft zugänglich zu machen, ist das Anliegen der noch jungen Böhlau-Reihe Manu Scripta (hg. von Marcel Atze, Julia Danielczyk und Sylvia Mattl-Wurm), als dessen zweiter Titel die Edition erschienen ist.

Forschungsgeschichtlich rührt der Band an ein Interessenfeld der neueren Moderneforschung, das Dichter wie Alfred Döblin, Franz Kafka oder Thomas Mann verstärkt innerhalb der Medienkultur ihrer jeweiligen Zeit perspektiviert. Im Falle Schnitzlers reichen filmhistorische Fragestellungen bis in die 1960er Jahre zurück: Neben vereinzelten Würdigungen zu Lebzeiten durch Wolf Ritscher (1914) und Friedrich Porges (1931) hatte sich vor allem Walter Fritz (1966, 1982) im Zuge der Schnitzler-Renaissance um die Rekonstruktion der Beziehungen zum Film verdient gemacht, die Manfred Kammer (1983) dann systematisch und unter Berücksichtigung des werkgeschichtlichen Kontextes ausführte.

Bedingt durch die Konjunktur psychoanalytischer Ansätze in den 1990er Jahren blieb die notwendige Anschlussforschung aus. Erst mit Sandra Nuy (2000), Claudia Wolf (2006), dem in Kooperation mit dem Film Archiv Austria edierten Sammelband von Thomas Ballhausen u. a. (2006) sowie den Kolloquien von Luigi Reitani (2007) und Achim Aurnhammer (2010) gelang die Synthese mit der aktuellen Schnitzler- und Medienforschung, die im Wesentlichen drei Aspekte umfasst: Schnitzler-Verfilmungen, Schnitzlers Beziehung zu bzw. seine schriftstellerischen Arbeiten für den Film sowie dessen Rezeptionsverhalten als Kinogänger. Letzterem widmet sich der vorliegende Band, indem er für den Zeitraum von 1923 bis zu Schnitzlers Tod 1931 einen vollständigen Wiederabdruck derjenigen Tagebucheinträge bietet, die Aufschluss über seine cineastische Gewohnheiten geben.

Neben dem pragmatischen Vorzug, nun alle relevanten Notate, die bislang in der neunbändigen Tagebuchausgabe vergleichsweise zeitintensiv zu eruieren waren, in einem handlichen und zugleich erschwinglichen Band versammelt zu haben, besticht die Anlage als Doppeledition durch ihren hohen empirischen Nutzwert: Die synoptische Wiedergabe der diaristischen Aufzeichnungen von Pollaczek und Schnitzler wird ergänzt um Auszüge aus zeitgenössischen Rezeptionsdokumenten, in der Regel Filmkritiken aus der Neuen Freie Presse oder Paimanns Filmlisten, die über Handlung, Darstellerleistung sowie die feuilletonistische Einschätzung des jeweiligen Films Auskunft geben. Filmographische Angaben, die Auflösung von Personen- und Ortsnamen sowie gelegentliche Hinweise auf weitere Erwähnungen vervollständigen die editorische Aufbereitung. Auch sind erstmals alle Kinobesuche Schnitzlers mit und ohne Pollaczek in chronologischer Übersicht erfasst, ebenso wie  die frequentierten Orte, die eine kartographische Bestandsaufnahme seiner Kinoleidenschaft im Wien der 1920er Jahre erlauben.

Konzeptionell weist der Band dem editorischen Anliegen die größte Bedeutung zu: Knapp 300 der 400 Seiten umfassenden Studie entfallen auf den Quellenteil, ergänzt um drei Beiträge über Leben und Werk Pollaczeks (Kurz), die Gründe für Schnitzlers Kinoleidenschaft (Rohrwasser) sowie über Modi und Konjunkturen dieser gemeinsamen Rezeption (Werner Michael Schwarz); eindrückliches Photomaterial aus dem Wienmuseum sowie aus dem DLA Marbach komplettieren den Band. Die Parallelisierung der diaristischen Aufzeichnungen Schnitzlers mit den jeweiligen Erinnerungen Pollaczeks leistet dabei zweierlei: Zum einen bestätigt, ergänzt oder korrigiert die 'zweite Zeugenschaft' die Notate Schnitzlers (wobei sich Pollaczek, zumindest was die Filme betrifft, als durchweg zurückhaltende Kommentatorin erweist). Zum anderen gibt sie – jenseits der filmbezogenen Interessen – Aufschluss über die nie ganz öffentlich gemachte Beziehung zwischen Schnitzler und Pollaczek und die letzten Lebensjahre des Dichters. Da sich in der Gegenüberstellung der jeweiligen subjektiven Wahrnehmung das ganze emotionale Dilemma dieser Verbindung offenbart, die in der Forschung kaum Widerhall fand (eine Ausnahme bildet Rey 1966), sei ein kurzer Ausschnitt zitiert: "Ich frage mich wieder, wozu? Nicht ein freundliches Wort, nicht ein Atom von Herzlichkeit. So schleicht man nebeneiander hin." / "Auf der Heimfahrt bekam ich einen Weinkrampf, den A. einfach ignorierte. Diese Abende machen mich krank. Unaufrichtigkeit, Lüge, Kälte zwischen uns." notiert Pollaczek für den 31. Mai und 7. Juni. Am gleichen Tag heißt es bei Schnitzler lapidar: "Heimfahrt wie gewöhnlich; Thränen C. P." (S. 338f.).

