Gabriele Jutz, Cinéma Brut. Eine alternative Genealogie der Filmavantgarde.

Wien/NewYork: Springer 2010. (Edition Angewandte) ISBN 978-3-211-99149-7. 298 S., 44. Abb., 25 in Farbe., Geb. € 49,95.

Autor/innen

  • Franziska Bruckner

Abstract

Der 'Avantgardefilm' – ein vielfach gebrauchter Begriff um innovative Kunstströmungen zu verorten, die ihrer Zeit voraus sind. Der 'Avantgardefilm'– ein vielfach missbrauchter Begriff um bestimmte Kunstwerke zu nobilitieren und von anderen Werken abzuheben. Dieses theoretische Korsett bricht Gabriele Jutz mit ihrer nun veröffentlichten Habilitationsschrift Cinéma brut. Eine alternative Genealogie der Filmavantgarde auf und kreiert mit äußerster Präzision einen neuartigen Blickwinkel im verhärteten 'Avantgardefilm-Diskurs'.

Zum Einstieg rekapituliert Jutz die bis dato dominanten Avantgardetheorien des "Purismus", deren Programm es ist die 'Reinheit' des Mediums Film in Abgrenzung zu anderen Künsten als wichtigstes Kriterium zu etablieren. Angefangen bei den historischen Filmavantgarden der 1920er Jahre, wie dem anti-literarischen 'cinéma pur' und dem auf Abstraktion ausgerichteten 'absoluten Film', die sich radikal von der damals im Film vorherrschenden literarisch-theatralen Tradition abgrenzten, verfolgt sie den Diskurs weiter über die US-amerikanische Avantgarde nach 1945 bis in die Gegenwart. Hierbei liegt ein besonderes Augenmerk auf dem in den 1960er von P. Adam Sitney propagierten 'structural film'. In diesem, auf die Prinzipien der von Clement Greenberg formulierten, modernistischen Malerei zurückgreifenden Begriff, wird die 'Essenz' eines Films – und damit dessen avantgardistisches Potential – anhand der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den materiellen und apparativen Voraussetzungen des Mediums gemessen. Jutz kritisiert am puristischen Diskurs – zurecht – folgende Punkte: Zum einen zeigt sie auf, dass die zum structural film gezählten Filme der 1960er und 1970er wie Film in Which There Appear (1965-66) von George Landow oder Arnulf Rainer (1960) von Peter Kubelka nie dem von der Theorie konstatierten Grad des Purismus entsprechen, zum anderen thematisiert sie "die erstaunliche Selbstverständlichkeit, mit der so offensichtlich 'unreine' Filmpraktiken wie das 'expanded-cinema' oder der 'found-footage-Film' in das Schema einer puristisch-modernistischen Lektüre gepresst werden" (S. 35).

Wie schon der Titel des Buches verrät, begnügt sich die Autorin aber nicht damit, den vorgegebenen tradierten Purismus-Diskurs in Frage zu stellen und zu erweitern. Sie entwickelt eine alternative, "brutistische" Betrachtungsweise – 'brut' im Sinne von roh, primitiv, unbearbeitet unverfälscht und natürlich –, die darauf abzielt "die Geschichte der Filmavantgarde von einem entgegengesetzten Blickwinkel neu aufzurollen: nicht als Endlosschleife eines 'cinéma pur', sondern als Geschichte eines 'cinéma brut'." (S. 12)

Ihr Ansatz legitimiert sich durch eine subtile Methodologie, mit deren Hilfe sie drei spezifisch dem puristischem Avantgardefilm zugeordnete "Praktiken" (Jutz) unter neuen Gesichtspunkten untersucht: Arbeiten des 'direct films', eine Animationstechnik bei der direkt auf dem Filmstreifen gearbeitet wird – nicht zu verwechseln mit der Dokumentarfilmform 'direct cinema' –, der 'expanded-cinema-Aktion', in welcher die Grenzen des kinematographischen Apparats wie Kinosaal, Leinwand, Filmstreifen etc. radikal ausgelotet und erweitert werden, sowie des 'found-footage-Films', bei dem FilmkünstlerInnen 'gefundenes' Filmmaterial auf verschiedenste Weise in neue Arbeiten transformieren, erfahren einen Kurzschluss mit unterschiedlichsten Theorien und Praxisfeldern aus Kunst-, Film- und Medientheorie. Jutz bewegt sich dabei konsequent fernab romantisierter Vorstellungen, die brutistische Kunstpraktiken "jenseits der Zeichen" (S. 43) bzw. frei von kulturellen Konventionen ansiedeln. Verweisend auf die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce und deren Unterscheidung von Ikon, Symbol und Index sowie auf das "photographische Paradigma" von Rosalind Krauss verortet sie die drei genannten Praktiken des cinéma brut in der Nähe des traditionellerweise als 'primitiv' rezipierten Index.

