Branislav Jakovljević: Alienation Effects. Performance and Self-Management in Yugoslavia, 1945–91.
Ann Arbor: University of Michigan Press 2016. ISBN 978-0-472-07314-6. 392 S., Preis: € 36,–.
Abstract
Die 1970er-Jahre waren in Jugoslawien von spezifischen Dynamiken innerhalb der konzeptuellen Kunst sowie der Performance-Szene geprägt. Diese lassen sich nicht vereinfacht gemäß der weit verbreiteten Annahme einordnen, dass Künste in Südost- und Osteuropa vor 1989 entweder 'offiziellen' regimelegimitierenden Vorgaben folgten, oder aber dissidente Positionen innerhalb klandestiner oder subversiver Räume vertraten. Vielmehr sind, so Branislav Jakovljevićs Ausgangsthese in seiner wegweisenden Monographie Allienation Effects. Performance and Self-Management in Yugoslavia, 1945–91, jene Tendenzen in den darstellenden Künsten stets innerhalb der spezifisch-jugoslawischen sozialistischen Ökonomie der Arbeiterselbstverwaltung (Self-Management, resp. "radničko samoupravljanje") einzuordnen – beginnend bei Boža Ilićs Nachkriegsgemälden der proletarischen Schicht innerhalb kollektiver Arbeitsprozesse bis hin zu den Phänomen der Neuen Slowenischen Kunst der 1980er-Jahre. Die Demokratisierung der Künste stehe demnach stets in Beziehung zu (und zuweilen in Abhängigkeit von) den Demokratisierungsprozessen innerhalb wirtschaftspolitischer Wandlungen sowie der Industrie.
Bereits einleitend räumt der Autor mit einem weit verbreiten Trugschluss auf, indem er den Begriff des jugoslawischen Self-Managements problematisiert. Innerhalb der vier Dekaden des Zweiten Jugoslawiens schaffte es die Staatsspitze nämlich nie, eine funktionierende bzw. stabile und stringente politische Ökonomie der Arbeiterselbstverwaltung durchzusetzen. Vielmehr war das jugoslawische Selbstverständnis dieses Begriffs erratisch und grob in drei zeitliche Phasen einzuteilen, auf die Jakovljević durch die Untersuchung von Fallbeispielen fokussiert. Die erste Phase bildet die Periode von 1949 bis 1963, in welcher in den industriellen Unternehmen Arbeiterräte etabliert und mit Verantwortung ausgestattet wurden. In jener Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg war Jugoslawien eine der am schnellsten gedeihenden Wirtschaftszonen weltweit. Die zweite Phase, 1963–1974, war von einer neuen Staatsverfassung sowie vielschichtigen wirtschaftlichen Reformen geprägt. In dieser Verfassung wurde die zentralisierte Planwirtschaft weitgehend aufgehoben, ebenso die Regulierung von Marktpreisen und Einkommen. Die Implementierung einer solchen Marktökonomie hatte die üblichen positiven und negativen Folgen: Eine florierende Industrie auf der einen, massive Staatsverschuldung und Inflation auf der anderen Seite. Parallel dazu wurde das Self-Management in alle Arbeitssphären ausgeweitet sowie der Einfluss des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens auf die Industriewirtschaft eingedämmt. Jene Liberalisierung ökonomischen und sozialen Lebens innerhalb Jugoslawiens führte zu einem offenen (wenn auch niemals gänzlich tabulosen) Diskurs über wirtschaftliche und politische Ungleichheiten, welche in Arbeiterprotesten eruptierten sowie in den Studentenaufständen im Juni 1968 kulminierten. In der dritten Phase, 1974–1989, erfolgte eine zunehmende Föderalisierung des Landes, wodurch den sechs Teilrepubliken und zwei autonomen Provinzen mehr souveräne Rechte eingeräumt wurden. In höchster Präzision verwebt Branislav Jakovljević in weiterer Folge seine Analysegegenstände, wie auch deren Produktions- und Rezeptionskontexte mit den sozioökonomischen und politischen Parametern dieser drei Phasen der Arbeiterselbstverwaltung.
