Susi K. Frank (Hg.): Bildformeln. Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa.

Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-2717-6. 358 S., Preis: € 39,99.

Autor/innen

  • Nicole Kandioler

Abstract

New Yorker Bauarbeiter, die auf einem Balken hoch über der Stadt ihr Mittagsbrot verzehren; der österreichische Außenminister Josef Figl, der auf dem Balkon des Belvedere steht und den Staatsvertrag in die Menge hält; Albert Einstein, der an seinem 72. Geburtstag Journalisten die Zunge zeigt. Bilder wie diese oszillieren zwischen Dokumentation und Inszenierung, verkörpern historische Momente oder Erzählversionen dieser Momente, und sie frieren in einer radikalen Gegenwärtigkeit fest, die sie geradezu für ein Archiv von Klischees qualifiziert. Während viele dieser Bilder Teil eines globalen ikonographischen Gemeinwissens westlicher Prägung darstellen, muten die Bilder und Bildformeln Osteuropas oftmals noch wie Geheimwissen an. Das von Susi K. Frank herausgegebene Buch lädt einerseits dazu ein, diese wenig bekannten "Bildformeln" zu entdecken und bietet andererseits aus bildwissenschaftlicher und kultursoziologischer Perspektive eine umfassende und informierte Reflektion darüber – um die Formel von W.J.T. Mitchell aufzugreifen – was Bilder wollen.

In ihrem Sammelband Bildformeln. Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa stellt Susi K. Frank als Herausgeberin Bildformeln des Sowjetischen solchen des Holocaust gegenüber, um in einem dritten Teil des Buches eine Konzeptualisierung von Bildformeln als intermediale Instrumente der Konstruktion bzw. der Revision zu unternehmen. Der Fokus auf Bildmaterial aus Osteuropa ist hierbei bewusst gewählt und zielt auf die Frage ab, "ob es spezifisch osteuropäische Bildformeln gibt, d. h. solche, die das kulturelle Gedächtnis speziell des sowjetischen Raums […] mitkonstituieren, und deren Entstehung und Produktivität wesentlich durch den kulturellen und politischen Kontext der Region mitbedingt sind?" (S. 14). Die Vielfalt der Gegenstände zwischen Text und Bild – von historischen Fotografien über Dokumentar- und Propagandafilme bis hin zu Romanen, Comics und Ausstellungsmaterialen –, die im vorliegenden Band diskutiert werden, ist bestechend.

