Hélène Beauchamp/Flore Garcin-Marrou/Joëlle Noguès/Élise van Haesebroeck (Hg.): Les Scènes philosophiques de la marionnette.

Montpellier: L’Entretemps/Institut International de la Marionnette 2016. (Reihe: La main qui parle). ISBN 978-2-35539-226-9. 318 S., Preis: € 26,00.

Autor/innen

  • Laurette Burgholzer

Abstract

Was ist der Mensch? Was ist ein lebendes Wesen? Wie begreifen wir die Bande zwischen Geist und Materie? Kein geringeres Unterfangen als das Abarbeiten an derartig existenziellen Fragen haben sich die Herausgeberinnen des Sammelbandes Les Scènes philosophiques de la marionnette auf die Fahnen geschrieben. Eine Ausgangsthese dient zur Rechtfertigung dieses Forschungsinteresses: Gegenwärtige technologische Entwicklungen, Repräsentanten des Posthumanen, seien eng verwoben mit neuen Entwicklungen des wissenschaftlichen, philosophischen und anthropologischen Denkens. Es gelte daher, das Reflexionsmodell der Marionette – nebst den im Gegenwartstheater ebenso präsenten Automaten, Robotern, digitalen Avataren und Cyborgs – zu reaktivieren, denn "la marionnette nous aide depuis longtemps à penser ce qu'il y a en nous d''autre' que l'humain" und sei ein wertvolles Werkzeug pour appréhender nos avatars ou prothèses contemporaines" (S. 12).

Figurentheater-Festivals, von AkteurInnen manipulierte Puppenkörper auf Sprechtheater-, Tanz- und Opernbühnen, Figurenspieler-Ausbildungsstätten der traditionellen oder performanceorientierten Formen gibt es jenseits und diesseits des Rheins in signifikanter Menge. Während allerdings heute in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft – anders als etwa zu DDR-Zeiten – Forschungen zum Figurentheater nur vereinzelt stattfinden und weder in Publikationen noch in der universitären Lehre einen prominenten Platz einnehmen, etabliert sich im frankophonen Raum seit über zwei Jahrzehnten ein Forschungsfeld, das historisches und vor allem gegenwärtiges Figurentheater mit seinen Querverbindungen zu anderen darstellenden und bildenden Künsten, zu Animationsfilm, Anthropologie, Psychologie und Philosophie in den Fokus nimmt. Ein exemplarisches Resultat dieser Entwicklung ist der vorliegende Sammelband – in welchem Beiträge einer 2015 in Toulouse veranstalteten Tagung um Artikel zusätzlich angefragter internationaler AutorInnen ergänzt wurden –, der Schnittstellen von Figurentheater und Philosophie aufspürt und reflektiert.

Die "marionnette" umfasst als französischer Sammelbegriff alle Arten von Kunstkörpern, die im Figurentheater zum Einsatz kommen können – seien es Fadenmarionetten, Handpuppen, Muppets, Bunraku-Puppen, Schattentheater-Figuren etc. Dementsprechend breit gefächert sind die diskursiven Verwendungen und Fallstudien aus der Praxis, die in den 21 Beiträgen des Bandes thematisiert werden.

Die nach fünf Schwerpunkten gruppierten Texte bieten diverse Herangehensweisen an: Es wird – wie es bereits der Titel des Bandes suggeriert – einerseits die Verortung und Bedeutung der Marionette als Metapher in philosophischen und literarischen Texten von der Antike bis zum 20. Jahrhundert anhand isolierter Fälle – darunter Platon, Rainer Maria Rilke, Gilles Deleuze – untersucht, in Hinblick auf Verhandlungen des Mensch- und Ding-Seins (siehe Beiträge von Cristina Grazioli, Aline Wiame, Létitia Mouze). Über diese altbekannte und theaterwissenschaftlich nur begrenzt verlockende Frage hinausgehend, nimmt die Publikation aktuelle technologische Entwicklungen zum Anlass, um Verhältnisse der Eigen- und Fremdwahrnehmung, der Delegation, Alteritätserfahrungen und körperlichen Mischverhältnisse in dieser Neubestimmung der Grenzen des Menschlichen auszuloten. Carole Nosellas Beitrag präsentiert in diesem Themenfeld eine Analyse immersiver Techniken mittels VR-Brillen als das Schlüpfen in die Haut eines Anderen und somit als "expérience marionnettique" (S. 229) mit Befreiungspotential, während Muriel Plana in ihrem Artikel Cyborg-Experimente, -Diskurse und -Inszenierungen mit Figurentheater querliest, als Kritik und Phantasma des Menschlichen, mit Ausblick auf queere Utopien.

