Henning Wrage, Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960 Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen.
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, ISBN 978-3-8253-5502-9. 417 S. Preis: 58 €,-.
Abstract
Im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls werden die Sedimente der DDR-Geschichte weiter abgetragen. Manchmal handelt es sich mittlerweile auch um neue Aufschüttungen, die sich zu Schuttbergen türmen, in denen die Stücke und das Gerümpel der Geschichte poliert oder zerfetzt werden. Je nach dem. Henning Wrages sorgfältige und eloquente Studie steigt in diese Arbeit an der Geschichte ein.
Gleich zu Beginn (S. 1f.) stellt er nahezu verwundert eine der zentralen Fragen seiner Kulturgeschichte, nämlich wie die "systematische Inhaftierung eines ganzen Landes" am 13. August 1961 von den Künstlern dieses Landes als Aufbruchssignal begrüßt werden konnte. Die Bejahung sei ein Akt isolationistischer Hoffnung gewesen, um am Aufbau des Sozialismus und seiner Kultur arbeiten zu können. Die in der Tat einsetzende kurzzeitige Milderung des parteilichen Kontrollanspruchs und des freizügigen Gewährens währte nur kurz. Mit dem berüchtigten 11. Plenum 1965 wurde die angenommene "echte Kunstfreiheit" erneut stranguliert. Henning Wrage konzentriert sich auf die Periode der sechziger Jahre und versucht anhand dreier wichtiger Medien jener Zeit - Literatur, Film und Fernsehen - die Binnenlogik des kulturellen Diskurses, die "Denkwirklichkeiten" (Hans Mayer) zu rekonstruieren und zu sezieren. Für den Autor ist dies nach eigenem Bekunden die "vielleicht interessanteste Phase der Kulturgeschichte der DDR", was sich in den Werken jener Zeit zeigt, denen er eine verblüffende Kohärenz ihrer Geschichten attestiert.&
Wrage arbeitete sechs Jahre lang im DFG-Forschungsprojekt "Programmgeschichte des DDR-Fernsehens" in dem Schwerpunkt Literaturverfilmungen. Die jetzt hier vorgelegte, außerordentlich kenntnisreiche Arbeit ist in dieser Zeit entstanden. Wrage widmet sich in seinen ausgewählten Einzelanalysen vor allem damaligen Gegenwartsstoffen. Kriterien seiner Auswahl waren die Bedingungen, dass diese Werke wichtige Debatten auslösten oder an die Grenzen des diskursiven Geheges stießen oder auch verboten wurden. Allen Werken ist gemeinsam, dass sie Maßstäbe setzten. So entsteht ein illustres Bild jener "Denkwirklichkeiten", das von Christa Wolfs frühen Arbeiten bis hin zu dem verbotenen Fernsehfilm Monolog für einen Taxifahrer reicht. Wrage gliedert seine Studie in drei große mediale Abschnitte: Literatur, Film und Fernsehen. Das macht Sinn, entstanden doch in allen drei Bereichen höchst interessante, innovative und moderne Formate, um der großen Erzählung ausdrucksstarke Formen zu geben. Eine Stärke seiner Analyse liegt in der komparativen Herangehensweise. Der Autor vergleicht die narrative Essenz der verschiedenen Werke und arbeitet Interdependenzen, Parallelen und Spezifika heraus.