Im "Kapitel I. Formeln des Sowjetischen" finden sich vier Beiträge zu einem kanonisch-fotografischen Dokument der Oktoberrevolution, das auf einem theatralen Reenactment beruht (Beitrag Sasse), zu dem kollektiven  'wir' sowjetischer Identität, das bereits Dziga Vertovs Kino-Auge prägte (Beitrag Sandomirskaja), zu (post-)sowjetischen Bildern des Fahnenhissens als säkulare Ikonen (Beitrag Schwarz) und zu Bildformeln des Hasses und der Gewalt im 2. Weltkrieg in sowjetischen Medien (Beitrag Dobrenko). Das "Kapitel II. (Osteuropäische) Bildformeln des Holocaust in der Spannung zwischen Dokument und Monument" versammelt fünf Beiträge zu einem der berühmtesten sowjetischen Kriegsfotos mit dem Titel Leid (Beitrag Shneer), zu dem Shoah-Gedicht, auf das sich die genannte Fotografie bezieht (Beitrag Shrayer), zum Zusammenhang von Bildformeln und Undarstellbarkeit in West- und Osteuropa (Hicks), zum allerersten Spielfilm über den Holocaust aus dem Jahr 1947 von Wanda Jakubowska, dessen Bilder teilweise in Alan Resnais' Nuit et Brouillard (FR 1955) zitiert wurden (Beitrag Saryusz-Wolska) und zu einer fotografischen Installation Zacisze (dt. Abgeschiedenheit) des polnischen Künstlers Tadeusz Rolke. Im letzten "Kapitel III. Bildformeln zwischen Bild und Text – Instrumente der Konstruktion und Revision des kulturellen Gedächtnisses" verhandeln vier weitere Beiträge Bildformeln im Spannungsfeld von Intermedialität und Selbstreflexivität. Hier wird die im Kontext der Kriegsdarstellung bisher wenig beachtete Pathosformel "der toten Mutter mit lebendigem Kind" (S. 269) diskutiert (Beitrag Frank), sowie der slowakische Künstler Július Koller mit seiner an Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas gemahnenden Archivkunst (Beitrag Pospiszyl). Posthum erscheint der Beitrag über die Danziger Werft, die als Ausgangspunkt der Solidarność-Bewegung gilt und die als Erinnerungsort in den Blick kommt, an dem zuweilen antagonistische Strategien von Gedächtnispolitik verfolgt werden (Beitrag Piotrowski). Der letzte Beitrag zeichnet die Bewegung des Motivs der Fliege von Vladimir Tatlins monumentalem Denkmal zur Dritten Internationale von 1920 über Ilya Kabakovs Das Leben der Fliegen (1992), Georgi Gospodinovs Natürliche[n] Roman (1996) bis hin zu Enki Bilals Comic-Epos Tetralogie des Monsters (1998–2007) nach. Die Fliege als dystopische Bildformel schlechthin und als postsozialistisches Symptom der politischen Anomie steht der einstigen Utopie des Kommunismus diametral gegenüber (Beitrag Zimmermann). Unter den an dem Unternehmen beteiligten zwölf Autorinnen und Autoren sind Slawist/innen, Historiker/innen, Kunstwissenschafter/innen und ein Filmkritiker aus Tschechien, Polen, Großbritannien, Deutschland, Schweiz und den USA.

In ihrer sehr ausführlichen Einleitung zeichnet Frank eine Debatte aus dem Bereich der Bildwissenschaften, der historischen Kulturforschung und der Bildsoziologie vor dem Hintergrund des Visual Turn nach, die besonders nachhaltig rezipierte Bilder als "Schlagbilder" (Michael Diers, Kunstwissenschaft), "Schlüsselbilder" (Peter Ludes, Mediensoziologie) oder "Bild-Akte" (Horst Bredekamp, Kunstgeschichte) zu konzeptualisieren suchen. Wie Horst Bredekamp denkt auch Frank von Aby Warburg aus, wenn sie in einer Umwandlung der warburgschen Pathosformel den Begriff der "Bildformel" vorschlägt, der die interdisziplinär geführte Debatte neu befeuern soll. Versuchte Warburg mit der Pathosformel die ikonographische Kodierung pathetischer Gesten in der europäischen Kunst seit der Antike zu fassen, geht Frank von der zweiteiligen Überlegung aus, dass Bilder sich erstens wiederholen und dass sie dies zweitens nicht unbedingt im selben inhaltlichen Kontext tun: "Denn die Grundannahme besteht darin, dass Bilder gerade dadurch, dass sie nicht ganz neu sind, sondern in der ein oder anderen Weise aus vorhandenen ikonographischen Kodes generiert, besondere Wirkmächtigkeit gewinnen können, dass gerade eine gewisse – vielleicht im inhaltlichen Zusammenhang ganz unerwartete – Lesbarkeit ihre Wirkmächtigkeit erhöht. Im Prozess der Kodierung und Umkodierung, generieren sie selbst einen neuen Kode und werden damit ihrerseits als 'Formeln' anwendbar" (S. 9). Der Fokus auf die Affektdarstellung und -wirkung, der für Warburgs Pathosformel zentral war, wird hier zugunsten einer breiter gefassten prinzipiellen Formelhaftigkeit der Bilder aufgegeben.

