Anikó Imre/Timothy Havens/Katalin Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism.

New York/London: Routledge 2013. (Routledge Advances in Internationalizing Media Studies). ISBN 978-0-415-89248-3. 285 S. Preis: € 108,68.

Autor/innen

  • Nicole Kandioler

Abstract

Dass man mit Tieren gut denken könne, behauptete Claude Lévi-Strauss 1962 in Le totémisme aujourd'hui (Paris: Presses Universitaires de France, S. 128) und entlarvte damit in seinem bahnbrechenden strukturalistischen Text den Totemismus als eine Fiktion, die, indem sie einer universellen klassifikatorischen Logik gehorcht, die Konstruktion des Verhältnisses von Kultur und Natur erst ermöglichte. In ihrer inhaltlich und wissenschaftspolitisch neue Maßstäbe setzenden Publikation greifen die beiden Herausgeberinnen und der Herausgeber – Anikó Imre, Timothy Havens und Katalin Lustyik – Lévi-Strauss' Pioniergeist und das Zitat auf, um es sich folgendermaßen anzueignen: "It would seem that old television is, to appropriate Lévi Strauss's now famous quote, good to remember with" (S. 5).

Die Analyse televisueller Programme und Ästhetiken aus dem osteuropäischen Raum, die Erinnerungsmodi der sozialistischen Vergangenheit befeuern und teilweise selbst generieren, steht daher auch im Zentrum von Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism. Auffällig an den untersuchten Fernsehprogrammen ist das Aufgreifen sozialistischer TV-Formate ('old television'), die in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowie hinsichtlich der Neubildung postsozialistischer Identitäten eine wesentliche Rolle übernehmen. Sozialistische Fernsehfilme und Serien, Animationsfilme für Kinder und Jugendliche, sogar Werbeeinspielungen, so Imre, Havens und Lustyik in der Einleitung, "have re-appeared on local programming since 1989 as an irreplacable source of national and regional memory and identity and have also inspired serious historical and critical scholarship" (S. 3).

Anikó Imre (University of Southern California, School of Cinematic Arts) hat in den letzten zehn Jahren in den Bereichen der feministischen Film- und Fernsehwissenschaft sowie der Osteuropa Studien herausragende Publikationen vorgelegt. In Transnational Feminism in Film and Media (2005), East European Cinemas (2007), Identity Games. Globalization and the Transformation of Media Cultures in the New Europe (2009) hat sie eindringlich gezeigt, welche Herausforderungen die postsozialistische Ära für eine transnationale (und feministische) Film- und Medienwissenschaft bereithält. Nun reicht sie gemeinsam mit Timothy Havens (University of Iowa, Communication Studies) und Katalin Lustyik (Ithaca College, Faculty Television-Radio) eine weitere Publikation zu diesem Themenkomplex nach und reagiert damit auf die "Western centric perspective" (S. 2) der europäischen Fernsehwissenschaft, die auch in der aktuell vorliegenden Publikationen mit 'europäischem' Fernsehen vor allem 'westeuropäisches' Fernsehen meint. Osteuropäische Fernsehwissenschaft erfolgt aber nicht nur an den Rändern der internationalen Fernsehwissenschaft, sondern sie nimmt auch innerhalb der osteuropäischen Medienwissenschaft, deren Fragestellungen sich vorwiegend den Printmedien, dem Journalismus und dem demokratischen Gemeindeleben widmen, einen marginalen Platz ein (vgl. S. 1).

Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism schreibt sich in einen westeuropäischen Theorie- und Forschungskontext der Fernsehwissenschaft ein, den es gleichzeitig kritisch reflektiert (vgl. S. 1) und schlägt Analysen von Fernsehsendungen vor, die sich stark an fernsehwissenschaftlichen Konzepten und Theorien der Cultural Studies, der Memory Studies und des Audience Research orientieren. Erklärtes Ziel der Anthologie ist es, "to bring popular culture into Eastern European studies, to highlight the relevance of Eastern European realities in the study of globalization, and to de-Westernize television and media studies" (S. 9).