Indes ist die biographische von der filmbezogenen Dimension, so zeigt die Lektüre, nicht zu trennen und liefert der Rezeptions- und Einflussforschung ein wertvolles Korrelat: Es sind nicht allein die Begeisterung für die neue visuelle Kunstform und ihre Protagonisten oder das Interesse an altromedialen Erzählverfahren, die den beinahe schon rituellen Kinogang des zeitlebens technisch aufgeschlossenen Autors motivierten. Nicht minder dürften persönliche und soziokulturelle Faktoren gewogen haben: Neben den offenkundigen ökonomischen Interessen am Medium (Schnitzlers Filmeinnahmen überwogen bei Weitem diejenigen seiner Buchverkäufe) spielen der Rückzug vom Theater (und damit aus der Öffentlichkeit) eine nicht unwesentliche Rolle. Angesichts eines zunehmenden Bedürfnisses nach Zerstreuung bei gleichzeitig sich verschlechterndem Gesundheitszustand ist die rezeptionshistorische Auswertung des Filmkonsums mit Vorbehalt anzugehen: "A. fast immer geschlafen." (S. 208) heißt es für den 28. November 1930.

Die Herausgeber verzichten wohlweislich darauf, diese und ähnliche Leerstellen auszudeuten, und geben die auch schon für das Tagebuch charakteristische Relativität mancher Einträge an den Leser weiter: Die Edition versteht sich als Angebot – und das in mehrfacher Hinsicht: Mit den Kinolisten, vor allem aber der synoptischen Wiedergabe von Kritiken auch der abwegigsten Titel, sind die Voraussetzungen gegeben, den 'Filmhorizont' Schnitzlers und seiner Zeitgenossen umfassend zu rekonstruieren. Die begleitende Webdomäne bietet entfallenes Material und zusätzliche Rechercheoptionen, eine digitale Datenbank soll folgen. In der Zeugenschaft Pollaczeks mehr als die Biperspektive auf den berühmten Kinogänger zu sehen, ist das Anliegen der von Kurz reich kommentierten Werkbibliographie, die nicht zuletzt die ironisch-feinsinnige Dichterin hinter der Geliebten sichtbar macht – bisweilen auch in Arthur Schnitzler und ich: "Ich fürchte mich so glücklich zu sein. [...] Abend im Kino. Französischer Film 'Heimliche Sünder' ." (S. 142).

Autor/innen-Biografie

Julia Ilgner

Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft und Philosophie in Freiburg, wo sie derzeit ihre Dissertation über Gattungstransformation im Historischen Roman abschließt (gefördert durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes). Assoziiertes Mitglied des internationalen Promotionskollegs Geschichte und Erzählen und der Graduiertenschule Kultur- und Sozialwissenschaften; Forschungsaufenthalte am KHI Florenz und am DLA Marbach. Mitglied des Nachwuchsnetzwerks Geschichtstransformationen an der Universität Mainz. Ihre Forschungsinteressen liegen historisch-thematisch im 19. Jahrhundert, der Wiener Moderne (insbesondere Arthur Schnitzler), der Gegenwartsliteratur und sowie systematisch im Bereich der Gattungs- und Erzähltheorie, Intermedialität und Rezeptionsforschung.

Publikationen:

(Auswahl)

–, Arthur Schnitzler: Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen. Hg. mit Achim Aurnhammer/HansPeter Buohler/Philipp Gresser und Carolin Maikler. Würzburg 2015 (Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 4. Klassische Moderne Bd. 25).

–, Geschichtstransformationen. Transformations of History. Hg. mit Sonja Georgi/Christine Waldschmidt/Isabell Lammel und Cathleen Sarti. Bielefeld 2015 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften Bd. 24).

–, Ehrliche Erfindungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Hg. mit Svenja Frank. Bielefeld 2017 (Lettre).

–, Ein Wiener "Kinoniter"! Arthur Schnitzlers Filmgeschmack. In: Arthur Schnitzler und der Film. Hg. v. Achim Aurnhammer/Barbara Beßlich und Rudolf Denk. Würzburg 2010 (Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg Bd. 1. Klassische Moderne Bd. 15), S. 135–153.

–, Renaissancismus und Renaissancerezeption bei Arthur Schnitzler. In: Tradition in der Literatur der Wiener Moderne. Unter Mitarb. von Gregor Schima hg. v. Wilhelm Hemecker/Cornelius Mitterer und David Österle. Berlin 2017 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 149), S. 183–219 (im Druck).

Veröffentlicht

2017-05-31

Ausgabe

Rubrik

Film