Gabriella Giannachi: Archive Everything. Mapping the Everyday.

Cambridge/London: MIT 2016. ISBN: 9780262035293. 240 S. 56 s/w Abbildungen. Preis: € 41,99.

Autor/innen

  • Doris Posch

Abstract

Gabriella Giannachis jüngste Publikation Archive Everything (2016) ist weniger eine historische Abhandlung der Entstehungsgeschichte des Archivs als Sammlungs- und Dokumentationsstätte als vielmehr ein aktives Verhandeln des Archivierens als Praxis, die in die Alltagskultur einfließt und von der partizipativen User_in mitgeneriert wird. In fundierten transdisziplinären Fallstudien legt die Autorin ein überzeugendes Plädoyer zu einem gegenwärtigen Archivverständnis von "Everything" im "Everyday" vor, das gleichermaßen an Museums- und Medientheoretiker_innen sowie Kurator_innen gerichtet ist.

Archive Everything zeichnet sich insbesondere durch den Untertitel "Mapping the Everyday" aus, wo sich die Definition des Archivs in allem, überall, allerorts und für alle erschließt. Die Evolution des Archivs ist der Dimension des Alltags, des Alltäglichen, und allem voran der Partizipation im digitalen Zeitalter zuzuschreiben. Folglich ist Archive Everything weniger bemüht, eine einheitliche Gesamtthese zum archäologischen und etymologischen Konzept des Archivs vorzulegen, als vielmehr historisch aufzuzeigen, inwieweit Archive an Geschichtsschreibung beteiligt sind und wie sie die Formation historischer sowie gegenwärtiger Wissenskulturen mitverantworten.

Basierend auf historischen Nachzeichnungen von Bedeutung, Form und Stellenwert des Archivs, wird der Archivbegriff nicht nur innerhalb von artefakts- und ortsspezifischen Parametern (Kapitel 1), sondern ebenso auf Plattformen sozialer Medien, in digitalen Live Archiven und Settings von mixed realities verhandelt. Im Zuge der Entwicklung neuerer Technologien und (digitaler) Praktiken sind Giannachis These zufolge zwei Tendenzen zu beobachten: zum einen sind die Funktionen des Archivs diverser geworden, zum anderen werden Alltagspraxen und -erfahrungen zunehmend relevant für die Skizzierung hybrider Archivformen (innerhalb kultureller Ausdrucksformen). Der Annahme folgend, ein eindeutiges Erfassen des Archivierens als Praktik der Herstellung, Verbreitung, Aufzeichnung und Konservierung in seinen Dokumentationswegen und -stätten sei grundsätzlich verunmöglicht, wird das Archiv aus einer transformatorischen Perspektive erörtert: die Entstehungsgeschichte des Archivs ist als eine stets unabgeschlossene Entwicklungsgeschichte zu denken, welche in aktivem Zusammenhang mit der Praxis des Archivierens steht. Dieser Auffassung legt die Autorin eine inhärente Absage an eine singulardisziplinäre Abhandlung von Archiv(geschichte) zugrunde. Sie unterscheidet plausibel zwischen Archiv (als Subjekt) und Archivieren (als aktives Verb, das Agierende einschließt) und differenziert so zwischen einem Archiv als eine Vielzahl von Objekten und einem Archiv, das als ein wissensgenerierender Prozess wirksam ist. Infolgedessen versteht sich die Praxis des Archivierens zunehmend als Wissensaustausch mit den handelnden Akteur_innen und verantwortet mithin eine tragende Rolle der Wissensübersetzung, zumal diese insbesondere mit der partizipativen Position der User_in als Mitgestalter_in interagiert und im Weiteren performt wird.

Die Ausweitung des Archivverständnisses bezieht sich gleichermaßen auf temporäre Erfahrungswelten, wo flüchtige Gedächtnislabors und materielle Artefakte in ihrer verschränkten Dimensionskraft gleichgestellt sind. Das Archiv wird vorrangig in Wechselwirkung mit umwelt- und marktökonomischen Faktoren betrachtet und als relationaler Apparatus verstanden, der uns (User_innen) ein Mapping der alltäglichen Erfahrung und des Alltags schlechthin ("Everyday") ermöglicht. Daraus folgend ist das Archiv aus gegenwärtiger Sicht nicht nur als eine herkömmliche Objektsammlung, sondern als eine Wissensform zu fassen, aus der soziale Verantwortung resultiert. An dieser Stelle wird die in postmodernen Ansätzen vielzitierte foucaultsche Auffassung gewandt fortgeführt, dass die Absolutheit von Systemen grundsätzlich inoperabel sei, da diese aus einer Reihe von heterogenen Praktiken (Institutionen, Wissenskörper, Maßnahmen) zusammengesetzt sind und fortdauernd in Relation mit menschlichen Denkens- und Handlungsprozessen stehen.  