Für die Unterrepräsentation osteuropäischer Thematiken in der internationalen Fernsehwissenschaft führen Imre, Havens und Lustyik gleich mehrere Gründe an. Als Folge eines fortbestehenden ideologischen und disziplinären Erbes des Kalten Krieges wurde osteuropäisches Fernsehen als populärkulturelles (und staatlich kontrolliertes) Medium lange nicht ernst genommen. Weder westeuropäische Forscherinnen und Forscher noch osteuropäische Filmemacher oder Autoren (hier vor allem Männer) interessierten sich für das Fernsehen. Letztere, weil sie ihren politischen Auftrag in der Herstellung politisch subversiver kinematographischer und literarischer Arbeit sahen, die sich in der europäischen Hochkultur verortet. Aber auch das intime Verhältnis des Mediums zu nationalen Sprachen und Kulturen stellt ein Hindernis dar, das Non-Natives den Zugang zu den Programmen erschwert (vgl. S. 3). Für den Zusammenhang von osteuropäischer Geschichte und Identität ist das Fernsehen aber ebenso zentral wie umgekehrt die Untersuchungen osteuropäischer Fernsehkulturen fernsehwissenschaftliche Forschung insgesamt vorantreiben könnten. Die auf dem Gebiet des postsozialistischen Fernsehens erfolgenden Transformationen seit dem Fall des Kommunismus bieten nämlich in besonderem Maße die Möglichkeit, die Funktionsweisen televisueller Technologien zu untersuchen. Die Entwicklung von staatlich kontrollierten Rundfunksystemen, die nationale, regionale und stark gefilterte westliche Programme ausstrahlten, hin zu 'transnationalen Multiplattformen', die vor allem amerikanische und westeuropäische Unterhaltungsprogramme senden, "provide[s] opportunities to examine the complex interactions among economic and funding systems, regulatory policies, globalization, imperialism, popular culture and cultural identity" (S. 2).

Ausgehend von der Prämisse, dass die Episteme der Fernsehwissenschaft – 'Identität', 'Repräsentation', 'kulturelle Macht', 'populäre Form', die Bedeutung der Institutionen – für das Verständnis osteuropäischer Kultur hochrelevant sind, versammeln die Herausgeberinnen und der Herausgeber vierzehn Beiträge von Forscherinnen und Forschern aus Budapest, Groningen, Halle, Ljubljana, Prag, Salzburg und von acht Universitäten in Großbritannien und den USA, die darlegen, wie "national identity, nostalgia, globalization, local production and minority popular culture are articulated in Eastern European television culture in ways that differ significantly from Western European or Anglophone television cultures" (S. 3).

Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism ist in drei thematische Teile unterteilt. Im ersten Teil "Popular Television in Socialist Times" finden sich fünf Beiträge über das Fernsehen in der Ära des Sozialismus mit Fallbeispielen aus Rumänien, Polen und der DDR; im zweiten Teil, "Commercial Globalization and Eastern European TV", geht es in vier Beiträgen um den Einfluss von Globalisierung und Liberalisierung der Märkte auf die Repräsentationen nationaler Identitäten mit Fallbeispielen aus Polen, Rumänien, Tschechien, Ungarn und der Slowakei; im dritten Teil, "Television and National Identity on Europe's Edges", steht der Nexus von Fernsehen und nationaler Identität im Zentrum der analytischen Bemühungen von fünf Beiträgen mit Fallbeispielen aus Rumänien, Slowenien, Tschechien, Ungarn. Obwohl die Autorinnen und Autoren des Bandes die Unterschiede der soziopolitischen Veränderungen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks berücksichtigen, sind der transnationale Zugang und die Bezeichnung der Region als 'Osteuropa' programmatisch zu verstehen. Der Aspekt der "intricate regional and transnational connections and interwoven television cultures" (S. 5f.) wurde bisher in der Osteuropaforschung vernachlässigt. Traditionell folgten Forscherinnen und Forscher geographischen sowie disziplinären Unterteilungen und fokussierten vor allem auf die Eigenheiten der osteuropäischen Kinematographien. Damit spielten sie aber auch einer sowjetischen Politik in die Hände, die kontinuierlich damit beschäftigt war, die Differenzen zwischen den Satellitenstaaten überdimensional darzustellen.