Als 'roh' wird das cinéma brut von Jutz auch wegen seiner Vorliebe für obsolete – also nicht mehr gebräuchliche – Techniken und Materialien bezeichnet. Sie bricht dabei bewusst mit dem in vielen Avantgardetheorien gesetzten, verabsolutierten Fokus "auf das Neue, den Bruch mit Traditionen" (S. 55) beziehungsweise auf die Verwendung von neuen künstlerischen Werkzeugen und Techniken. Der Argumentation von Bernd Hüppauf und Vivian Laska folgend, sollten Avantgarden vielmehr in einer generellen Opposition zu ihrer Gegenwart stehen und der "Begriff des Unzeitgemäßen in beide zeitliche Richtungen – Zukunft und Vergangenheit ­– gedacht werden" (S. 55). Die Autorin öffnet damit generell den Raum für viele innovative, bis dato nicht dem Avantgardefilm zugeordnete Filmwerke, deren Status in weiterer Folge neu bewertet werden sollte.

Bezogen auf die Praktiken des cinéma brut bedeutet dies zum einen eine "technische Obsoleszenz", denn weder direct film, noch expanded-cinema-Aktion und in gewisser Weise auch der found-footage-Film bedürfen zwingend einer Kamera. Sie unterschreiten damit bewusst die technischen Möglichkeiten der filmischen Apparatur. Einen zweiten Punkt stellt die "materielle Obsoleszenz" dar, unter der einerseits eine vorsätzliche Materialbeeinträchtigung bzw. Materialzerstörung im direct film, andererseits der prekäre Zustand von vorgefundenem Filmmaterial im found-footage-Film zu verstehen ist. Als dritten Aspekt des "Obsoleten" bezeichnet Jutz in Anlehnung an Walter Benjamins Passagenwerk "Das utopische Potential des Unzeitgemäßen", welches besagt, dass neuartige Materialien und Technologien immer Sehnsüchte und kollektive Phantasien von Gesellschaften wecken, diese aber im Laufe der Zeit verloren gehen. Erst wenn im Zuge weiterer technischer Neuerungen Dinge wertlos geworden sind, besteht die Möglichkeit, verloren gegangenen Utopien in neuer Form wiederzuerwecken.

Positiv hervorzuheben ist außerdem, dass Jutz in ihrer Annäherungsweise das Naheverhältnis des Avantgardefilms zur bildenden Kunst im Auge behält. So beschreibt die Autorin im Rahmen ihrer Verhandlung des filmtheoretischen Materialitätsbegriffs zunächst das Verständnis von Materialität in Malerei und Skulptur, bevor sie sich zentralen Positionen der Filmwissenschaft zuwendet und stellt – wieder zurecht – die Frage, warum die Theorie der Filmavantgarde immer noch so krampfhaft am Diskurs des structural films und damit am Purismus festhält, während die bildende Kunst und in Folge die Kunstwissenschaft sich schon längst einem postmodernen Diskurs zugewandt hat. Auf semiotischer Ebene bezieht sich Jutz unter anderem auf Theorien von Peter Wollen, der zwei Strömungen der Avantgardetheorie isoliert: eine "formale", selbstreflexive Strömung, die ihr Augenmerk auf den Signifikanten legt, und eine "literatisch-politische" Avantgarde, dessen zentrale Forderung es war "in gleichem Ausmaß ideologiekritische Inhalte zu transportieren wie bürgerliche Repräsentationsweisen zu brechen" (S. 95). Laut Wollen stellt diese Spaltung der Avantgarde das größte Hindernis für eine revolutionäre Filmpraxis dar. Jutz präzisiert Wollens Ausführungen dahingehend, dass der Film – ungleich der Malerei und der Literatur – nicht nur aus einer, sondern fünf Ausdruckssubstanzen (Bild, Ton, Bewegung, Licht, Montage) besteht. Eine Disjunktion ist daher nicht nur zwischen Signifikat und Signifikant, sondern auch zwischen den verschiedenen Kanälen des Mediums Film möglich.

