Alina Borkowska-Rychlewska: Shakespeare in 19th-Century Opera. Romantic Contexts, Inspirations and References.

Berlin u.a.: Peter Lang 2019. ISBN: 978-3-631-77899-9. 307 S., Preis: € 67,30.

Autor/innen

  • Michael Berger

Abstract

In der Romantik wurden Shakespeares Dramen vielfach als Werk eines so rezipierten 'Genies' verstanden, das dazu in der Lage war, die rigide Enge des klassischen Regeldramas zu überwinden. Vielerorts galten Shakespeares Stücke als Ideal des 'neuen' romantischen Dramas; in seinem Œuvre suchte man nach neuen Vorbildern. Die Shakespeare-Begeisterung des 19. Jahrhunderts ist auch an der Frequenz und der (bis heute andauernden) Beliebtheit von laufend erscheinenden Opernadaptionen seiner Werke ablesbar. Viele dieser Stücke stammen aus der Feder der erfolgreichsten und profiliertesten Komponisten und Librettisten dieses Jahrhunderts; nicht zuletzt deshalb gilt Shakespeare als einer der fruchtbarsten Vorlagengeber für das Musiktheater dieser Zeit.

Anhand einiger ausgewählter Opernadaptionen von Shakespeares Werken versucht Alina Borkowska-Rychlewska die Verknüpfung zwischen der typischen Opernsprache des 19. Jahrhunderts und der romantischen Shakespeare-Rezeption aufzuzeigen: Musiktheater spiegle nämlich – oftmals auch unbewusst – die zeitgenössische, romantische Auffassung von Shakespeares Werken wieder. Die Autorin, assoziierte Professorin am Institut für Romantik des Institutes für Polnische Philologie an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, teilt ihre Arbeit zu diesem Zweck in zwei große Abschnitte. Im ersten Teil werden einzelne Opern in ihrem Verhältnis zur jeweiligen Vorlage untersucht, während im zweiten Teil die Aufführungsgeschichte von Shakespeares Werken und deren musiktheatrale Adaption in Polen, die sich vor allem auf die Warschauer Bühne konzentrierten, vorgestellt wird.

Im ersten Teil, "Towards Drama", begutachtet Borkowska-Rychlewska acht Opernadaptionen. Bereits in der einleitenden Analyse von Shakespeares A Midsummer Night’s Dream wird die inhärente Musikalität von Shakespeares Werken betont, die später auch auf die Oper angewandt werden soll. Die Musik sei bei ihm ein kompositorisches, strukturelles Element, welches in diesem Fall die übernatürliche von der natürlichen Welt trenne. Die Autorin bezieht sich hierbei auf Ludwig Tieck, der Musik für eines der Hauptmittel zur Erzeugung des Wunderbaren hielt; neben Tieck werden auch Schlegel, Hugo und Madame de Staël in der Publikation noch häufiger angeführt, auf deren theoretischen Überlegungen zur Romantik die analytischen Teile der Arbeit hauptsächlich fußen. Musikalische Mittel, so die Autorin weiter, können sowohl Chaos als auch Ordnung schaffen – und gliedern in diesem Sinn auch die Sphären im Midsummer Night’s Dream. Die 'reale Welt' des Stücks werde durch eine "disharmony which is harmonious" (S. 27) geprägt, worin sich bereits ein wichtiges ästhetisches Credo der Romantik offenbart: die Schönheit des natürlichen Chaos. Nebenbei werde im antithetischen Charakter der Stückstruktur, in der etwa die übernatürliche und die natürliche Welt, aber auch etwa Titania und Oberon diametral gegenüberstellt werden, auch der Einfluss der masque auf Shakespeares Bühnenkonzeption deutlich. Auch Carl Maria von Webers Oberon, dessen Singspielform indirekt auf die Tradition der masque zurückgeht, zeichne sich durch die für Shakespeare typische und in der Romantik gefeierte Tendenz aus, starke Widersprüche miteinander zu vermengen; was bei Shakespeare im Text deutlich wird, spiegle sich im Oberon vor allem in der Musiksprache Webers. Diese Charakteristika werden in den nächsten Kapiteln immer wieder aufgegriffen und variiert.

Im Anschluss folgt ein Kapitel über Jacques Fromental Halévys und Eugène Scribes Oper La Tempesta. Bereits in Shakespeares Stück sei die Musik – wie für ihn üblich – handlungstreibend und berge eine harmonisierende Wirkung, die in diesem Fall eine "spiritual transformation" (S. 41) der Figuren bewirke. In der Opernbearbeitung sei jedoch laut der Autorin deutlich der Einfluss des Melodramas zu spüren: Die Handlung werde monosemiert, der Fokus des Plots liege hier auf der Liebesgeschichte und am Schluss der Oper stehe nunmehr der eindeutige Triumph des Guten über das Böse. Diese Melodramatisierung mache sich auch Verdi in Macbeth zu eigen: In der Hyperbolisierung der Figur der Lady Macbeth, die bei Shakespeare noch nicht so eindeutig die Rolle der Drahtzieherin innehatte, zeige sich eine für das Melodrama charakteristische Typisierung. Generell sei auch hier eine Faszination mit dem Übernatürlichen zu beobachten, was sich vor allem in den Hexen niederschlage. Bereits Schlegel beobachtet, dass diese auch in ihrer Abwesenheit immer in irgendeiner Form anwesend seien – ein Eindruck, den Verdi durch den auf die Sphäre des Übernatürlichen beschränkten Gebrauch von a-moll und A-Dur sowie e-moll und E-Dur aufrechterhält. Verdi verstehe es aber ebenso gut, die romantische Auslegung der Shakespeare'schen 'Dramaturgie der Gegensätze' in seine Oper einzubeziehen, was vor allem in den gemischten Stilebenen des Hexenchors und dem heiteren Mörderchor vor dem Anschlag auf Banco zum Ausdruck komme.

Die mittlerweile ausführlich diskutierten Standardelemente der "Operisierung" Shakespeares im 19. Jahrhundert – Typisierung, Harmoniestreben, Gegensätzlichkeit – tauchen auch in Gounods, Barbiers und Carrés Roméo et Juliette auf. Hierbei rückt mit der Liebesthematik ein weiteres romantisches Element in den Vordergrund: Ab dem Zeitpunkt, in welchem sich Romeo und Julia verlieben, wandle sich die zunächst recht konventionelle Musiksprache zu einem individuelleren Stil, der das romantische Postulat der subjektiven Wahrheit widerspiegle; das Paar werde von nun an musikalisch als eine einzelne Figur behandelt, was ebenfalls dem romantischen Ideal der Ganzheit entspreche. Ambroise Thomas' Hamlet hingegen zeichne sich vor allem durch die Vereindeutigung seiner Charaktere aus. Ophelias Wahnsinn werde klar durch die enttäuschte Liebe zu Hamlet ausgelöst, während letzterer im Vergleich zur Vorlage konkrete Gründe habe, Ophelia zu verstoßen. Auch hier zeige sich wieder das Schwarz-Weiß-Denken des Melodramas, welches die französische Hamlet-Tradition bereits vor Thomas' Vertonung entscheidend mitgeprägt habe.

Abschließend widmet sich Borkowska-Rychlewska den beiden Alterswerken Verdis. In Otello erkennt sie die romantische Idee wieder, nach der die spontane, ungezügelte Emotion die Essenz des Universums bilde. Bereits Rossinis Otello-Adaption, welche bezeichnenderweise die Konvention des lieto fine ignoriert und damit die Schönheit des Furchtbaren betone, zeichne sich durch ihre stereotype Emotionalität und Geschlechterordnung dezidiert als romantische Oper aus. Die Charaktere Iagos und Desdemonas werden von Verdi und Boito aber noch weiter ins Extreme gerückt, was die romantische Antinomie von Gut und Böse ins dramatis personae übersetze. Die innovative Musiksprache und die thematische Variation der Oper mache jedoch deutlich, dass es sich hier nur noch um einen Nachhall der romantischen Epoche handele. Auch wenn Verdis und Boitos Falstaff – ganz im Sinne Hugos – Erhabenheit und Groteske, Pathos und Gewöhnlichkeit vermische, so markiere sich die Oper durch ihren stark parodistischen Charakter, der den Weltschmerz des romantischen Helden ebenso aufs Korn nehme wie die Stereotypien des Melodramas, als Werk, das die Romantik bereits überwunden zu haben scheint. Gleichzeitig hätten Verdi und Boito aber – zumindest aus der Sicht des 19. Jahrhunderts – "a work more Shakespearean than the original" (S. 170) geschaffen.

Im zweiten Hauptkapitel des Buchs, "Towards Theatre", gibt die Autorin einen Überblick über die polnische Rezeptionsgeschichte einiger dieser Opern. Dieser Teil, der gut ein Drittel der Arbeit ausmacht, kommt einigermaßen überraschend, wird er doch weder im Titel der Publikation noch im Klappentext thematisiert. Dabei ist Borkowska-Rychlewskas Ansatz stark polenzentriert, auch was die benutzte Literatur anbelangt. In Bezug auf die Geschichte der Opernrezeption im Polen des 19. Jahrhunderts, die in der englischsprachigen Community noch kaum behandelt wurde, schafft die vorliegende Publikation, selbst eine Übersetzung der polnischen Erstausgabe von 2013, hierdurch tatsächlich einen guten Überblick und einen geeigneten Startpunkt zur Untersuchung des polnischen Opernsystems im europäischen Kontext. Wieso dieser Umstand sowohl in der Verlagsinformation als auch im Paratext verschwiegen wird, bleibt jedoch schleierhaft.

Anhand von fünf Werken wird hierbei nun der Versuch unternommen, am Beispiel der Warschauer Bühne nachzuzeichnen, wie die Shakespeare'schen Originalwerke im 19. Jahrhundert durch den Geist der Romantik langsam die Bearbeitungen im klassizistisch-konventionellen Stil wieder ablösten und die Bühne zurückeroberten. An dieser Entwicklung, so die These, habe auch die Oper ihren Anteil gehabt: Erst durch die quasi-shakespearianische Dramaturgie der romantischen Oper und die enthusiastische Aufnahme durch die Kritik sei eine Rehabilitierung des Dramatikers auf der Theaterbühne möglich geworden. Rossinis Otello wurde beispielsweise als Werk der universalen Romantik aufgefasst, das eben durch seine dezidiert kosmopolitische Tendenz auch ein Substitut für die sich erst langsam etablierende polnische Nationaloper darstellen konnte. Verdis Macbeth punktete trotz einiger Kritik durch den Einfluss des Übernatürlichen, die konsistente Psychologisierung der Figuren und das Übernatürliche – durch Qualitäten also, welche frühere Bearbeitungen konsequent zurückgeschraubt hatten. Gounods Roméo et Juliette wurde aufgrund der getilgten Widersprüchlichkeit kritisiert, obwohl das Werk selbst sozusagen auf einer Antithetik beruhe, wenn auch auf jener der melodramatischen Konventionalität; auch Thomas' Hamlet stand aus denselben Gründen in der Kritik. Verdis Otello hingegen drücke durch seine Verbindung von Melodik und Harmonik das romantische Konzept der Ganzheitlichkeit aus und könne somit getrost als "a musical Schlegel" (S. 256) bezeichnet werden kann.

Shakespeares Werke, so kommt die Autorin zum Schluss, seien ideale Vorlagen für Opernadaptionen, da sie Gefühle direkt adressieren; besonders der "Romantic anthropocentrism" (S. 277) und sein Streben nach Ganzheit füge sich perfekt in die Dramaturgie des englischen Dramatikers ein. Shakespeare-Opern seien aber vor allem auch als Symptom der romantischen Musiklandschaft bewertbar, die per se bereits extrem homogen und vielfältig sei. Alina Borkowska-Rychlewska schafft es, uns einen guten Überblick über dieses weite Feld zu geben, der durch die Konzentration auf einige wenige Beispiele an manchen Stellen leider etwas zusammenhanglos wirkt, aber dennoch durchwegs fundierte Analysen bietet. Auch ein genaueres Lektorat, vor allem bei musikalischen Fachbegriffen und Personennamen, wäre wünschenswert gewesen. Dennoch bietet die Autorin vor allem im ersten Teil einige interessante Interpretationen und Adaptionsanalysen: besonders die Kapitel über Macbeth, Otello und Falstaff sollen an dieser Stelle hervorgehoben werden. Und auch für Recherchen über die Warschauer Oper des 19. Jahrhunderts und deren Rezeption ist die Publikation gewinnbringend – deshalb ist es allerdings verwunderlich, dass man erst vom inhaltlichen Fokus auf polnische Operngeschichte erfährt, wenn man das Buch bereits aufgeschlagen hat.

Autor/innen-Biografie

Michael Berger

Seit 2014 Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Deutschen Philologie sowie der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Derzeit Tutor am Institut für Germanistik, Universität Wien. Studienschwerpunkte u. a. Oper und Literatur, Medialität der Oper, Librettologie; Europäische Romantik und das Romantische, Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Literatur und Wahnsinn; Apokalyptik, Eschatologie und Visionsliteratur.

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Veröffentlicht

2019-11-19

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Theater