Als ein Medium, das Erinnerungsdiskurse im osteuropäischen Raum maßgeblich (mit-)gestaltet, generiert das Fernsehen Räume, in denen sozialistische Vergangenheit und der traumatische oder nostalgische Umgang damit vermittelt und diskutiert, verhandelt und verarbeitet werden. Im Zentrum des Sammelbandes steht so das Dispositiv Fernsehen als ein Instrument der Erinnerung, das zur Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit und zum Verständnis der Funktionsweisen des 'kulturellen Gedächtnisses' maßgeblich beiträgt. "Spanning decades and nations, the scholarship […] on television and cultural memory in Eastern Europe not only adds to the ongoing theorization of post-communist nostalgia and trauma, but also makes a powerful case for the centrality of popular television in the production, continuation and study of cultural memory" (S. 5). Es ist wohl zutreffend zu behaupten, dass das Fernsehen mit seinen Angeboten der Vergangenheitsbewältigung in einigen Ländern des ehemaligen Ostblocks ein Versäumnis postsozialistischer Politik nachholt. Dies trifft beispielsweise auf den Fall Tschechiens zu, wo die öffentliche Diskussion aufgrund einer nach 1989 von öffentlicher Seite sehr stark vorangetriebenen 'Entkommunisierung' (Françoise Mayer), die mit einer völligen Tabuisierung der kommunistischen Vergangenheit einherging, noch am Anfang steht. Ähnlich tabuisiert ist seit dem Fall des Kommunismus die Frage, wie sich ethnische Minderheiten und speziell die Roma-Bevölkerungen in Osteuropa, in das nationale Imaginäre integrieren (lassen). Das Fernsehen spielt hier eine Schlüsselrolle, wie die Beiträge von Annabel Tremlett und Ksenija Vidmar-Horvat aufzeigen.

Aus der Lektüre des hochinformativen Bandes ergibt sich ein Paradox, das ich hier als kritisches Moment zwar kurz anführen, aber gleichzeitig mit dem Hinweis versehen möchte, dass es die Diskussion über die televisuellen Kulturen der Region befruchten und weiter vorantreiben könnte. In einigen Beiträgen der Anthologie wird einerseits die Differenz zwischen aktuellem west- und osteuropäischen Fernsehen dekonstruiert, deren Konstruktion zuallererst einer westlichen Perspektive auf den Forschungsgegenstand zugeschrieben wird. Andererseits ist aber auch die Rede von der Dominanz westeuropäischer (hier auch US-amerikanischer) Fernsehformate und von der 'Entfremdung' von der "idealized, local past" (S. 7), die wenngleich als idealisiert bezeichnet, dennoch positiv konnotiert ist. Der Einfluss westeuropäischer Programme und TV-Formate auf osteuropäische TV-Produktionen wird also zum einen als transnationales Phänomen einer sich gegenseitig befruchtenden, gleichberechtigten globalen Fernsehlandschaft hervorgehoben. Zum anderen werden in der Rede von innereuropäischem Medienimperialismus (zurecht) Aspekte von Hegemonie und von Macht adressiert, die die Differenz von west- und osteuropäischem Fernsehen aktualisieren.

In ihrem Artikel "Intra-European Media Imperialism: Hungarian Program Imports and the Television Without Frontiers Directive" zeigen Timothy Havens, Evelyn Bottando und Matthew S. Thatcher beispielsweise, dass Importe aus dem Westen in das ungarische Fernsehen vom wirtschaftspolitischen Versuch herrühren, Osteuropa zu rekolonialisieren. Adina Schneeweis bespricht in ihrem Beitrag "To Be Romanian in Post-Communist Romania: Entertainment Television and Patriotism in Popular Discourse" die rumänische Serie Garantat 100 %, die aus der Sicht der Autorin zwischen der Aneignung von westlichen Idealen und dem Rückzug in eine idealisierte, lokale Vergangenheit oszilliert. Möglicherweise liegt eine Annäherung an die Problematik des Widerspruchs in der konzeptuellen Fassung des Fernsehens als Schauplatz von Mikropolitiken[1], der die Zuschauerinnen und Zuschauer als am Dispositiv Fernsehen Partizipierende begreift. Der Text von Irena Carpentier Reifová, Katerina Gillarova und Radim Hladik mit dem Titel "The Way We Applauded. How Popular Culture Stimulates Collective Memory of the Socialist Past in Czechoslovakia – The Case of the Television Serial Vypravej and its Viewers" scheint mir diesbezüglich richtungsweisend. In ihrem auf empirischen Daten aus Zuschauerbefragungen beruhenden Beitrag beanstanden die Autorinnen und der Autor, dass die im Rahmen der Memory Studies erfolgte Forschung bisher noch keine schlüssige Analyse der "principles of commemoration, remembering and forgetting" anzubieten hätte, "that help post-socialist Europe make sense of the state-socialist experience" (S. 200). Die Frage, die sie anhand der Zuschauerbefragungen beantworten möchten, ist jene, wie das Fernsehprogramm in die Herstellung postsozialistischer Identität interveniert. Anstatt allerdings einseitige Diagnosen zu stellen, die in miteinander konkurrierenden Erinnerungsgenres wie Nostalgie, Trauma oder Amnesie festgeschrieben sind, leiten Carpentier Reiferová, Gillarova und Hladik aus ihrer qualitativen Analyse ab, dass sich diese Konzepte vielmehr gegenseitig bedingen und "diskursiv koexistieren" (S. 200).

Abgesehen von ihrer unanfechtbaren wissenschaftspolitischen Bedeutung innerhalb einer neu perspektivierten europäischen Fernsehwissenschaft sei die Anthologie Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism auch als höchst spannendes und breit gefächertes Nachschlagewerk für aktuelle Fernsehproduktionen aus dem osteuropäischen Raum empfohlen.

---

[1] Andrea Seier: Mikropolitiken der Medien. Mediale Praktiken der Selbstführung. (Habilitationsschrift, eingereicht an der Universität Wien im März 2013, erscheint 2014 im LIT Verlag).

Autor/innen-Biografie

Nicole Kandioler

Studium der Theaterwissenschaft, Romanistik und Slawistik in Wien. 2004–2008 Lehr- und Forschungstätigkeit am Département d´études germaniques, Universität Rouen in Frankreich, und Mitglied der interdisziplinären Forschungsgruppe CR2A (Forschungsachsen Transformation-Identität-Gender). 2008–2010 Koordination des interdisziplinären "Initiativkollegs Sinne-Technik-Inszenierung" an der Universität Wien. 2010–2011 Univ.-Ass. prä-doc am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. Seit 2011 Senior Scientist am tfm. Derzeit Marietta Blau-Stipendiatin an der ASCA | Amsterdam School of Cultural Analysis.

Dissertation seit 2009 "Gender – Remediatisierung – Postsozialismus. Double Features im zentraleuropäischen Film und Fernsehen" (Arbeitstitel). Forschungsschwerpunkte: Narration, Remediatisierung, Serialität, Geschlecht und Identität, Queer Theory, osteuropäischer Film, Film Festival Studies.

 

Publikationen:

(Auswahl)

– : "Narrative der Heterosexualität in DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR, 1965) und SEX IN BRNO (ČR, 2003)". In: Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext. Hg. v. Daniela Finzi, Ingo Lauggas, Emilija Mancic. Tübingen: Francke 2011. (Reihe: Herrschaft – Kultur – Differenz). S. 211–221.

–, Andrea B. Braidt, Klemens Gruber, Monika Meister, Frank Stern (Hg.): Sinne – Technik – Inszenierung. Wien: Böhlau 2010. (=Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Jg. 56/Nr. 2, 2010.

– : "Schauplatz Sprach/en/losigkeit. ImmigrantInnen im zeitgenössischen österreichischen Spielfilm. Am Beispiel von MEIN RUSSLAND (A, 2002), NORDRAND (A, 1999) und STRUGGLE (A, 2003)". In: Traditionen und Modernen. Historische und ästhetische Analysen der österreichischen Kultur. Hg. v. Friedrich Aspetzberger,Anne-Marie Corbin. Innsbruck: StudienVerlag, 2008. S. 107–117.

Veröffentlicht

2013-12-12

Ausgabe

Rubrik

Medien

Am häufigsten gelesenen Artikel dieser/dieses Autor/in