Dana Pflüger: Musik und Handlung. Die Funktionen der Musik in Oper, Film und Schauspiel mit einer exemplarischen Betrachtung von Albert Lortzings Werken.

Bern u. a.: Peter Lang 2018. ISBN: 978-3-631-74441-3. 267 S., 1 farb. Graf., 6 s/w Graf., 20 Tab., 67 Notenbeispiele, Preis: € 75,10.

Autor/innen

  • Michael Berger

Abstract

Durch unsere Kenntnis der Gattungskonventionen der Oper haben wir uns mittlerweile an das Grunddilemma dieser Form gewöhnt, nämlich dass die Bühnenfiguren singen, anstatt zu sprechen. Ob die Musik nun lediglich für das Publikum bestimmt oder für die Figuren selbst wahrnehmbar ist, ist für uns nicht nachvollziehbar; eben deshalb gibt es dazu verschiedene Ansichten in der Musiktheatertheorie. Die bloße Anwesenheit der Musik zeugt davon, dass sie einen Zweck, eine gewisse Funktion für das Drama haben muss. Bemerkenswerterweise fehlte aber bislang eine systematische Erforschung; nur "am Wegesrand" (S. 13) konnte man in der Fachliteratur immer wieder einzelne Funktionsbeschreibungen von Musik finden. Dana Pflüger, studierte Musikdramaturgin und promovierte Musikwissenschaftlerin, versucht im vorliegenden Band diese Funktionen der Musik in der Oper zu bestimmen, in einem eigenen System zu klassifizieren und dieses anschließend am Beispiel ausgewählter Szenen aus Albert Lortzings Opern anzuwenden. 

Musik und Handlung verbirgt den systematischen Duktus einer wissenschaftlichen Arbeit – Pflüger dissertierte 2016 mit dieser Abhandlung – nicht. So beginnt der Text mit der Etablierung der Forschungsfrage, was denn eigentlich 'Funktionen der Musik' seien und welchen Mehrwert die Musik für theatrale Darstellungsformen biete. Dabei arbeitet Pflüger mit einem weiten Opernbegriff, entwickelt sie doch ein Funktionssystem, dass für alle Gattungen gelten soll, in denen "Handlung mit Musik verbunden ist" (S. 11). Die von Pflüger fokussierte Musiktheatralität umfasst unter gewissen Umständen etwa auch den Film.

Der Theorieteil beginnt mit der Beobachtung, dass bislang nur einige wenige musikalische Funktionen in der Oper systematisch untersucht wurden. Im Kapitel "Opernmusik" wird also zum einen die zweifellos meistdiskutierte musikalische Funktion des Leitmotivs in mehrere Unterfunktionen aufgeschlüsselt, zum anderen die drameninhärente Musik auf ihre Funktionalität hin untersucht. Pflüger stützt sich hierbei vor allem auf die Forschung ihres Dissertationsbetreuers Thomas Betzwieser zur Dialogoper: Durch die Abwechslung von gesungener und gesprochener Sprache wird die Drameninhärenz der Musik deutlich; Pflüger geht konsequenterweise noch einen Schritt weiter, indem sie auch die deutliche Trennung von Musik in der Handlung und Musik außerhalb der Handlung ("vermittelnde Musik", S. 26) herausstreicht. Im selben Kapitel wird der Leser auch mit zwei Theoretikern konfrontiert, welche für diese Arbeit essentiell sind. Zunächst präsentiert Pflüger die Ergebnisse von Peter Petersens Untersuchung Funktionen der Musik in der Oper, die eine "Vorstufe zu einem grundlegenden Funktionssystem" (S. 30) darstelle. Anschließend werden noch zwei sich widersprechende Denkmodelle Edward T. Cones verhandelt, welche sich mit der Frage beschäftigen, wie die Opernfiguren selbst Musik wahrnehmen. Die Grenze zwischen drameninhärenter und vermittelnder Musik, so geht aus der Diskussion dieser Modelle klar hervor, ist unscharf; bereits an diesem Punkt wird deutlich, dass diese Unterscheidung wesentlich für die Systematisierung von musikalischen Funktionen sein wird. Im Kapitel "Theaterwissenschaft" geht es dann in erster Linie um verschiedene Adaptionen von Pfisters narratologischem Kommunikationsmodell für die Oper durch Petersen, Betzwieser und Gostomzyk. Pflüger geht hierbei immer nach demselben Muster vor: Die Ansätze werden einzeln präsentiert, anschließend kritisch bewertet und auf ihre Tauglichkeit für ein neues Funktionsmodell geprüft.

Ausführlich behandelt der Band auch den theatersemiotischen Ansatz Erika Fischer-Lichtes und dessen Potential für die Oper. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob Musik ohne außermusikalischen Bezug überhaupt ein Zeichen sein kann. In der Bewertung dieses Ansatzes und Julia Liebschers Adaption desselben für die Oper scheinen zwei Kritikpunkte zentral: Erstens rücke im Operngesang die Verständlichkeit oft in den Hintergrund, sodass er nicht mehr primär als sprachliches Zeichen bewertet werden könne; zweitens sei die Funktion des Orchesters als außerdramatische Erzählinstanz inkompatibel mit dem semiotischen Modell. Dabei wird deutlich, wie sehr Dana Pflüger im 'literary-review'-Teil auf Vollständigkeit setzt, auch wenn die verschiedenen präsentierten Ansätze zwar nicht verworfen, so doch auf einzelne Punkte reduziert werden und dadurch nicht immer unmittelbar relevant für die eigene Theoriebildung wirken.

Nach einem kurzen Kapitel über die Funktion der Schauspielmusik widmet sich Pflüger der Filmmusikwissenschaft, welche bereits mehrere Funktionssysteme ausgearbeitet hat. Nun gelte es, diese Systeme und ihre Kompatibilität mit musiktheatralen Formen zu erproben und sie im Anschluss in ein allgemeineres Funktionssystem zu überführen. Zu Beginn charakterisiert Pflüger anhand mehrerer theoretischer Modelle die Funktionalität von Filmmusik: Hervorzuheben ist hierbei Hansjörg Paulis Unterscheidung zwischen Bildton und Fremdton, die hier zum spezielleren Gegensatzpaar diegetisch/extradiegetisch weitergedacht wird, wobei es nicht mehr um die Quelle der Musik, sondern um die Wahrnehmung derselben durch die Figuren geht. Im nächsten Unterkapitel, "Filmmusik und Narratologie", wird der Film dann auch narratologisch in die Nähe der Oper gerückt. Genauso wie das Orchester als Erzählinstanz des Musiktheaters und als Kommunikationsmedium des Komponisten gedeutet wurde, so fragt man sich auch im Film, ob die zu hörende Musik zum impliziten Filmemacher oder zum filmischen Erzähler gehört. Auch wird der Film als Kunstform geschildert, der durch seine Erzählinstanzen Kameraführung bzw. Schnitt und Musik in größerer Nähe zum Roman steht als zum Theater. Indem Pflüger den Film mit der Oper ontologisch engführt, gelingt es ihr überzeugend, den Transfer von filmmusikwissenschaftlichen Funktionssystemen in die allgemeinere Musiktheaterwissenschaft zu rechtfertigen. Um die narratologische Nähe der beiden Kunstmedien herauszustreichen, präsentiert die Autorin im Anschluss exemplarisch sechs bedeutende Funktionssysteme für Filmmusik.

Diese Verwandtschaft von Film und Oper fordere "eine Zusammenführung der Ergebnisse geradezu heraus" (S. 118). Pflüger baut ihr Funktionssystem im nun folgenden Hauptteil nach dem Vorbild der Filmmusikforschung tabellarisch auf, was einen Kontrast zur verschachtelten Struktur der Kommunikationsmodelle darstellt, die vorher oft zur Erläuterung der Funktionalität von Opernmusik verwendet wurden. Auch wird aufgrund der potentiellen Multifunktionalität der Musik das Streben nach einem möglichst einfachen Modell verworfen, "denn bei einer so komplexen Kunstgattung wie der Oper schiene es eher als unzulässige Vereinfachung, wenn das erklärende System ihr in seiner Komplexität nicht mindestens ebenbürtig wäre" (S. 119). Ob dieser Umkehrschluss sinnvoll ist oder nicht, sei dahingestellt; ihr Versprechen löst die Autorin jedenfalls ein. Pflügers Modell basiert auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Metafunktionen und dramatischen Funktionen. Als Metafunktionen werden in Anlehnung an Pauli Faktoren bezeichnet, die ihre Funktion außerhalb des jeweiligen Werkes finden – nämlich genre- und zeitspezifische Konventionen, Inter- und Binnentextualität, sinnlich-persuasive und ökonomische Faktoren. Dramatische Funktionen jedoch stehen im Bezug zum jeweiligen Werk. Die Autorin unterteilt sie zunächst in extradiegetische (Musik als Kommentar) und diegetische (Musik als Bericht) Funktionen; erstere werden nochmals in strukturelle und inhaltliche Funktionen unterteilt, letztere in Unhörbares als Musik, Geräusche als Musik und drameninhärente Musik. Dana Pflügers Funktionssystem kann also als Resümee der vor ihr entwickelten musikalischen Funktionssysteme gesehen werden, wobei sie neben filmmusikwissenschaftlichen Modellen auch Erkenntnisse aus narratologischen Kommunikationsmodellen und opernwissenschaftlich bereits diskutierten Funktionen übernimmt.

Das neu erarbeitete Konzept wird nun exemplarisch an Albert Lortzings speziellem Umgang mit Musik in seinen Opern erprobt. In der Singschul-Szene von Zar und Zimmermann wird etwa neben als Stilprinzip eingesetzten Motiven das Hin- und Herspringen zwischen drameninhärenter und nicht-drameninhärenter Musik thematisiert: So wie der Chor scheint auch das Orchester für sich an einer Kantate 'herumzuprobieren', sodass erst zum Schluss der Probe ein harmonisches Zusammenspiel in C-Dur erreicht werden kann. Ein ähnlicher Wechsel kann in der Metaoper Die Opernprobe beobachtet werden, in welcher der Kontrast zwischen drameninhärenter und nicht-drameninhärenter Musik immer undurchsichtiger wird. Ein weiteres Beispiel aus Zar und Zimmermann, das Sextett, zeigt auf, wie durch den Wechsel von kontemplativen und handlungstreibenden Teilen zwei getrennte Handlungsstränge parallel fortgesponnen werden können. Am Beispiel des Freiheits- und des Rocco-Motivs in Casanova wird dann eine metafunktionale Verwendung von Musik beschrieben, eine politische Kommentierung durch die Musik nämlich, die nicht zensierbar ist. In einer scharfen Analyse legt Pflüger überzeugend dar, wie "das Streben nach Freiheit [durch starke musikalische Repräsentation] zum zentralen Thema der Oper erhoben" (S. 210) wird. Abschließend wird noch die gesellschaftskritische Metafunktion der Fünftausendtaler-Arie aus dem Wildschütz aufgearbeitet.

Dana Pflügers erklärtes Ziel ist es, "ein System zu erstellen, das Gültigkeit für alle Kombinationen von Musik und Handlung beanspruchen kann" (S. 119) – dass der Fokus auf der Oper liegt, solle lediglich unterstreichen, dass dieses das erste musikalische Funktionssystem sei, das auch für die Oper gelte. Zu diesem Zweck hat Pflüger ein tabellarisches System erstellt, dem zahlreiche ältere musikfunktionale Modelle zugrunde liegen. Der Leser erhält durch die intensive Beschäftigung mit diesen Vorgängermodellen einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand, sodass der erste Teil von Musik und Handlung auch eine detaillierte Zusammenfassung für eine Beschäftigung mit dem Thema 'Funktionen der Musik' bietet, die aber im Kontext der eigenen Theoriebildung vielleicht etwas zu ausführlich ausgefallen ist. Ob dem neuen System wirklich Allgemeingültigkeit zukommen kann, bleibt abzuwarten. Der letzte, praktische Teil des Buches jedoch legt eindrücklich dar, dass Pflügers musikalisches Funktionssystem zumindest für Lortzings Opern ein fruchtbares Analyseinstrument darstellt.

Autor/innen-Biografie

Michael Berger

Seit 2014 Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Deutschen Philologie sowie der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Derzeit Tutor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. Studienschwerpunkte u. a. Oper und Literatur, Medialität der Oper, Librettologie; Europäische Romantik und das Romantische, Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Literatur und Wahnsinn; Apokalyptik, Eschatologie und Visionsliteratur.

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Veröffentlicht

2019-05-15

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Rubrik

Theater