Evelyn Deutsch-Schreiner: Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart.
Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016. ISBN 978-3-205-20260-8. 351 S. Preis: € 24,99.
Abstract
Zwei wichtige Bezugspunkte im deutschen Theaterleben der 1980er und 1990er-Jahre sind für mich die Münchner Kammerspiele unter der Intendanz von Dieter Dorn und das Wiener Burgtheater in der Direktionszeit von Claus Peymann. Dem ersten verdanke ich vor allem die Erinnerung an die genialen Inszenierungen der Dramen von Shakespeare, die vom Team Dieter Dorn, Jürgen Rose und Michael Wachsman vorbereitet wurden, – dem zweiten die Entdeckung der damals noch selten auf den Bühnen der polnischen Theater gespielten Dramen von Thomas Bernhard und George Tabori. Dabei war es für mich eine interessante Neuheit, dass auf dem Besetzungszettel ein Dramaturg erschien, dessen Funktion und künstlerischer Aufgabenbereich für mich nicht ganz klar waren.
Im polnischen Theater war ein solcher Beruf damals noch nicht bekannt. Es gab die Stelle des literarischen Leiters, aber obwohl dieser einen Einfluss auf Gestaltung des Spielplans hatte, die Funktion des Ansagers erfüllte, für die Erstellung der Theaterprogramme zuständig war und Archive führte, war er an dem künstlerischen Entstehungsprozess einer Theateraufführung eher nicht beteiligt. Im 20. Jahrhundert tauchten in Polen Stimmen auf, die für die Erweiterung der Kompetenzen der literarischen Leiter und eine künstlerische Teilnahme am Inszenierungsprozess plädierten. Nach der Etablierung eines Dramaturgen im polnischen Theater verlangten vor allem Regisseure, die das deutsche Theater kannten (z. B. Leon Schiller, Arnold Szyfman) oder die selbst dort arbeiteten: Ryszard Ordyński bei Max Reinhardt, Konrad Swinarski bei Bertolt Brecht oder Erwin Axer, der oft in österreichischen und deutschen Theatern inszenierte.
Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts herrschte jedoch die Überzeugung, dass einen Theaterregisseur das 'Ethos eines Einzelgängers-Charismatikers' kennzeichne, der keine Unterstützung seitens eines literarischen Experten braucht und sich auf eigene Antworten in den mit der Bühnenadaptation eines Textes verbundenen Fragen verlässt. Erst um die Jahrhundertwende konnte man – unter dem Einfluss der Aufführungen von Gastensembles aus Deutschland bei polnischen Festivals sowie dank größerer Mobilität junger Autoren – eine Zusammenarbeit der Regisseure mit (meist) jungen Dramaturgen beobachten und im Jahre 2002 wurde an der Krakauer Theaterschule die erste Fachrichtung gegründet, die auf die Ausübung dieses Berufs vorbereitet. Ähnliche Änderungen kann man auch in anderen Ländern beobachten, denn das Theater des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr auf regionale Schemata und Systeme begrenzt, sondern es hat sich in eine übernationale Erscheinung verwandelt, wovon der freie Austausch von Autoren, Ideen und Ästhetiken zeugt.
Diese einleitenden Bemerkungen sollen das Spektrum der Rezeptionsskala erläutern, mit dem Evelyn Deutsch-Schreiners Überblickswerk Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart rechnen kann, denn obwohl die Entwicklung dramaturgischer Praktiken im Bereich des deutschsprachigen Theaters ab Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Gegenstand darstellt, können die behandelten Beispiele für das gesamte europäische Theater inspirierend sein.
Obwohl dramaturgische Praktiken in den deutschen Theatern ab Mitte des 18. Jahrhunderts präsent sind, gibt es bisher keine Publikation, die den gesamten historischen Prozess abbildet. Natürlich ist die deutschsprachige Literatur reich an Veröffentlichungen, die den jeweiligen Schöpfern gewidmet sind, an Sammlungen von Texten und Kommentaren zu deren eigener Arbeit. Zum ersten Mal erhalten wir jedoch in unsere Hände ein Buch, das nicht nur die Erscheinung selbst zu erfassen und zu definieren versucht. Es stellt zwölf analytische Portraits von hervorragenden Dramaturgen und Dramaturginnen nebeneinander, die in den vergangenen Jahrhunderten tätig waren. Dies ermöglicht es, die jeweiligen Arbeitsmethoden und den sich ändernden Umfang ihrer Pflichten und Kompetenzen zu vergleichen.
