Ronald M. Hahn, Rolf Giesen, unter Mitarbeit von Volker Jansen: Das neue Lexikon des Horrorfilms. 2000 Filme von Dracula bis Monster AG, von Freitag der 13. bis Scream. Alles über die dunkle Seite des Kinos.

Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002. ISBN 3-89602-507-4. 780 S., zahlreiche s/w Abbildungen. Preis: € 30,80/sfr 52,20. -

Autor/innen

  • Andrea B. Braidt

Abstract

"Seit Bestehen des Kinos, seit 1898 eine Riesenfledermaus in Georges Méliès' Le Manoir du Diable flatterte und sich in Mephistopheles verwandelte, hat der Horrorfilm zahlreiche Metamorphosen durchgemacht. Sie alle sagen etwas über die Zeit aus, in der das jeweilige Produkt entstanden ist, und über den (Geistes-)Zustand der Zuschauer, der sich aus christlich verbrämter Mystik, unbefriedigten sexuellen Albträumen, postpubertären Gewissensbissen und einer ungesunden Portion Sadomasochismus zusammensetzt. [...]

Können wir am Ende auch hinter eingefleischten Slasher-Fans und anal gehemmten Gore-Apologeten verhaltensgestörte Videokids vermuten, die (Gott sei Dank!) nicht den Mut zur Tat haben (mit seltenen Ausnahmen, zu denen auch das Massaker von Erfurt gehört)? So oder so, das Genre steckt in einer Sackgasse."

Dieses ausführliche Zitat aus der Einleitung des "neuen Horrorfilm Lexikons" weist auf die besondere Stärke und zugleich auch Schwäche des Buches hin: Einerseits ist das Lexikon um eine sehr brauchbare Historisierung des Genres bemüht und trägt so zur Erhellung der Filmgenregeschichte bei; andererseits halten die Autoren mit ihrer Verachtung für das eigentliche Zielpublikum des Genres (das wohl auch die hauptsächliche Zielgruppe für ihr Lexikon darstellt) nicht hinterm Berg: und das nicht nur in der vierseitigen Einleitung, sondern in einem Gutteil der über 1800 Filmbesprechungen.

Die Entstehungsgeschichte des Lexikons ist bei der Lektüre (bei der Benutzung) zwischen den Zeilen lesbar: 1985 erschien die erste Auflage des Buches, damals von Hahn und Jansen verfasst. In einer Zeit, in der die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Genre noch zum großen Teil den Afficionados überlassen wurde, und filmwissenschaftliche Anthologien (etwa Barry Keith Grants The Dread of Difference ) oder einführende Genreüberblicke (etwa Paul Wells' The Horror Genre aus der Short Cuts Serie) noch eine Dekade weit entfernt waren, schien das Hahn'sche Lexikon wahrscheinlich gar nicht so unangemessen: Die Filmbesprechungen fokussierten vor allem die Filme aus der Entstehungszeit des Genres und ließen den "menschenverachtenden Schund" (aus der 1985er Einleitung), also vor allem Splatter- und Horrorfilme neueren Datums, außen vor. Es entstand das Bild eines Genres, das sich durch seine Klassiker konstituiert und durch sie auch gewissermaßen seine Grenzen erfährt. Die zeitgenössischen (postmodernen) ästhetischen Diskurse sollten – ginge es nach den Autoren – nichts mit der Kunst von Lon Chaney, Bela Lugosi oder Conrad Veidt zu tun haben. Deshalb wurden Filme nach 1960 entweder gar nicht aufgenommen oder im Lexikoneintrag gelinde gesagt verrissen.

In der hier besprochenen Auflage aus 2002 wurde zwar der Umfang des Lexikons erheblich erweitert, das grundlegende Genrekonzept und die Werteperspektive, aus der die Besprechungen verfasst werden, änderten sich jedoch nicht. Was besonders skurril anmutet, ist die vollständige Ignorierung der in den Filmwissenschaften mittlerweile gut etablierten Horrorfilmforschung. Dadurch verabsäumen die Autoren die für gerade diesen Filmkorpus so wichtige Kontextualisierung mit komplexeren kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen. Denn auch in den im Lexikon enthaltenen Textbeiträgen zu wichtigen Motiven des Genres (wie "Dracula", "Frankenstein" etc.) bzw. zu genrebestimmenden Personen geben sich die Autoren mit positivistischer Faktensammlerei zufrieden und bleiben weit hinter einer Einbindung des kulturhistorischen Umfelds des Genres zurück.