Dieses fragmentarische und von verschiedenen Standpunkten aus entstandene Ordnungsprinzip wird auf drei Ebenen dargestellt, die insgesamt einen überzeugenden Gesamtrahmen für Archiv-, Museums- und Geschichtswissenschaften sowie Kurationspraxis bilden: Neben historischen Skizzen und einer theoretischen Fundierung wird eine Vielzahl an Fallstudien aus diversen Feldern herangezogen, die in mehrjähriger fundierter Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Kunst- und Dokumentationsinstitutionen entstanden sind. In Kapitel 2 werden beispielsweise (miteinander) verschränkte hybride Archivarbeiten anhand ihrer Ortsspezifik, Medienarchäologie (in Anlehnung an Michael Shanks) und diverser archäologischer Methoden intersektional analysiert: Lynn Hershman Leeson's filmische Arbeit !Women Art Revolution (2010) wird mit RAW/WAR, einer user_innengenerierten Praxis des Archivierens (als Liveblog und interaktive Installation) und der artefaktsspezifischen Archivarbeit !W.A.R (Archiv des Footagematerials) parallelgelesen. Diese Analyse veranschaulicht zum einen vierzig Jahre feministische Bewegung und Formulierungen feministischer Perspektiven in den USA zu unterschiedlichen Zeitpunkten und verweist zum anderen auf die Kernaussage des Buches, inwieweit diese Formulierungspraxen anhand diverser Medien nicht nur dokumentiert, sondern gleichzeitig mitgeneriert werden. Zahlreiche Abbildungen untermauern diese prägnant transdisziplinäre Analyse und verweisen anschaulich auf das jeweilige historische kultur- und gesellschaftspolitische Veränderungspotenzial (vgl. S. 120). Diese reichen inhaltlich-thematisch von Judy Chicago und Ana Mendieta, über die Guerilla Girls und medial von Graphic Novel-Auszügen bis hin zu Posters und Installationsshots beim Sundance Film Festival.

Das von Agamben benannte inhärente Potenzial des Archivs und dessen diskursive Ebene nimmt in Giannachis Darstellungen des kulturellen/öffentlichen Gedächtnisses und dessen Repräsentation eine neue Wendung: das Museum wird zum Ort der "embodied architecture", wo die Gedächtnisarchitektur als kollektive Autobiografie (S. 91) ausgearbeitet ist. Das digitale Archiv fungiert weniger als archäologischer Ort denn als Wissensmediatorin und als Ort sozialer/kultureller Gedächtnisproduktion in und durch alltägliche/n Strukturen (Kapitel 3). Dieser Ort hat als 'Distributed Archive' stets epistemologischen Charakter. Innovativ ist die Erkenntnis, wie Diaspora Archive (Kapitel 4) den Wissenstransfer und dessen Bewahrung einfordern können, ohne zwangsläufig auf de facto vorhandenen Dokumentationsbestand zurückgreifen zu müssen – wie etwa Oral History, die durch Performancekunst weitergegeben wird. Folglich hat das postulierte Transformationspotenzial auch bei Nichtvorhandensein von Dokumenten oder Artefakten Bestand (vgl. S. 94).

Giannachi lotet das kulturanthropologische und -geografische Konzept des Mappings mit Rückgriff auf postkoloniale Kritik (Guha, Pratt, Spivak) schlüssig aus und macht auf die Kontroverse von nicht partizipatorisch kuratierter Archivarbeit und kultureller Übersetzbarkeit (Bhabha, S. 108) sowie die damit verbundene Aussparungsproblematik (Srinivasan) aufmerksam. Kritisch anzumerken wäre allerdings, dass die Autorin die Präsentation von "cultural origin" (S. 93) im Kontext digitaler Displays durchwegs eng fasst, obgleich die drei eingehend recherchierten Fallstudien reichhaltigen Aufschluss über den vielversprechenden Einsatz hybrider Praxen geben – insbesondere was die Ausstellung und Interpretation von Archivmaterial durch Rekontextualisierung (S. 113) betrifft. Auch ein historischer Rückgriff auf die koloniale Archivgeschichte seitens des Diaspora-Archivs wird nicht ausführlich erörtert, ebensowenig die Frage nach einer begrifflichen Bestimmung und Neuverhandlung eines sogenannten kulturellen Erbes, ein Aspekt, der gerade im Zuge von diasporischen (Wissens-)Transfers von erheblicher Bedeutung wäre.

In den letzten beiden Kapiteln (5 und 6) wird das Versprechen der historisch tragenden Rolle des Archiv(ieren)s als Praxis eingelöst, indem plausibel erläutert wird, wie Akteur_innen sowie soziale Gefüge sich selbst sowohl durch als auch mittels eines weit gefassten sozialen Gedächtnisapparatus verwalten. Dabei geht Giannachi dem Zukünftigen von (Kunst-)Archiven detailreich auf den Grund. Das Archiv fungiert somit als führender Apparatus der Alltagsvermessung, wobei User_innen durch die Erweiterung ihrer Handlungsräume und -kompetenzen zunehmend zu Urheber_innen/Erzeuger_innen werden – eine Debatte, die etwa durch Beispiele zu "transgenetic art" pointiert ausgeführt wird (S. 165).

Obgleich sich die Analyse der partizipativen Wissenstransformation gegenwärtiger Archivpraxis mit unterschiedlichen Ausstellungskontexten und Dokumentationsarchiven in geografisch und geopolitisch weitgefassten Settings befasst, kann der Einwand vorgebracht werden, dass diese vornehmlich ein fachkundiges Zielpublikum adressiert. Der vermeintlich transglobale Blickwinkel des "Everyday"-Verständnis wird auf einer verhältnismäßig homogenen Bildfläche verhandelt: Zwar inszeniert das Archiv des "Everything" und "Everyday" ebenfalls ein Archivformat, das inhaltsentleert ist (S. 182), die Problematik all dessen, was (aufgrund einer existenten globalen Schieflage an medialem Zugang) nicht archiviert worden oder nicht archivierbar ist, bleibt allerdings größtenteils als Leerstelle bestehen. Der Alltagsbegriff wird innerhalb eines äußerst medial/digital vernetzten Raums verhandelt, was nicht nur die anfangs aufgegriffene Brüchigkeit einer (Archiv-)Geschichtsschreibung aufzeigt, sondern diese bedauerlicherweise zeitgleich weiter festigt – ein Vorgang, der im selben Maße auch Foucault zum Vorwurf gemacht wurde. Giannachis Ausführungen kulminieren in sogenannten "(A)live Archives", deren Prämisse auf performativen Körpertopographien besteht, die posthuman (S. 153), vernetzt und in sich hybrid sind und in ihrer agency, neue Wissensgenerierung zu erschaffen, eine bemerkenswerte Dimension für Datenbankästhetik, Digitalökonomie und Performancedokumentation abdecken. Die Stärke des Buches liegt demzufolge im Bündeln der Vielheiten, das dem Verständnis von "Archive Everything" zugrunde liegt.

Autor/innen-Biografie

Doris Posch

Studien der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Romanistik und Critical Studies in Paris, Wien, Montreal und Brüssel. 2015–2016 Visiting Scholar an der New York University (USA) und Concordia University (Kanada). Derzeit Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Publikationen:

(Auswahl)

 "The Black Spring May Or May Not Be Mediatized. Global Curatorship of African Filmmakers on the Move". In: Critical Interventions, Journal of African Art History and Visual Culture (forthcoming 2017).

"The Gaze, Everyday Life and Oral Storytelling. Documentary Filmmaking in Haiti between the Local and the Global". In: Dynamiques culturelles dans le cinéma africain du XXI siècle. Acteurs, formats, réseaux / Cultural Dynamics in the African Cinemas of the 21st Century. Actors, Formats, Networks. Hg. v. Ute Fendler/Christoph Vatter. Saarbrücken: universaar 2017 (in Druck).

 "Emerging film cultures. Spotlight on post-disaster Haiti". In: International Journal of Cultural Studies, 04/2017, S. 1-15.

"The Jollywood Manifesto. Trans-local Film Cultures in Haiti's Emerging Cinemas". In: Media: Theory and Practice. Култура /Culture/Kultura, 10/12 2015, S. 157-171.

 "The Postcolonial in science fiction film theory and analysis. Contact zones and its hybrid translations in Aningaaq and Gravity". In: Performing Translation. Schnittstellen zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft. Hg. v. Werner Hasitschka. Wien: Löcker 2014, S. 252-271.

Veröffentlicht

2017-11-15

Ausgabe

Rubrik

Medien