Ein weiteres Themengebiet umfasst Praktiken und Ästhetiken von Figurentheater, die diskursiv mit metaphysischen Interpretationen überlagert, oder von diesen konstituiert werden. Hierzu zählt die Hinterfragung des Figurentheater-Klischees der Animation als rational nicht fassbarer Beseelungsakt lebloser Materie durch die menschlichen Beweger. Diese romantische Vorstellung wird etwa im Artikel von Élise Van Haesebroeck am Beispiel der Körpermasken von Ilka Schönbein entmystifiziert: Jene Seele steckt womöglich doch in der Körpermechanik, und die Spezifik der Körper-Teile und Teil-Körper in Schönbeins Stücken eröffnet dem Publikum neue Möglichkeiten, das Ich und das eigene Verhältnis zur körperlich-psychischen Integrität zu denken.

Der Band gibt auch Überlegungen Raum, die Beziehungen zwischen FigurenspielerInnen und Spielfiguren in der Aufführungspraxis als Manifestationen oder auch als Reflexionsmodell begreifen, um Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt und zur Welt der Dinge nachzuspüren. Die Artikulationen zwischen Objekt, Körper und Marionette werden beispielsweise von Esa Kirkkopelto unter dem Begriff "prothèse de l'âme" (S. 128) theoretisch und praktisch befragt, mit dem Wunsch nach einer graduellen Überwindung des Anthropozentrismus zugunsten der Entwicklung einer "pensée de l'objectivité sans sujet" (S. 140) – welche den Praktiken von Figuren- bzw. Objekttheaterpraktiken und aktuellem philosophischen Denken gemein sei.

Der fünfte, fachlich innovativste Themenschwerpunkt des Sammelbandes wird in der ausführlichen Einleitung stark gemacht, entfaltet im Rahmen der traditionellen Print-Publikation jedoch nicht die entsprechende Wirkung. Es handelt sich um das experimentelle Erforschen einer "pensée-marionnette" (S. 14), eines spezifischen Denkens, das sich aus und während einer Aufführungspraxis generiere, in welcher mit der Kunstform eigenen, singulären Verhältnissen zum Raum und zur Zeit, zum menschlichen und nicht-menschlichen Körper operiert werde. Das Werkzeug der jeweiligen künstlerischen Praxis – hier das Spielobjekt bzw. der Puppenkörper – sei konstituierend für eine differenzierte Form des Denkens. Letztlich lautet die Devise: Die Philosophie ist keine objektivierende Königsdisziplin, die Künste denken selbst.

Die Betonung der Verknüpfung von Forschung und Praxis, die während der dem Sammelband zugrundeliegenden Tagung in Form von "recherche-création"-Workshops (S. 14) realisiert wurde, entspricht der seit einigen Jahren in unterschiedlichen Sprachräumen strategischen Platzierung von art-based Research in unterschiedlichen institutionellen Forschungs- und Ausbildungsprofilen. Die Schwierigkeit dieser Methodik besteht womöglich weniger in der tatsächlichen Umsetzung und Erprobung, als in der Dokumentation der Ergebnisse und Gestaltung ihrer Veröffentlichung für ein Publikum, das die Workshop-Erfahrung nicht teilt. Im Sammelband wurde auf eine Mischung aus (nicht systematischer) fotographischer Dokumentation eines derartigen Figurentheater-Denk-Workshops – mit Theaterwissenschaftsstudierenden aus Toulouse, unter der Leitung von Joëlle Noguès – zurückgegriffen, in Kombination mit kurzen Kommentaren zum szenischen Ablauf und Interpretationen des Bühnengeschehens durch die Beteiligten in Gesprächsform. LeserInnen können auf diese Weise zwar in Erfahrung bringen, dass der Workshop mit dem Topos der Grazie und des Bewusstseins aus Kleists Marionettentheater-Text begann, und die Studierenden nach physischen Entsprechungen für die Grade des Bewusst-Seins gesucht haben (von der Skelett-Bunraku-Puppe über kopflose Menschenkörper hin zum körperlosen Menschenkopf); der Nachvollzug des Prozesses sowie der Überlagerungen von Reflexion und Agieren ist jedoch nicht möglich. Die Grenzen des gedruckten Buchs mit Abbildungen und Text machen hier deutlich, dass eine Nutzung von Internet-Plattformen zur Veröffentlichung von u. a. (kommentierbaren) Videoaufzeichnungen und Dokumenten aus dem Arbeitsprozess dieser Form von Forschung gerechter werden könnte.

Die Forcierung der Zusammenarbeit mit PraktikerInnen zugunsten inhaltlicher und methodischer Erweiterungen und Korrekturen wird allerdings im gesamten Tagungsband deutlich: So ist u. a. die zum Tagungsthema von den Compagnien Houdart-Heuclin und La Fanfara konzipierte Inszenierung Le petit théâtre d'objet des philosophes in Bild und Text dokumentiert, Nicolas Gousseff reflektiert seine Spiel- und Lehrpraxis des "corps-castelet" (S. 280) als ein Kartographieren des eigenen Körpers, zwei weitere professionelle Figurentheaterakteure (Pierre Blaise und Giorgio Pupella) haben das letzte Wort im Sammelband in Form abschließender Kommentare zur Tagung, und Joëlle Noguès, Praktikerin und Pädagogin, ist eine der vier Herausgeberinnen des Bandes. Die weiteren drei Herausgeberinnen – die Forscherinnen Hélène Beauchamp, Flore Garcin-Marrou und Élise Van Haesebroeck – haben sich bereits in der Vergangenheit mit Publikationen, Qualifikationsarbeiten und Forschungstagen zu Figurentheater als Spezialistinnen der Materie zwischen Theater-, Literaturwissenschaft und Philosophie bemerkbar gemacht; der ebenfalls 2016 erschienene Band Marionnette, corps-frontière beinhaltet, in bescheidenerem Ausmaß, ähnliche Fragestellungen wie Les Scènes philosophiques de la marionnette, aber mit Fokus auf räumlichen und physischen Konstellationen von Figuren-, Objekt- und Spielerkörpern.

Nicht zu unterschätzen sind bei der Veröffentlichung von Forschungsarbeiten zu Figurentheater die editorischen Tätigkeiten des 1981 gegründeten Institut international de la marionnette (IIM), in dessen Reihe La main qui parle – herausgegeben von Éloi Recoing – der besprochene Sammelband erschienen ist. Das IIM, zugleich Forschungs- und Dokumentationszentrum, empfängt internationale WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen, im institutionellen wie auch personellen Verbund mit der École nationale supérieure des arts de la marionnette, der einzigen reinen Figurentheater-Hochschule Frankreichs. Für französische Verhältnisse überraschend, ist dieser Knotenpunkt für Forschung, Archiv, Edition und Pädagogik nicht in Paris angesiedelt, sondern in der Kleinstadt Charleville-Mézières in den Ardennen.

Die Philosophien der Marionette werden in diesem Sammelband nicht intellektualistisch durchexerziert, vielmehr erweitert das methodische Innovationsbemühen der diskursiven und experimentellen Verflechtung von Praxis- und ReflexionsspezialistInnen den Horizont. Die Heterogenität des Textmaterials – wissenschaftliche Artikel, Künstlergespräche, Aufführungsdokumentation, Kommentare, Diskussionsrunden – macht den Sammelband zudem für ein breiteres Publikum interessant. Auf die Fragen "Qu'est-ce que l'homme ? Qu'est-ce que l'être vivant ? Qu'est-ce que la liberté ? Comment envisager les liens entre l'esprit et la matière ?" (s. Klappentext) erhalten LeserInnen – erwartungsgemäß – keine endgültigen Antworten, doch offeriert der Sammelband zwischen Figurentheater und Seelen-Prothesen, "automate spirituel" (S. 193), "masque de corps" (S. 28) und "avatar" (S. 232) allerhand Anreize zum Überdenken und Erproben.

Autor/innen-Biografie

Laurette Burgholzer

Seit 2017 Postdoc-Angestellte des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern, sowie Lehrbeauftragte der École supérieure d'art dramatique in Paris. 2015–2016 OeAD-Stipendiatin (Marietta Blau) an der Französischen Nationalbibliothek. 2011–2015 Universitätsassistentin Praedoc bei Prof. Dr. Stefan Hulfeld, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Aktuelles Forschungsprojekt zur Ausbildung von FigurentheaterspielerInnen sowie zu Praktiken der offenen Manipulation im Gegenwartstheater. Im Rahmen ihrer Dissertation Masken der A/Moderne (2017) hat sie historiographische Grundlagenforschung zur Wiederentdeckung der Maske in Frankreich um 1900 geleistet, mit Fokus auf den Pantomimen Farina, Jacques Copeau und Charles Dullin.

Veröffentlicht

2018-05-15

Ausgabe

Rubrik

Theater