Das erste Kapitel ist mit "Bodywriting" überschrieben und untersucht insbesondere die Einbindung des Arbeiters als Grundfeste der sozialistischen Gesellschaft sowie der Arbeit ('labor') innerhalb divergierender Formen der Performance-Kunst. Anfangsbeispiel bildet die jährlich stattfindende gigantomanische Inszenierung rund um Titos Geburtstag am 25. Mai. Bereits 1945 erfolgte die Initialzündung zu dem jährlich stattfindenden Staffellauf, innerhalb dessen wochenlang eine Stafette ("štafeta", resp. "Titova štafeta") von Läufer zu Läufer durch alle Teilrepubliken getragen wurde, um am Ende des Laufs am 25. Mai in Belgrad vor tausenden Zuschauenden an Tito überreicht zu werden. Begleitet von landesweiten Performances, regionalen Staffelläufen und Massen-Inszenierungen, sind jene Performances weniger als Postulat eines spezifischen Personenkults oder als Visualisierung ideologischer Grundfesten zu begreifen. Es ist vielmehr der landesweite Miteinbezug nahezu aller Mitglieder der jugoslawischen Gesellschaft in die Planung, Organisation und Durchführung eines tadellos verlaufenden Staffellaufs, welcher hier bemerkenswert war. Um den Personenkult in den Hintergrund treten zu lassen und gleichzeitig den jugoslawischen Durchschnittsbürger innerhalb der Feierlichkeiten hervorzuheben, wurde 1956 auf Vorschlag Titos der 25. Mai zum offiziellen "Tag der Jugend" umgewidmet. Im Verlauf der 1960er-Jahre wurden die vielen lokalen landesweiten Staffelläufe zudem dezimiert und durch eine einzige "Jugendstafette" ersetzt. Diese Modellierung des Formats erfolgte parallel zur inflationären Einrichtung privater TV-Anschlüsse in den jugoslawischen Haushalten, die nun tagtäglich den Verlauf der Stafette im Fernsehen verfolgen konnten. Der landesweite Miteinbezug von Sportlern, aber auch von Arbeitern, Schülern, Studierenden etc. in die Stafetten-Läufe sowie die Massenkundgebung am 25. Mai selbst verwandelten Jugoslawien alljährlich in einen "performance state" (S. 36). "Ultimately, the Socialist Federal Republic of Yugoslavia did not just display some more or less successfully conceived allegories of state ideology, but first and foremost exhibited how flawlessly and impeccably it functioned." (S. 81).
Die demokratischen Entscheidungen, welche diverse lokale Räte bezüglich dieser landesweiten Feierlichkeiten zu fällen hatten, spiegeln präzise die politischen und ökonomischen Verwaltungsstrukturen der ersten Phase der Arbeiterselbstverwaltung wieder. Diese waren aber auch in der bildenden Kunst wirksam, was sich insbesondere in den 1950er-Jahren in einem radikalen Wandel der Ikonographie von Arbeit und Arbeitenden beobachten lässt. Die zunehmende Mit- bzw. Selbstbestimmung der Arbeiterschicht innerhalb der Industrieräte führte zu einem Wandel der Darstellung von Arbeit: Wurde zuvor vorzugsweise der menschliche Körper innerhalb eines arbeitenden Kollektivs dargestellt (beispielsweise in Boža Ilićs Gemälde Sondiranje terena na Novom Beogradu, 1949, S. 45), zeigen die dargestellten Arbeiterkörper auf Gemälden der 1950er-Jahre nicht mehr muskulöse 'Anpacker', sondern entspannte und sauber gekleidete Funktionäre, welche an Konferenztischen oder neben Maschinen stehend Entscheidungen über 'ihre' Firmenpolitik treffen. "In short, they are not so much laborers as managers" (S. 59).
Die zunehmende Orientierung des Landes in Richtung westlicher Wirtschaftspolitik (respektive Marktökonomie) spiegelten auch die Theaterrepertoires wieder, welche in den 1950er-Jahren zunehmend von klassischer Dramatik und sozialistischen Stücken abwichen und vermehrt zeitgenössische Werke auf die Bühne brachten (Arthur Miller, Tennessee Williams, John Osborne, Jean-Paul Sartre, Jean Anouilh und andere). Die Grenzen jener Liberalisierungstendenzen und Öffnungen der jugoslawischen Gesellschaft werden anhand der Repertoirepolitik des Belgrader Dramatheaters (Belgradsko dramsko pozorište) aufgezeigt. Die erste Aufführung von Warten auf Godot auf jugoslawischem Territorium fiel mit 1954 in eine Zeit der tiefen Krise zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien. Die Eindämmung eines zu 'verwestlichten' Repertoires erfolgte nicht durch explizite Zensur, sondern schleichend: Während die Proben noch liefen, wurde die Produktion stillschweigend aus dem Spielplan entfernt. Eine einzige inoffizielle Aufführung stellt die Kostümprobe der Produktion dar, welche allein für die Mitglieder des Arbeiterrates des Belgradsko dramsko pozorište offen stand. Namhafte Kritiker und Belgrader Intellektuelle kamen als Begleitpersonen zu dieser nicht-öffentlichen Aufführung. Da die Produktion nie offiziell verboten, sondern den Mitgliedern des hauseigenen Arbeiterrats gezeigt und dann stillschweigend aus dem Repertoire entfernt wurde, sieht Jakovljević in der "Affaire Godot" keine Form von sozialistischer Selbst-Zensur, wie sie Wissenschaftler vor ihm benannt haben (beispielsweise Miklós Haraszti in dessen Buch The Velvet Prison), sondern einen Beleg für das Self-Management innerhalb der arbeitenden Theaterschicht. Texte zu dieser, von nur wenigen Menschen gesehenen Produktion und zu deren Repertoire-Absetzung verbreiteten sich daraufhin wie ein Lauffeuer und waren mit ausschlaggebend für die Gründung erster Off-Theaterstätten, u. a. des Atelje 212, welches am 17. Dezember 1956 mit der 'eigentlichen' Uraufführung der im BDP abgesetzten Inszenierung von Warten auf Godot eröffnete.