Evelyn Deutsch-Schreiner, die selbst jahrelange Erfahrung als Dramaturgin in Linz und Wien besitzt, verfolgt die Art und Weise, auf die sich der Beruf des Dramaturgen herauskristallisierte, der eine Zeit lang von Schauspielern geringschätzig als 'gelehrter Dilettant' bezeichnet und bis vor Kurzem noch nicht als ein in den künstlerischen Prozess eingebundener Spezialist angesehen wurde. Die Autorin zeigt, dass das Theater seit der Aufklärung – als es zur "bürgerlichen Abendschule" wurde – zur Erfüllung seiner erzieherischen Funktion einen Vermittler zwischen Publikum und Kunstschaffenden, einen "Dolmetscher" für Stücke aus früheren Epochen und anderen Kulturkreisen braucht, der diese auf verständliche Weise für die Bühne zu bearbeiten vermag. Diese Rolle des Vermittlers zwischen dem Theater und den es umgebenden Diskursen, die einen unmittelbaren Ausdruck im künstlerischen Prozess – in der Bearbeitung des Textes und im Laufe der Proben – findet, stellt den Kern des Berufsbildes dar, aber damit sind seine Aufgaben nicht erschöpft. Sie umfassen nämlich auch das Gestalten des Repertoires, die Entwicklung von Bildungsprojekten oder das Kuratieren von Festivals.
Evelyn Deutsch-Schreiner definiert Theaterdramaturgie als: "die künstlerische Verknüpfung von verschiedenen Bausteinen in einem Werk, in einem Theatertext, in einer Inszenierung oder einem performativen Ablauf; darüber hinaus aber auch als die Reflexion über die Wirkungsweisen auf das Publikum in der Aufführung, in gegenwärtiger und historischer Perspektive. Dramaturgie verknüpft künstlerisch Elemente wie Text, Inszenierung, Publikum und Epoche und ist relational und dynamisch." (S. 7) So sehr diese vielfältige Konzeption den Umfang der dramaturgischen Tätigkeiten in historischer Perspektive spiegelt, wird sich der Katalog der Tätigkeiten nicht nur innerhalb der folgenden Epochen ändern, sondern auch von den jeweiligen persönlichen Veranlagungen abhängen.
Die Darstellung der Berufsbildes eröffnet Gotthold Ephraim Lessing, der den Begriff selbst sowie die Funktion des Dramaturgen ins deutsche Theater einführte – eines vielseitig ausgebildeten Intellektuellen, der unabhängig und kritisch handelt. Weitere Arbeitsportraits sind Friedrich Schiller, Joseph Schreyvogel, Arthur Kahane, Bertolt Brecht (I und II), Rainer Schlösser, Kurt Hirschfeld, Heinar Kipphardt, Dieter Sturm, Hermann Beil, Stefanie Carp und Nadine Jessen gewidmet. Als Auswahlkriterium diente der Autorin die Frage, inwiefern die vertretenen Konzepte neue Elemente in den Beruf einbrachten oder dessen Ausrichtung verschoben. Einen maßgeblichen Umbruch vollzogen beispielsweise zweifellos Bertolt Brecht und Stefanie Carp.
Brecht war der erste Theaterkünstler, der dem Dramaturgen zentrale Bedeutung im Gefüge des Theaters zuschrieb; er führte eine Meisterklasse für Dramaturgen und machte sie zu persönlichen Mitarbeitern des Dichters/Regisseurs, indem er ihnen das Recht einräumte, in Texte und Inszenierungen aus ideologischer und sozialer Perspektive einzugreifen. Er profitierte übrigens selbst von dieser Zusammenarbeit, indem er die Texte junger Dramaturgen und insbesondere junger Dramaturginnen in eigene Werke einband.
Stefanie Carp wiederum, die prototypische dramaturgische Lösungen für die von der Abhängigkeit vom Dramentext befreiten Aufführungen schuf, begann nach langjähriger Erfahrung in Theaterensembles als wahrscheinlich erste unabhängige Dramaturgin zu arbeiten und fand für diesen Beruf neue Organisationsstrukturen, Festivals und interdisziplinäre Projekte.
Nach jedem Arbeitsportrait wird ein kurzer Primärtext wiedergegeben, der die jeweiligen dramaturgischen Positionen ausgezeichnet veranschaulicht. Am Ende des Buches befindet sich eine umfangreiche Bibliographie, die bei der Vertiefung des Themas hilft und auch unbekanntere Quellen aufzufinden erleichtert. Der Band ist in der Serie Böhlau Studien Bücher – Grundlagen des Studiums veröffentlicht und wird sich gewiss als ein Handbuch nicht nur für zukünftige Dramaturgen bewähren, sondern für alle, die ihre Zukunft mit Theater verbinden wollen. Sobald dieser typisch deutsche Beruf des Dramaturgen sich auch in anderen europäischen Theater etabliert, werden sicherlich auch ausländische Leser Interesse an dieser Publikation finden.
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