Florian Malzacher: Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute.

Berlin: Alexander Verlag 2020. ISBN: 978-3-89581-513-3. 164 Seiten, 22 Abb., 15,00 €.

Autor/innen

  • Senad Halilbasic

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-02

Abstract

Florian Malzacher, freier Autor, Dramaturg und Kurator, tätig unter anderem in leitender Funktion beim Festival steirischer herbst in Graz (2006–2012) und beim Impulse Theater Festival in Düsseldorf, Köln und Mühlheim (2013–2017), geht in seiner neuen Monographie einem Theater im Spannungsfeld von Repräsentation und Partizipation nach. Dabei akzentuiert er bereits in der Einleitung, dass es ihm in Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute nicht um eine umfassende Darstellung aller möglichen als politisch beschreibbaren Theaterformen gehe; vielmehr strebe er "ein suchendes Buch über ein suchendes Theater, das Teil einer suchenden Gesellschaft" sei, an (S. 16). Diese einführenden Worte lassen eine gewisse Unentschlossenheit in der Auswahl der Fallbeispiele und Analysefelder befürchten – eine Sorge, die sich rasch als nichtig erweist, geht es dem Autor doch klar um die Benennung eines politischen Theaters, das politische Prozesse, Visionen und Lösungsversuche nicht nur zeigt, sondern bewusst mitgestaltet. Die Fokussierung auf tendenziell postdramatische Theaterformen des deutschsprachigen Raums erscheint angesichts von Malzachers Biographie naheliegend.

Die fünf Hauptkapitel sind schlaglichtartig in die Begriffe "Repräsentation", "Identitätspolitiken", "Partizipation", "Kunst und Aktivismus" sowie "Theater als Versammlung" unterteilt. Darin werden Beispiele primär institutionellen Theaterschaffens der letzten zehn Jahre diskutiert, um Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten eines politischen Theaters auszuloten, das einen dezidiert aktivistischen Anspruch erhebt. Wie vielfältig dieser Anspruch besetzt werden kann, zeigt sich schon in den Beispielen des ersten Kapitels zur "Repräsentation". Dieses widmet sich zunächst der Neuauflage einer bereits existierenden Inszenierung von Josef Bierbichlers Roman Mittelreich. Die Regisseurin Anta Helena Recke bediente sich dabei der 2015 uraufgeführten Inszenierung von Anna-Sophie Mahler und brachte diese mit ausschließlich schwarzen Schauspieler*innen in den Hauptrollen auf die Bühne der Münchner Kammerspiele (2017). Gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleicher Ablauf – nur Schauspieler*innen, der Chor und die Musiker*innen werden ausgetauscht, um eine, so Recke, "Schwarzkopie" auf die Bühne zu bringen. Diese Form der appropriation art thematisiert "den (Alb)traum völliger Assimilation" (S. 20) und ist laut Malzacher zugleich eines der überraschend seltenen Beispiele für institutionelle Selbstkritik im Theater. Die generelle Problematik der Repräsentation auf den europäischen und insbesondere deutschsprachigen Bühnen führt Malzacher auch historisch aus: Demnach versuchten performance arts und happenings seit den 1960er Jahren der Repräsentation "zu entkommen, indem sie den Fokus ganz auf die Präsenz, die Gegenwärtigkeit der Situation legten, die sie selbst erzeugen" (S. 28). Im Theater seien diametrale Vorstellungen der Repräsentationsproblematik zu finden: Während manche Theaterformen versucht haben, beispielsweise unter dem Einfluss von Antonin Artaud, die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem und damit zwischen Kunst und Leben aufzuheben, wollten andere, darunter am prominentesten Bertolt Brecht, diese transparent machen und zugleich jene Personengruppen einbeziehen, die künstlerisch wie politisch nicht ausreichend repräsentiert sind. Brecht war sich jedoch schon Anfang der 1930er Jahre der Repräsentationsproblematik bewusst, als er seinen Begriff der "Menschenfresserdramatik" ins Spiel brachte: "Doppelte Ministergehälter wurden den Mimen ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten" (zit. nach S. 30). Die Frage, wer wen repräsentiert, habe sich jedoch in den letzten drei Jahrzehnten zugespitzt, wenn man an die Arbeiten von Rimini Protokoll und ihren "Expert*innen des Alltags" oder an Formen der (Selbst-)Repräsentation in Theaterhäusern mit Kompanien kognitiv beeinträchtigter Schauspieler*innen denkt. Die Repräsentationsfrage erschöpft sich jedoch nicht in der Besetzungspolitik und im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten auf der Bühne, sondern wird angesichts der Diskurse des Anthropozäns, des Animismus und des Post-Humanismus aktuell auf anderen Ebenen virulent. Denn eine seriöse Auseinandersetzung mit Repräsentation im Theater schließt konsequenterweise auch nicht-menschliche Wesenheiten mit ein, beispielsweise in Mette Ingvartsens evaporated landscapes (2009), in der Landschaften aus Nebel und Licht choreographiert werden, oder in Stefan Kaegis Solo für einen Androiden Uncanny Valley (2018), in welchem der Mensch durch einen Roboter ersetzt wurde. Die Prognose von Malzacher in dieser Hinsicht bleibt optimistisch: "Während der Mangel an Perfektion des Roboters vielleicht bald schon Schnee von gestern ist, wird der menschliche Makel des Fehlerhaften auch künftig zum Theater gehören, das immer ein Medium der radikalen Gegenwärtigkeit und des Menschlichen, also des Kompromisses und des Scheiterns" sei (S. 46 f).
Angesichts der wissenschaftlichen und feuilletonistischen Beschäftigung mit "Identitätspolitik" bleibt jenes Kapitel überraschend kurz, was sicherlich auch daran liegt, dass das Thema in den anderen Teilen des Buchs immer wieder aufscheint. Malzacher nimmt hier trotz der Kürze eine globale Perspektive ein, führt politische Diskurse der amerikanischen identity politics gleichermaßen aus wie postkoloniale Theorien von Gayatri Chakravorty Spivak sowie Slavoj Žižeks Kritik an linker Identitätspolitik. Es ist das einzige Unterkapitel, das ohne ausführliches Fallbeispiel aus dem Theater auskommt und eher perspektivisch, in gewisser Weise utopisch bleibt: "Dabei ist die komplexe Gemengelage [der Identitätspolitik] eigentlich eine ideale Voraussetzung für eine Kunst, deren Aufgabe es nicht ist, alles einfacher zu machen, sondern neue Horizonte zu eröffnen, andere Lebens- und Sichtweisen mit den eigenen zu konfrontieren, eigene Verstrickungen in die politischen Dilemmas unserer Zeit aufzudecken. [...] Doch Angst, Schmollen oder Nostalgie sind keine guten Ausgangspunkte, um Kunst zu machen oder zu rezipieren. Besser sind Neugierde, Empathie und Mut" (S. 62).

Konkreter wird es im Kapitel zur "Partizipation". Hier verlässt Malzacher auch zunächst die deutschsprachige bzw. mitteleuropäische Perspektive und befasst sich mit Antanas Mockus, der 1995 Bürgermeister von Bogotá wurde. Mit dem Konzept der cultura ciudadana (Bürgerkultur) integrierte er praktische Theatererfahrungen in seine Politik und nutzte Strategien der zeitgenössischen Kunst, um "Alltagssituationen zu dekontextualisieren, sie anders zu rahmen, sie verstehbar zu machen" (S. 65). Seine Maßnahmen als Bürgermeister führten Bogotá weg vom unrühmlichen ersten Platz in der Weltrangliste gefährlichster Städte: Er veranlasste beispielsweise mittels Marketingmaßnahmen Kinder in weiten Teilen der Zivilbevölkerung dazu, Druck auf ihre Eltern auszuüben, damit sie in örtlichen Geschäften private Waffen gegen Spielzeug eintauschen. Auch ließ er sich in einem "Super-Bürger"-Kostüm fotografieren, um sich über seine vermeintliche Macht zu mokieren. In seine kugelsichere Weste – eine tägliche Standardausrüstung für kolumbianische Politiker*innen seines Status – schnitt er ein herzförmiges Loch, inszenierte dieses somit zugleich als eine Art Achillesferse und propagierte Gewaltfreiheit, während er damit zugleich sein eigenes Leben riskierte. Mit der politischen Popularisierung von theatralen Inszenierungsstrategien war Antanas Mockus ausgesprochen erfolgreich. Dieses konkrete Beispiel wird gleich einer Utopie in die Argumentation Malzachers eingeführt, wenn der Autor daraufhin attestiert, dass ein politisches Theater der Partizipation, in welcher das Publikum zur Beteiligung bewegt wird, meist nur eine vorgetäuschte Beteiligung meine, nämlich eine "als Aktivität verkleidete Passivität" (S. 67). Hier wird Malzacher auch fordernd: "Wo Theater politisch sein will, muss es sich mit der Frage nach Teilhabe auseinandersetzen und sich mitten hinein in das skizzierte Dilemma bewegen" (ebd.). Er unterscheidet zwischen Beispielen partizipativen Theaters, die gleichzeitig als Realität und als Fiktion erfahren werden (She She Pop, Arbeiten der Performerin Ann Liv Young) und stellt ihnen ein Theater der Immersion gegenüber, das "Partizipation als Unterwerfung" praktiziere. Als Beispiel fungiert hierbei ein multimediales Projekt, dessen Produktionskontext jedoch theatralen Inszenierungs- und Schautraditionen folge: DAU, ein seit 2009 laufendes Film- und Performancespektakel des russischen Filmemachers Ilja Chrschanowski, sei zunächst für die Beteiligten immersiv. Hunderte Schauspieler*innen, aber auch Wissenschaftler*innen, Köch*innen, Pfleger*innen etc. werden für drei Jahre in ein 24/7 Dauerrollenspiel im ukrainischen Charkiw angesiedelt. In Kostümen spielen sie in einem gigantomanischen Filmset und vor zahlreichen versteckten und nicht-versteckten Kameras den Alltag eines physikalischen Geheiminstituts nach, und zwar unter "immersiven Bedingungen; Gewalt, Alkohol und einige Kindszeugungen inklusive" (S. 90). DAU entspreche damit der künstlerisch-gigantomanischen Realität fiktiver Filme wie etwa Peter Weirs The Truman Show (1998) oder Charlie Kaufmans Synecdoche, New York (2008). Darin sieht Malzacher jedoch das Gefahrenpotenzial der Immersion: "Es geht nicht um Emanzipation und Erkenntnis, sondern um Unterwerfung" (S. 91).

Nahezu gegenteilig zu DAU verhalten sich die Fallbeispiele im Kapitel "Kunst und Aktivismus", in dem er künstlerische Strategien und Taktiken rezenter Protestkulturen thematisiert. Die Arbeiten der Londoner Clandestine Insurgent Rebel Clown Army (C.I.R.C.A.) versuchen in laufende Proteste zu intervenieren und aufgeheizte Konfrontationen zwischen Demonstrant*innen und Polizist*innen mit theatralen Mitteln zu verwirren bzw. die Exekutive zum Lachen zu bringen und somit eine zugespitzte Situation zu entschärfen. C.I.R.C.A. sind sogenannte artivists, die mittels theatraler Strategien Machtverhältnisse nicht nur in Frage stellen, sondern unterbrechen. Ähnlich funktionieren die Arbeiten des US-amerikanischen Performancekünstlers William Talen, der als charismatischer TV-Evangelikaler namens Reverend Billy zusammen mit anderen Künstler*innen die Church of Stop Shopping ins Leben gerufen hat. Ästhetisch und rhetorisch inspiriert von klerikalen US-Fernsehsendern tritt er mit Predigten und eigenen Gospelsongs in Gemeindezentren auf, aber auch auf Straßenkreuzungen, Parkplätzen und in Shopping Malls, um den neoliberalen Konsum zu kritisieren. Zu deutschen Beispielen kehrt Malzacher mit dem Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) zurück, beendet das Kapitel jedoch mit dem Beispiel des hoax, dem Streich in Form einer Falschmeldung mit dem Ziel, Massenmedien auf eine falsche Fährte zu locken: Als einen Höhepunkt der hoax-Strategie nennt er dabei die Arbeiten des Aktivistenduos The Yes Men, bestehend aus Jacques Servin und Igor Vamos. Durch die falsifizierte Identität von Servin als Sprecher des Konzerns Union Carbide gelang es ihnen 2004, am 20. Jahrestag der Industriekatastrophe mit tausenden Todesopfern im indischen Bhopal, in den Morgennachrichten der BBC World zugeschalten zu werden und eine Entschuldigung des Konzerns zu formulieren sowie Milliardenentschädigungen anzukündigen. Dass hinter der Figur des Firmensprechers der Yes Man Jacques Servin stand, flog noch am selben Tage auf, doch da war der Wert des Mutterkonzerns Dow Chemical an der Wall Street bereits um zwei Milliarden US Dollar gefallen. Der kurzfristige Börseneinbruch beweise: "Was ethisch richtig ist, wird vom Markt nicht unbedingt honoriert" (S. 106). The Yes Men sowie die Church of Stop Shopping gehören zur Strategie des laughtivism, die der serbische Aktivist Srđa Popović in die Protestkultur eingeführt hat.

Im letzten Kapitel zum "Theater als Versammlung" werden Strategien von Theatermacher*innen beschrieben, in deren Arbeiten Partizipation mittels Entscheidungsgewalt ein aktiver Bestandteil der Inszenierung ist. Mit Milo Raus General Assembly und Die Kongo Tribunale sowie Jonas Staals New World Summits wird das politische Potenzial von Theatern als Orte der Versammlung hinterfragt. Die Beispiele thematisieren die Partizipation eines Publikums, das eingeladen wird, Abstimmungen durchzuführen, innerhalb von fiktiven Tribunalen ein Urteil zu sprechen oder politische Forderungen an eine fiktive Weltklimakonferenz zu formulieren. Gemäß der Kuratorin Miwon Kwon findet hier Kunst nicht im sondern als öffentlicher Raum statt, was Malzacher als "das vielleicht wichtigste Anliegen politischen Theaters" benennt (S. 125). Malzacher hält fest, dass die Unterscheidung zwischen den Arbeiten Milo Raus und anderen preenactments darin liege, dass Raus Arbeit eine emotionale Identifikation mit den Figuren anstrebt. Und während dieser in seinem Genter Manifest betone, dass Theater kein Produkt, sondern ein Produktionsvorgang sei, dessen Vorarbeiten ebenfalls öffentlich sichtbar sein müssen, kritisiert Malzacher, dass just diese Vorarbeiten von Rau unsichtbar bleiben, weil sonst "das Streben nach Realismus, nach affektiver Katharsis, nach emotionaler Identifikation" konterkariert würde (S. 141). Malzacher schlussfolgert, dass Theater Versammlungen "re-enacten, enacten oder pre-enacten" und gleichermaßen "Räume der Analyse, der Reflektion, der Imagination oder der Intervention" schaffen kann – "aber in dem Augenblick, in dem es zur tatsächlichen Versammlung wird, endet der Realismus und die Realität beginnt. Mit all ihrer Theatralität" (S. 143).

Mit Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute liefert Florian Malzacher insgesamt einen vielstimmigen und detaillierten Einblick in aktuelle Entwicklungen eines politisch-aktivistischen Theaters und nimmt dabei zugleich historische Kontextualisierungen vor. Dass der Autor komplexe Begriffe (Immersion, Partizipation, u.a.) in ihrer kultur- bzw. theatertheoretischen Bestimmung für seine Zwecke stets nur kurz diskutiert, trübt den positiven Gesamteindruck keineswegs, da die Monographie eine Verortung des gegenwärtigen politischen Theaters anhand des Materials aus der Theaterpraxis und nicht basierend auf bestehenden Theoriemodellen anstrebt.

Autor/innen-Biografie

Senad Halilbasic

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, 2019 Promotion ebendort mit einer Dissertationsschrift zum Theater während des Bosnienkriegs. 2016 einjähriger Forschungsaufenthalt in Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien im Rahmen eines Marietta Blau Stipendiums. Regelmäßige Publikationen im RAY Filmmagazin und Theater der Zeit. Freiberuflich tätig als Drehbuchautor und Dramaturg. Seit 2019 Universitätsassistent Post-Doc für südslawische Literaturwissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Wien, 2021 Research Fellow am Exzellenzcluster "Temporal Communities – Doing Literature in a Global Perspective" der Freien Universität Berlin.

 

Publikationen:

– "Haunted Stages, Haunted Countries – How Theatre remembers an Interrupted Performance", In: Contemporary Southeastern Europe, 2018, 5(2), 70–79.

– "Was folgt auf die Zerstörung? – Das 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo." In: Theater der Zeit 2019/12, S. 76.

– Gemeinsam mit Jana Dolecki; Stefan Hulfeld (Ed.): Theatre in the Context of the Yugoslav Wars, Cham: Palgrave Macmillan 2018.

– "Bosnia and Herzegovina’s National Theatre in the Context of Language Politics During the War"; In: Jana Dolecki; Senad Halilbašić; Stefan Hulfeld (Ed.): Theatre in the Context of the Yugoslav Wars, Cham: Palgrave Macmillan 2018, p. 63–81.

– "'Dieses Theater hütet und schützt vor der Angst wie ein warmer Mutterleib.' Oder auch nicht. Neuverortungen der Funktionen von Theatergebäuden im Bosnienkrieg", In: Birgit Peter; Gabriele C. Pfeiffer (Hg.): Flucht – Migration – Theater. Dokumente und Positionen, Göttingen: Vienna University Press 2017, S. 389–396.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Theater