Weitere zentrale Anknüpfungspunkte der sehr ausführlichen allgemeinen theoretischen Verortung des cinéma brut sind unter anderem Roland Barthes' Die Rauheit der Stimme und John L. Austins Theorie des Sprechaktes, George Batailles Entwurf des "informe" sowie Michel Foucaults Dispositiv-Begriff.

Nach der übergreifenden Neu-Kontextualisierung widmet sich Gabriele Jutz schließlich noch einmal den einzelnen Praktiken ihres filmtheoretischen Paradigmas: Wie zuvor erwähnt, verortet die Autorin das cinéma brut in der "Logik des Index", auf dem, wie Rosalind Krauss' in den 1970er Jahren provokant formulierte These verlautete, "die innovativsten Tendenzen in der modernen Kunst" basieren. (S. 154) Der direct film ist an den "Index als Spur" gekoppelt. Dabei unterscheidet die Autorin in weiterer Folge zwischen 'handmade' Filmen wie Su Friedrichs Gently Down the Stream (1981), die durch ein vorapparatives, Kratzen, Schaben, Stanzen, Bemalen, Ritzen oder Sich-Abdrücken manuell entstehen und 'autogenerativen' Filmen wie Stadt in Flammen (1984) des Künstler-Kollektivs Schmelzdahin, bei denen die Autorinstanz von äußeren Einflüssen wie der Witterung, Chemikalien oder Hitze getragen wird. Erwähnt sei auch die Nähe des direct film zu den von Nelson Goodman als "autographisch" klassifizierten Künsten wie Malerei, Druck oder Bildhauerei, bei der einerseits die Hand des/der KünstlerIn notwendig ist und andererseits Kategorien wie Original und Fälschung eine Rolle spielen.

Im Rahmen der expanded-cinema-Aktion hingegen fungiert der "Index als Geste". Losgelöst aus der Klammer des strukturellen Films streicht Jutz die ursprüngliche Definition des expanded-cinemas hervor: "Mit seinen Wurzeln im künstlerischen Underground war das expanded-cinema ursprünglich Ausdruck einer Haltung, die vergleichbar mit jener der klassischen Avantgarden, eine Synthese von Kunst und Leben, von ästhetischer und politischer Fortschrittlichkeit anstrebte." (S. 162)

Die Autorin begnügt sich nicht damit, die Erweiterung des Kinos in Richtung Theater zu beschreiben, sondern arbeitet die oppositionelle Stellung der expanded-cinema-Aktion zu textbasierten, theatralen Inszenierungen heraus. Wie am Beispiel von Nam Jun Paiks Zen for Film (1962-64) gezeigt wird, tritt die 'performative' Funktion, also der Vollzug der Handlung gegenüber der 'referentiellen' Funktion, also die Darstellung von Figuren, Handlungen etc., in den Vordergrund. Eine weitere Abgrenzung erfolgt gegenüber der kinematographischen Installation. Merkmale, die die expanded-cinema-Aktion als Praktik des cinéma brut erkennen lassen, werden unter anderem an Batailles Konzept der "Antiökonomie" festgemacht. Ein weiteres Kriterium ist die "Flüchtigkeit des performativen Aktes, seine Unwiederbringlichkeit" (S. 165), die Jutz als Zeichen der Obsoleszenz deutet. Wichtig ist zudem die Referenz auf vorhergehende (filmische) Diskurse und Praktiken, wie am Beispiel von VALIE EXPORTs TAPP und TASTKINO (1968) veranschaulicht wird, und die Hervorhebung "deiktischer" Gesten.

Den found-footage-Film setzt Gabriele Jutz schließlich mit dem "Index als Relikt" in Beziehung. Kriterien für einen solchen sind einerseits, dass das Ursprungsmaterial nicht von den FilmemacherInnen selbst belichtet wurde, andererseits spielt – anders als beim Archivfilm oder beim Kompilationsfilm – die "niedere Herkunft des Materials" (S. 175) eine Rolle. Dieses wird durch eine künstlerische Verwendung aufgewertet. Die Indexikalität des found-footage-Films verweist auf die zeitliche Distanz zwischen dem Akt der Belichtung und der Verwendung des Materials. Gleich einem Relikt oder einer Ruine sind im Filmmaterial die Spuren historischer Differenz eingeschrieben. Der zitierende, resignifizierende Akt dieser brutistischen Praktik sprengt zudem das Material aus seinem ursprünglichen Kontext und eröffnet kritische Blickwinkel auf (massen)kulturelle Artefakte. "Dieses destabilisierende, entropische Potential, das der Wiederholung grundsätzlich innewohnt, manifestiert sich im 'found-footage-Film' einerseits durch eine Wuchern von Bedeutung, zum anderen durch die Vervielfachung von Autorpositionen." (S. 181)

Gabriele Jutz setzt in ihrem Buch einen längst überfälligen Impuls in der Avantgardefilmtheorie. Ausgezeichnet recherchiert, erarbeitet sie ihre Genealogie einerseits eng an filmischen Gegenständen, andererseits durch ihre souveräne Zusammenführung klassischer film-, medien- und kunsttheoretischer Begrifflichkeiten. Stilistisch auf höchstem Niveau formuliert, sind die Grundzüge des cinéma brut leicht nachvollziehbar. Bei der detaillierten Argumentation erweisen sich gewisse Grundkenntnisse von Avantgardetheorien und Semiotik aber mit Sicherheit als Vorteil. Die ausführlichen Exkurse in verschiedenste Theorie- und Praxisfelder mögen vielleicht an manchen Stellen des Buches als Ablenkung vom eigentlichen Forschungsgegenstand erscheinen, zeigen jedoch die Anschlussfähigkeit der von Jutz entworfenen, alternativen Avantgardefilmtheorie. Die Autorin erstellt zudem bewusst keinen abgeschlossenen Kanon an 'brutistischen' Filmwerken, sondern gibt Einblick in die Reichweite ihrer Theorien, indem sie im zweiten Teil des Buches den Blick auf exemplarisch ausgewählte Arbeiten wirft. Beispiele wie Vita Futurista (1916), Len Lyes A Colour Box (1935), Isidore Isous Traité de bave et d´éternité (1951), Su Friedrichs Gently Down the Stream (1981) oder Peter Tescherkasskys Dream Work (2001) bilden einen Querschnitt der europäischen und US-amerikanischen Filmavantgarde vom frühen Film bis zur Gegenwart. Nicht eine lineare Skizzierung einer neuen Avantgardefilmtradition ist das Ziel. Es "soll anhand signifikanter Bespiele ein Feld abgesteckt werden, das ermöglicht, das Verwandte im scheinbar Unterschiedlichen hervortreten zu lassen." (S. 22) Grund genug im Anschluss an dieses Buch weitere Filme mit den Praktiken des cinéma bruts zu analysieren und in dessen Kontext zu bringen.

Autor/innen-Biografie

Franziska Bruckner

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien sowie Malerei und Animationsfilm an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2009-2013 Assistentin in Ausbildung am Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Redaktionsmitglied bei rezens.tfm – e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen. Seit 2010 Koordinatorin der AG Animation, Gesellschaft für Medienwissenschaft e.V., seit 2013 im Vorstand der ASIFA-Austria. Derzeit Dozentin an der Universität Wien und Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Animationsfilm, Experimentalfilm, Verbindung von bildender Kunst und Film.

Publikationen:

(Auswahl)

Franziska Bruckner: Malerei in Bewegung. Studio für experimentellen Animationsfilm an der Universität für angewandte Kunst Wien. Wien/New York 2011.

 

– /Christian Schulte/Stefanie Schmitt/Kathrin Wojtowicz (Hg.): Vlado Kristl. Der Mond ist ein Franzose. Wien 2011.

– /Melanie Letschnig/Georg Vogt (Hg.): Techniken der Metamorphose – Positionen zum Animationsfilm.Wien 2010.

– : "Hybrides Bild, Hybride Montage". In: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. 22/2, 12 2013. S. 59-78.

Veröffentlicht

2010-06-01

Ausgabe

Rubrik

Film