Ein Beispiel: Der Eintrag zu Hitchcocks Psycho , ein paradigmatischer Film des Genres, besteht nahezu gänzlich aus einer Inhaltsnacherzählung. Lediglich der letzte Absatz beschäftigt sich kurz mit der Produktionsgeschichte des Films und informiert über die formidablen Umsätze, welche der so billig (u.a. weil s/w gefilmte) produzierte Film zu machen imstande war. Der für die Filmgeschichte und jene des Horrorgenres wirklich wesentliche Aspekt von Psycho ist aber jener der ZuschauerInnendisziplinierung: Hitchcocks 1960 fertig gestellter Film war einer der ersten Filme, die nicht in der Form der Non-Stop-Vorstellung ins Kino kamen, sondern den die ZuschauerInnen von Anbeginn sehen mussten. Die Kinos wurden ab Sekunde eins der Projektion geschlossen, zu spät Kommende durften nicht mehr in die Vorstellung (da sie, so Hitchcock in seinen Psycho -PR Filmen, dadurch des ultimativen Schockerlebnisses des Films – die Protagonistin wird bekannterweise nach 30 Filmminuten brutal ermordet – beraubt werden würden). Die Konsequenzen dieser eigentlich als PR-Gag intendierten Disziplinierungsmaßnahme waren nicht unerheblich: Plötzlich gab es vor den Kinokassen Menschenschlangen wartender ZuschauerInnen. Was heute selbstverständlich ist, nämlich die Rezeption eines Kinofilmes von Anfang bis zum Ende, und nicht im Non-Stop-Modus, wurde (u.a.) durch jenen Film initiiert, welcher als der Beginn des "modernen" Horrorfilms gilt, jener Film, der das Grauen "nach Hause bringt", der das Monster im "boy next door" entdeckt. In einem Horrorfilmlexikon auf derartige Kontextualisierungen zu verzichten, bedeutet die Relevanz des Genres für die Filmgeschichte zu übersehen. Was wunder, wenn die Autoren zum eingangs zitierten Befund kommen, dass der Horrorfilm in einer Sackgasse steckt. Nachvollziehbar wurde dieser Befund – zumindest für die Rezensentin – nicht.

Literatur:

Grant, Barry Keith. The Dread of Difference : Gender and the Horror Film . 1st ed, Texas Film Studies Series . Austin: University of Texas Press, 1996.

Wells, Paul. The Horror Genre. From Beelzebub to Blair Witch , Short Cuts. Introductions to Film Studies . London: Wallflowers, 2000.

Autor/innen-Biografie

Andrea B. Braidt

Studierte Amerikanistik und Medienkunde/Gender Studies in Innsbruck und Lancaster (G.B.) und Filmwissenschaften an der University of Newcastle-upon-Tyne (G.B.). Ihre Forschungsschwerpunkte sind feministische Filmtheorie, Genretheorie und queer (film) theory. Junior Fellowship am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien (2001-02), Gastprofessorin am Gender Studies Department der Central European University, Budapest (2003-2004). Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am TFM | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien.

Publikationen:

Bücher (Auswahl):

Andrea B. Braidt/Monika Bernold/Claudia Preschl (Hg.), Screenwise. Film Fernsehen Feminismus, Marburg: Schüren 2004.

–/Monika Meister/Klemens Gruber (Hg.), Mit Freud. Zur Psychoanalyse in Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Maske & Kothurn, Wien: Böhlau 2006.

–, Film-Genus. Gender und Genre in der Filmwahrnehmung, Marburg: Schüren 2008.

Veröffentlicht

2005-06-23

Ausgabe

Rubrik

Film