Im Kapitel "Syntactical Performances" thematisiert Jakovljević die Belgrader Studentenproteste vom Juni 1968. Die philosophischen Diskurse jener Zeit im Auge behaltend, arbeitet er zunächst genau heraus, worin sich diese von den europaweiten 68er-Protesten unterschieden. Die Forderungen der protestierenden Studenten waren vielfältig. Die Hauptkritikpunkte zielten auf die hohen (jedoch verborgenen) Arbeitslosenzahlen sowie die gescheiterten Reformen der Arbeiterselbstverwaltung. Obwohl Tito solchen Forderungen auf rhetorischer Ebene entgegenkam und damit die Proteste nach nur wenigen Tagen einzudämmen wusste, hatte dies faktisch kaum Auswirkung auf die dirigistische Wirtschaftspolitik. Aus dem Blickwinkel jener Enttäuschung analysiert das Kapitel Performances, welche unter dem Einfluss der Studentenproteste den (Künstler-)Körper als arbeitende und funktionale 'Maschine' in den Vordergrund rückten: Arbeiten von Raša Todosijević, Gina Pane, Era Milivojević und Marina Abramović werden dabei exemplarisch behandelt.
Mit "Disalienation Defects" rückt im dritten Kapitel die letzte Phase des jugoslawischen Self-Managements in den Mittelpunkt, welche als Folgeerscheinung der Verfassungsreform von 1974 begriffen wird. Die im Buch durchgehend kontextualisierte Ent- und Verfremdung wird hier sowohl wirtschaftspolitisch als auch performancetheoretisch pointiert. Die zunehmende Distanzierung der Politik vom arbeitenden Subjekt reflektieren die Fallbeispiele jener Zeit, welche in die jugoslawischen Avantgarden der 1970er- und 1980er-Jahre münden. Hier weitet Jakovljević seine Untersuchungen erstmals auch auf Musik aus, indem er die Musikgruppe Laibach und ihre Rolle innerhalb der Neuen Slowenischen Kunst anspricht.
In einem lohnenswerten Rückgriff kommt der Autor anschließend noch einmal auf den Tag der Jugend als der Keimzelle des jugoslawischen 'Performance State' zurück. 1988 fand dieser zum letzten Mal statt – und nicht, wie oftmals behauptet, bereits 1987. Veraltet scheinende Symbole der Brüderlichkeit und Einheit gelangten in diesem Rahmen 1988 zur Aufführung, während das Planungskomitee der Feierlichkeiten kritische Plakate und Stafettenentwürfe dezidiert verweigerte und zeitgleich nationalistische Parolen salonreif wurden. Dass führende Theatermacher, die zuvor den Tag der Jugend mitgestaltet haben, 1989 Slobodan Miloševićs Amselfeld-Re-Enactment verantworteten, wird nebenbei erwähnt.
Was vom Self-Management noch übrig blieb, deutet der Autor in einem Nachwort an. Im jugoslawischen Staatszerfall, der eine Verschiebung des Nukleus jugoslawischer Identität von der Arbeit hin zur Ethnizität bewirkte, umfasste spontanes Self-Management im Sinne der Selbst-Organisation mitunter auch die Entscheidung ins Exil zu gehen. Davon ist etwa die Biographie des Autors selbst geprägt, der heute an der renommierten Stanford University als Professor im Bereich Theatre and Performance Studies arbeitet.
Downloads
Veröffentlicht
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2019 Senad Halilbašić
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International.
Dieser Rezensiontext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten.