Lann Hornscheidt/Lio Oppenländer: Exit Gender. Gender loslassen und strukturelle Gewalt benennen: eigene Wahrnehmung und soziale Realität verändern.

Berlin: w_orten & meer 2019. ISBN: 978-3-945644-17-1. 432 S., Preis: € 11,00.

Autor/innen

  • Louise Haitz Universität Wien tfm

Abstract

Exit Gender adressiert all jene, die über ein Leben ohne die Ordnungs-, und Diskriminierungskategorie Gender nachdenken und sich dafür entscheiden (möchten), Gender loszulassen. Es beinhaltet sowohl theoretisch reflektierende, beispielhaft analysierende als auch persönlich formulierte, lebenspraktische Texte, die sich darum bemühen einen Weg aus der Zwangsstruktur Zweigeschlechtlichkeit zu beschreiben und zu beschreiten. Exit Gender ist ein gleichermaßen aktivistisches, wie bestehende Theorien erläuterndes Buch, das selbst relevante und neue Perspektiven zum wissenschaftlichen und aktivistischen Diskurs um Antidiskriminierung, Sprachhandeln und Gewalt einbringt.

Das Buch adressiert wertschätzend ein Du, das mit den Autor_innen das Bedürfnis "nach einer Gesellschaft ohne Gewalt" teilt (S. 14). Es will 'exgendernde', also die Kategorie Gender auflösende Handlungen, Wahrnehmungs- und Seinsweisen ebenso er-finden wie erklären als auch dazu anleiten sie auszuführen – es ist ein aktivistisches Buch. Gleichzeitig ist die Herangehensweise, Gender als Struktur zu begreifen und z. B. die Vermittlungsprozesse zwischen Individuum und Struktur als Verinnerlichung, Selbstgewalt und Handlungsverantwortung zu beschreiben (Kapitel 4), deutlich von Theoriebildung getragen. Diese wird den Leser_innen vor- aber auch angetragen, was zumal als Aufgabenstellung gelesen werden kann – das Buch will was von seinen Leser_innen ebenso wie es für sie da, eine Hilfe sein will. Exit Gender lässt sich produktiv mit dem von bell hooks geprägten Theoriebegriff erfassen, nach dem Theorie eine befreiende Praxis sein kann (hooks, 1994, S. 59-77). Die theoretischen Grundlagen des Buches bilden intersektional informierte Gender- und Antidiskriminierungstheorie, Affekttheorie sowie Sprachwissenschaften. Inwiefern dieses Buch, das die Leser_innen duzt und autobiographische Geschichten, Gedichte und Übungen ebenso enthält wie einführende Erklärungen in Theorie und praktisches Sprachhandeln, entweder aktivistisch oder wissenschaftlich ist, darüber lässt sich streiten. Die Dringlichkeit des Anliegens macht es notwendig diese Unterscheidung zu befragen, etwa in der Aufwertung nicht akademisch abgesicherter Wissens- und Schreibformen, als auch sie hintanzustellen, um die Thesen und Beiträge des Buches zu würdigen. 

Theoretisch bietet Exit Gender einen wertvollen Beitrag in der gleichermaßen aktivistisch-pragmatischen wie philosophisch-kritischen Bearbeitung des Identitätsbegriffes 'Gender'. Hornscheidt/Oppenländer begreifen Gender, "egal in welcher Form, in welchem Selbstverständnis und in welcher Realisierung und Funktion" als gewaltvoll (S. 15). Sie vergleichen Gender, also die soziale Zuschreibung und biologis(tis)che Voraussetzung der Kategorien männlich/weiblich unter anderem mit der Kategorie 'Rasse' – bei beiden Komplexen müsse, so argumentieren sie schlüssig, davon ausgegangen werden, dass sie nur im Rahmen von Rassismus bzw. 'Genderismus' existieren (ebd.). So wenig es menschliche 'Rassen' außerhalb des Gewaltsystems Rassismus gibt, so wenig gebe es eine natürliche, kultur-, politik- oder gewaltfreie Kategorie Geschlecht oder Sex, die so beide im Begriff Gender erfasst sind. Hornscheidt/Oppenländer erzählen sowohl theoretisch als auch praktisch von Möglichkeiten, den Zweigenderismus in konkreten Situationen und Beziehungen zu verlassen. Statt jedoch neue Identitätspositionen zu entwerfen, wie etwa jene der non-binären Identität oder der agender Identität, an die erneut Rollenvorstellungen und Normen geknüpft werden können und die das Prinzip einer geschlechtlichen Zuordnung bewahren, begreifen sie Exgendern als politisches Bewegen, das keine neuen Identitäten schaffen, sondern ein Handlungskonzept sein soll (vgl. S. 23f). Ein Mensch 'ist' nicht "Exgender", sondern handelt exgendernd, versucht also Gender sowohl im Wahrnehmen als auch im (Sprach-)Handeln aufzulösen. Dabei haben Hornscheidt/Oppenländer ein Bewusstsein für die bestehende Not(wendigkeit) in potentiell gefährdenden Situationen nach genderistischen Identitätszuschreibungen wahrzunehmen und zu handeln, verweigern also ein moralisiertes Leistungsdenken in puncto antidiskriminierenden Handelns: "Das Bedürfnis, dich selbst zu schützen ernstzunehmen, bedeutet nicht, dass du einen groben 'Exgenderungsfehler' machst." (S. 154)

Lann Hornscheidt ist im deutschsprachigen Raum als Profex für Gender Studies und Sprachwissenschaft bekannt, da ex – wie im Pronomen "ex" zu lesen – kreativ-aktivistisches Sprachhandeln an deutsche Unis (und damit antifeministische Akteur_innen auf-)brachte. Das vorliegende Buch hat Hornscheidt gemeinsam mit Lio Oppenländer, dex zu Wechselwirkungen von Gender- und Gefühlskonzepten promoviert, verfasst. Den Möglichkeiten, sprachkreativ zu exgendern, wie dies hier schon mit dem nicht vergeschlechtlichenden Pronomen ex angedeutet ist (und im Folgenden übernommen wird), widmet das Buch Kapitel 6-10. Zunächst legen dex Autorex dar, inwiefern Sprachhandeln politisch wirksam, d. h. Wirklichkeit herstellend ist. Dies tun sie theoretisch, orientiert am Konstruktivismus, als auch anhand von Beispielen, die sie umformulieren. Weiters stellen ex eine Vielzahl an Möglichkeiten vor, Gender sprachlich aufzulösen. Hornscheidt/Oppenländer unterscheiden dabei emanzipatorisches exgenderndes Handeln von der diskriminierenden Praxis der 'Entgenderung', womit sie das machtvolle Absprechen von Genderidentitäten adressieren, wenn behinderte Menschen als geschlechtslos diskriminiert oder Personen, die nicht den Gendernormen entsprechend aussehen, aus öffentlichen, binär klassifizierten (z. B. Toiletten-) Räumen verwiesen werden (S. 311f). Ein Vorschlag exgendernden Sprachhandelns richtet sich darauf, statt typisierend Identitäten zu konstruieren, konkrete Situationen und Handlungen zu benennen. Statt etwa eine Person als "Feministin" zu bezeichnen, schlagen Hornscheidt/Oppenländer vor, von einer "Person, die feministisch handelt", zu sprechen. Es sei, so argumentieren sie überzeugend, "naheliegender, Feminismus mit konkreten Handlungen zu verbinden und nicht als ein unabhängiges, übergeordnetes Label zu verstehen." (S. 382)

Hornscheidt/Oppenländer appellieren an dex Lesex die sprachlich bedingten, eigenen Bilder im Kopf bewusst zu machen und zu reflektieren, wie sie von gendernden und auch anderen kategorisierenden Begriffen beeinflusst werden. Und sie ermöglichen, das eigene Sprachhandeln als Möglichkeit wahrzunehmen "das eigene Leben und die Gesellschaft mitzugestalten." (S. 308) Mit der Metapher der Pflanzen, die selbst durch Beton hindurch wachsen können, geben Hornscheidt/Oppenländer ein hoffnungsvolles Bild für die mitunter aussichtslos scheinende Aufgabe, sich gegen ein so verknöchert-standardisiertes Konzept wie "Geschlecht" einzusetzen: "Auch[,] wenn es manchmal so wirkt, als hättest du keine Gestaltungsräume, als wäre der Boden mit Beton versiegelt, gibt es doch immer wieder Möglichkeiten diese harte Oberfläche einzureißen oder aufzubrechen. Denn Pflanzen suchen ihren Weg und haben das Potential aus Betonwüsten Gärten wachsen zu lassen." (ebd.)