Die Umdeutung zur Bildformel ermöglicht zweierlei: erstens die Bilder in ihrer Symbolkraft zu fassen, zweitens komplexe ikonografisch kodierte Motive zu untersuchen, die oftmals im Dialog zwischen Text und Bild funktionieren. Fragen, die sich aus dem Konzept der hier diskutierten Bildformel ergeben, betreffen den Spannungsbereich von Authentizität und Artefakt, bzw. die Verfahren der Authentisierung, die in sog. Evidenzformeln gerinnen. Außerdem steht der Transfer der Bildformel zwischen den Medien im Vordergrund, beispielsweise wenn die intermediale Verbindung zwischen dem Shoah-Gedicht "Ich habe das gesehen" und einer sowjetischen Kriegsfotografie von 1942 erläutert wird (Beiträge Shneer, Shrayer). Die Analyse der Bildformel ist zudem produktiv für die foucaultsche Forderung, das Dokument als Monument zu begreifen und nicht transzendent zu deuten, sondern immanent zu beschreiben, wie dies beispielsweise in der Analyse des berühmten, vermeintlich authentischen Fotos der Erstürmung des Winterpalais geschieht (Sasse, vgl. S. 42).

Die durchwegs sehr lesenswerten und teilweise überraschenden Beiträge von Bildformeln. Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa scheinen mir für ihre Analysen Affekte zu mobilisieren, die, wenngleich weit entfernt vom Pathos, doch Emotionen triggern, die mit erlebten Traumata (Holocaust und Totalitarismus) zusammenhängen sowie mit dem Verlust einer revolutionären Utopie. Nicht zufällig, so scheint mir, wird das Buch auch visuell durch die Abbildungen zweier Orientierungspunkte eingefasst. Auf dem Titelbild sehen wir Tor II von Grzegorz Klamann, auf das im Beitrag von Piotr Piotrowski Bezug genommen wird und auf dem Buchrücken sehen wir Tatlins Tower von 1920, das Denkmal der Dritten Internationale von Vladimir Tatlin, auf das sowohl bei Piotrowski als auch bei Tanja Zimmermann eingegangen wird. Während Tatlins 'Turm' aus Kostengründen nie gebaut wurde und dennoch als Architekturikone und als Symbol einer revolutionären Utopie in die Geschichte einging, bedeutet das 'Tor' von Grzegorz Klamann eine Kritik an der offiziellen triumphalistischen Geschichte der Solidarność sowie die Einforderung einer kritischen Revision dieses Mythos. Nimmt man Tor II aber auch als Anspielung auf Tatlins Turm ernst, bezieht Klamann in seine Kritik am offiziellen Diskurs aber auch das Bedauern über die verlorene Utopie mit ein. Meines Erachtens zeigen die Beiträge des vorliegenden Bandes auch, wie präsent diese Utopie in den Bildformeln Ost- und Südosteuropas tatsächlich ist.

Tanja Zimmermann bespricht in ihrem faszinierenden Beitrag "Fliegen und andere Insekten. Epiphanien des Scheiterns in der postkommunistischen Kultur Ost- und Südosteuropas" (S. 335–357) anhand des Bild- und Textmotivs der Fliege eine gesellschaftspolitische Entwicklung des Scheiterns und der Zersetzung, die sich symptomatisch im Auftauchen der Fliege in postsozialistischer Kunst und Literatur manifestiert. Sie schreibt:

"Wollten die sowjetischen Biokosmisten in der Stalin-Zeit einen Neuen Menschen schaffen und die minderwertigen, parasitären Kreaturen, darunter auch die Insekten, aus der Welt tilgen (Groys/Hagemeister 2005: 52, 60, 352), steigen gerade die Fliegen in der postkommunistischen Zeit zu Trägern perfekten Erbgutes auf. Sie versammeln sich nun um die postsowjetischen Erinnerungsstätten – kommunalen Küchen und Klos. Diente die Verwandlung des sowjetischen Menschen in eine Fliege in den früheren Werken Kabakovs, […] als Allegorie des miserablen Lebens in der Sowjetunion, des Dissidententums und der Emigration, so wandelte sich die Fliege nach der Wende zur ironischen Figur des sich selbst entfremdeten postkommunistischen Kollektivmenschen" (S. 338f.).

Scheint also die Fliege die Verkörperung par excellence eines heutigen Lebensgefühls, zeichnet Zimmermann gleichzeitig akribisch einen kulturhistorischen Diskurs nach, der den Topos der Fliege bereits in der Antike (Lob der Fliegen von Lukian von Samosata), in barocken Stillleben und 'memento mori'-Darstellungen sowie bei Kafka als auch Sartre verortet. Dennoch: die Häufung des Auftretens von Fliegen in der ost- und südosteuropäischen Kultur scheint bemerkenswert. Bemerkenswert ist auch die Schlussfolgerung von Zimmermann, die die Verbreitung des Fliegenmotivs letztlich auf die Sprachlosigkeit der heutigen, post-ideologischen Zeit zurückführt:

"Folgt man den postkommunistischen Spuren der Fliege in Ost- und Südosteuropa, fungiert sie nicht nur als Index der gescheiterten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen und familiären Projekte, sondern erscheint im Nucleus aller negativen Zersetzungsprozesse. Damit fügt sie sich als Selbstbeschreibung bzw. Selbstprojektion der Identitäts- und Ortlosigkeit in die Tradition der negativen theologischen sowie der heteronormen Osteuropa- und Balkandiskurse ein. Sie offenbart die Unvereinbarkeit der ideellen und materiellen Werte, der ideologischen Projekte und ihrer pragmatischen Realisierungen. Als Bildformel drückt sie eine dunkle claritas aus, die dort in einer Epiphanie aufblitzt, wo die Sprache versagt" (S. 349f.).

Mit diesem Satz schließt der Beitrag von Tanja Zimmermann und auch das Buch von Susi K. Frank. Gleichzeitig scheint er den auf dem Weg zur Bildformel verloren gegangenen Pathos in Erinnerung zu rufen. Wenn die Sprache versagt, weisen Bilder den Weg zum Gefühl.

Autor/innen-Biografie

Nicole Kandioler

Nicole Kandioler ist seit April 2018 als Univ.-Ass. post-doc am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien tätig. Sie studierte Theaterwissenschaft, Romanistik und Slawistik in Wien und Krakau und promovierte mit einer Arbeit zu osteuropäischen Film- und Fernsehkulturen des Postsozialismus an der Universität Wien. Gelehrt und geforscht hat sie seit 2004 an der Université de Rouen in Frankreich, der Universiteit van Amsterdam in den Niederlanden, an der Bauhaus-Universität in Weimar und an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: osteuropäische Medienkulturen, Film- und Fernsehtheorie, Dokumentarfilmtheorie, Gender Media Studies.

Publikationen (Auswahl):

Nicole Kandioler: Widerständige Nostalgie. Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 1965–2013. Bielefeld: transcript (im Druck).

–/Anke Steinborn/Christer Petersen (Hg.): Klassiker des tschecho(-slowakischen) Films. Reihe: Klassiker des osteuropäischen Films. Marburg: Schüren 2018. 

–: "Regretting Womanhood. Bereuen gegen Normalisierung". In: Kultur und Geschlecht. Hrsg. v. Astrid Deuber-Mankovsky/Anja Michaelsen. 19/2017, S. 1–10. URL: https://kulturundgeschlecht.blogs.ruhr-uni-bochum.de/wp-content/uploads/2017/07/Kandioler_Regretting-Womanhood.pdf

–: "Verwobene Zeitlichkeiten – Tribute to Helena Třeštíková". Crossing Europe Festivalkatalog Linz 2016, S. 80–84.

–: "De-Centring Western Gender Studies". In: Schöner lehren – gegendert und gequeert. Hrsg. v. Lena Eckert/Silke Martin. Marburg: Schüren 2016, S. 60–72.

Downloads

Veröffentlicht

2019-05-15

Ausgabe

Rubrik

Medien