In seiner theoretischen Argumentation setzt Wrage auf mehrere Ansätze. Im Kapitel 2.2. über DDR-Theorien referiert der Autor zunächst drei Modelle, um DDR-Kultur und -Gesellschaft zu erklären: Die 'traditionelle' instrumentalisierungstheoretische Position, Bourdieus distinktionssoziologische Theorie des literarischen Feldes und die Systemtheorie. Der Autor diskutiert souverän diese Ansätze historisch und theoretisch, aber letztlich auch im grellen Licht heutiger politischer Dispute und verweist auf die Grenzen dieser Ansätze. Wrage ist hier eine sehr fundierte Diskussion zu Theorien über die DDR gelungen, die weit über sein Themenfeld hinausgeht. Hier ist vor allem die Diskussion totalitarismustheoretischer Annahmen hervorzuheben. Die Anwendung des umstrittenen Begriffs auf die geschlossene, kleinbürgerliche DDR-Gesellschaft beschwört unsägliche Analogien zum Dritten Reich herauf. Es bleibt ein Minenfeld im Diskurs der deutschen Geschichtswissenschaft. Wrage gelingt es jedoch, diesen Ansatz systemtheoretisch für sein Untersuchungsfeld zu funktionalisieren und einen interessanten Erkenntnisgewinn für sein Thema daraus zu formulieren, nämlich dass dem totalen oder umfassenden Sinnversprechen dieser Gesellschaft eben auch die Eigendynamik individuellen Handelns zugehörig ist, aber auch entgegensteht. Die künstlerischen Akteure waren somit nicht nur einem generalisierenden Sinnversprechen emphatisch zugewandt, sondern auch ausgesetzt. Die Kunst muss sogar um ihrer Selbst willen sich als das Andere positionieren - eine nahezu groteske Prozedur, die dieses kulturelle Feld mit einer hohen Ambivalenz ausstattet. Auf der Suche nach eindeutigen Zuweisungen vernachlässigen heutige Aufarbeitungsapparaturen oftmals diese Ambivalenz. Wrage diskutiert diese Aspekte sehr ausgewogen.
Sein Literaturkapitel beginnt mit einer Kontextualisierung der Literaturentwicklungen der fünfziger und sechziger Jahre, für die er drei prägende Dispositive sieht: den Bitterfelder Weg, den Mauerbau sowie das Auftauchen einer Schriftstellergeneration der um 1930 Geborenen, die das Dritte Reich als Kindheitsmuster erfuhren. Florian Illies hat kürzlich in der Zeit auf die verblüffende Präsenz des Jahrganges 1929 in der neueren deutschen Geistesgeschichte hingewiesen: "Es ist ein Jahrgang, der Glück hatte und dies auch wusste, es ist die ‚Gnade der späten Geburt’ (Günter Gaus, Jahrgang 1929). Und der deshalb die innere Stabilität und Kraft hatte, immer aufs Neue die ungenutzten Möglichkeiten, die unerforschten Wege, die großen Herausforderungen zu sehen (des Romans, der Lyrik, der Geschichte, des Menschen, der Moderne). [...] Dieser Jahrgang will trotz der ungeheuren Erschütterungen, die er in seiner Kindheit erlebt hat, das 'Dritte Reich' nicht als Sicht- und Lärmschutzwand zur Vergangenheit akzeptieren. Deshalb der unermüdliche Kampf um das Anknüpfen an ein Ideenkontinuum, das bis nach Athen reicht [...]." [1] Dieser Generationsfaktor ist in der Bundesrepublik wie in der DDR gleichermaßen zu beobachten, mit solchen Protagonisten wie Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, Peter Rühmkorf, Walter Kempowski, Christa Wolf, Heiner Müller, Günter Kunert oder auch Günter Grass (Jg. 1927). Ihnen ging es immer auch um das Freilegen aufklärerischer Traditionslinien.
Für alle drei Bereiche verdeutlicht Henning Wrage anhand seiner Einzelanalysen die Thesen zum Spannungsverhältnis von "Großer Geschichte" und individuellem Glücksanspruch. Für die Literatur sind dies u. a. Karl-Heinz Jakobs’ Beschreibung eines Sommers (1961), frühe Werke von Christa Wolf wie Der geteilte Himmel (1963), Franz Fühmanns Kabelkran und Blauer Peter (1961) und Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963). Analog dazu verfährt der Autor auch mit den anderen Untersuchungsbereichen. Er kontextualisiert das Medium DEFA-Film und exemplifiziert seine Thesen anhand einiger Produktionen, wie den verbotenen Filmen Berlin um die Ecke (1965, Regie: Gerhard Klein, Autor: Wolfgang Kohlhaase) und Denk bloß nicht, ich heule (1964/65, Regie: Frank Vogel) sowie die Verfilmung von Beschreibung eines Sommers (1962, Regie: Ralf Kirsten). Für das Fernsehen, dessen Kontexte ebenfalls ausführlich dargestellt werden, analysiert der Autor den Fernsehroman Gewissen in Aufruhr (1961, Regie: Hans-Joachim Kasprzik, Günter Reisch), die sehr ambitionierten, stigmatisierten und hoch artifiziellen Produktionen von Günter Stahnke und Günter Kunert Monolog für einen Taxifahrer (1962) und Fetzers Flucht (1962) sowie die Fühmann-Adaption Helling, Kabelkran und Kai (1962, Regie: Hugo Herrmann).
Wrage gelingt es in allen Fällen, die provozierenden, ambivalenten und dialektischen Potentiale dieser Werke herauszuarbeiten. Hervorzuheben ist ebenfalls die werkanalytische Sorgfalt des Autors, der mit den Fallstudien ein gutes Beispiel - auch im didaktischen Sinne - dafür liefert, wie eine gründliche Film- und Literaturanalyse aussehen kann.Allerdings schießt der brillant formulierende Autor an einigen Stellen über das Ziel hinaus. So wird z. B. die Antennenzerstörungsaktion "Ochsenkopf" bei ihm zu einer "quasiterroristischen" Handlung (S. 262). In diesem Sprachgebrauch zeigt sich neben einem sehr unbefangenen und durchaus erfrischenden Duktus ein teilweise pop-zeitgeistiger Sprachstil, der sich inhaltlich oft auch dem gängigen historischen Bewertungsmainstream unterordnet. Im sorgfältig arrangierten Fakten- und Diskurspuzzle des Autors wirken solche polemischen Pirouetten manchmal aufgesetzt. An einigen Stellen des Buches hält der Leser so inne und stutzt. Aber vielleicht ist dies auch eine neue Art des Textmarkings.
Das Verdienst Henning Wrages ist es, nicht nur eine Lesart künstlerischer Produkte aus der DDR anzubieten, die für die bundesrepublikanische Rezeption kompatible kommunikative Oberflächen bereit hält, sondern die sich dem utopischen Entwurf einer auch aus Schuld und Scham erwachsenen Gesellschaft widmet, die letztlich zweieinhalb Jahrzehnte später unspektakulär, aber folgenreich scheitert.
Ein paar Bemerkungen zum komparativen Anspruch seien an dieser Stelle noch vorgetragen. Das vergleichende Prinzip verfolgt Henning Wrage durchaus stringent, wenn er die narrativen Strukturen der Werke betrachtet. Ergänzend hätten sich bei den Werkbeschreibungen noch mehr Analogien zur bundesdeutschen oder europäischen Filmentwicklung formulieren lassen, wie das Wrage beispielsweise am Beginn des Kapitels 5.2. (S. 277) tut, in dem er DDR-Produktionen in Beziehung zu Umgelters WDR-Produktion Soweit die Füße tragen (1958/59) setzt. Damit wäre es möglich, die Entwicklungen auch in ihr globales Umfeld einzubetten. Auch in Westeuropa sind die sechziger Jahre eine Zeit des generativen Aufbegehrens. Dem komparativen Anspruch, den der Autor zu Beginn formuliert, hätte er so noch einige Facetten hinzufügen können. Vielleicht ist die Schwäche der länderübergreifenden Komparatistik auch dem Umstand geschuldet, dass es gar nicht so viel zu vergleichen gab oder dass die Protagonisten diese Vergleiche ablehnten?
Es bleibt festzuhalten, dass Henning Wrage ein angenehm zu lesendes, faktenreiches und fundiertes Werk zu einer wesentlichen Periode der DDR-Kulturgeschichte vorgelegt hat. "Die Hoffnung, Sinnverlust - Ambivalenz - in Ordnung zu überführen, wird mit der Gründung der DDR erneuert" (S. 372), auch in Kunst und Kultur. Sie ist, wie wir wissen, gescheitert.
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