Exit Gender bietet hilfreiche, lebenspraktisch basierte und gendertheoretisch versierte Analysen. Eine beeindruckt besonders, da sie einen aktuellen Aufreger der stets von Politiken und Affekten regierten "Genderdebatte" aufgreift und auf bemerkenswerte Weise befried(ig)end auflöst. Unter der Kapitelüberschrift "Privilegierten diskriminierungskritisches Handlungsvermögen zusprechen" (S. 196) setzen sich Hornscheidt/Oppenländer mit dem berüchtigten 'Manspreading' auseinander. Mit 'Manspreading' ist ein Ausdruck erfunden worden, der eine bestimmte Sitzhaltung in öffentlichen Verkehrsmitteln (breitbeinig sitzen und anderen Fuß- und Sitzraum nehmen) als typisch männliches Sozialverhalten vergeschlechtlicht, eine raumgreifende, rücksichtslose Körperhaltung als verkörperte, männliche Anspruchshaltung ('entitlement') kritisiert. Hornscheidt/Oppenländer greifen dieses Beispiel auf, um zu erläutern, "inwiefern eine Trennung zwischen Individuen und genderistischen Strukturen relevant ist" (S. 196). Dex Autorex legen dar, dass die exgendernde Wahrnehmung der breitbeinig dasitzenden Person andere Einschätzungen der Situation und damit neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Statt bei einer Typisierung "typisch Mann!" stehen zu bleiben, die zugegeben Aggressionen Luft macht, bieten sich andere Erklärungen für die Haltung (Bequemlichkeit, der Wunsch Körperkontakt zu vermeiden, mehr individuellen Raum haben wollen (vgl. S. 197)); und die Option, lediglich zu beobachten, statt zu interpretieren. Während Hornscheidt/Oppenländer die Zuschreibung der scheinbar erklärenden Genderkategorie "männlich" als abschließend begreifen, wodurch zwischenmenschlicher Kontakt unterbunden würde, stellen ex die exgendernd, unvoreingenommenere Wahrnehmung als öffnend vor. Statt mit der Zuschreibung des privilegierten Geschlechts zu reagieren und eine Auseinandersetzung zu meiden, um antizipiertem Machogehabe auszuweichen, böte sich die Möglichkeit die eigenen Bedürfnisse (nach einem Sitzplatz) zu äußern und die andere Person zur Verantwortungsübernahme zu bewegen (den Platz freizugeben). Damit geht zwar das Potential eines offenen Konfliktes einher, wird aber auch die Wirkmächtigkeit der privilegierten Genderrolle gebrochen, denn wer Machtpositionen hinnehme, bestätige diese (vgl. S. 200). In der exgendernden Wahrnehmung und Adressierung von Verhaltensweisen, nicht deren geschlechtlicher Typisierung, sehen Hornscheidt/Oppenländer das Potential von wechselseitiger Begegnung und Befähigung zu Verantwortung und Achtsamkeit. Hier ließe sich Exit Gender an aktivistische Theorien transformativer Gerechtigkeit anschließen, bei denen gewaltvoll handelnden, also Machtungleichheit ausnutzenden Subjekten, Verantwortungsübernahme angetragen wird. Das Zusprechen von sozusagen atypischen, nicht typisierendem Handlungsvermögen stellen ex in diesem Punkt über das vermeintlich erklärende Wissen, welches die "vorgefertigte[n] Genderschablonen" (S. 199) über verkörpertes Handeln bieten. Hornscheidt/Oppenländer läuten damit jedoch keineswegs eine "Post-Gender-Gesellschaft" ein, in der gewaltvolles, Ungleichheit herstellendes Handeln nicht länger gegendert werde, also als genderistische Struktur begriffen werden kann. Genderismus solle im Gegenteil weder ignoriert noch kleingeredet werden (S. 200).

Exit Gender ist ein Buch mit hohen Ansprüchen, die umfangreich bearbeitet, in ihren Widersprüchen adressiert und sehr zugänglich verfolgt werden. Es bietet ebenso Diskussionsgrundlagen wie auch Antworten auf bestehende Debatten, die insbesondere auch in politischen Gruppen, die queer_feministisch handeln wollen, aufkommen. Auf die Widersprüche, die mit der Bewegung aus oder gegen Gendernormen und Gender als grundlegende Kategorie entstehen, ebenso wie auf schmerzliche und problematische Erfahrungen des nicht (mehr) Passens in die Genderordnung, bietet Exit Gender hilfreiche Perspektiven, die zwar Sprachhandeln fokussieren, sich jedoch nicht darauf beschränken.

 

Literatur

bell hooks: Teaching to Transgress. Education as the Practice of Freedom. New York 1994.

Autor/innen-Biografie

Louise Haitz, Universität Wien tfm

Louise Haitz hat ihren BA und MA an der Universität Konstanz in Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften abgeschlossen. Seit Oktober 2017 arbeitet sie als Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. In ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit der medialen Herstellung von Glaubwürdigkeit in Fällen sexualisierter Gewalt und den Normen "authentischen Leidens".

Downloads

Veröffentlicht

2019-11-19

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft