Carsten Reinemann/Angela Nienierza/Nayla Fawzi/Claudia Riesmeyer/Katharina Neumann: Jugend – Medien – Extremismus. Wo Jugendliche mit Extremismus in Kontakt kommen und wie sie ihn erkennen.
Wiesbaden: Springer 2019. ISBN 978-3-658-23728-8. 226 S., Preis: € 46,25.
Abstract
Reinemann et al. nähern sich in ihrem Band in mehreren Teilschritten den komplexen Beziehungen diverser Medien zu ihren jugendlichen RezipientInnen. Dabei liegt der Fokus darauf, wie ExtremistInnen vorgehen, um über die verschiedensten medialen Zweige Kontakt mit Jugendlichen zu knüpfen, um sie so für ihre Ideen zu gewinnen.
Die fünf AutorInnen des Buches nehmen sich der Thematik aus der Sicht der Kommunikationswissenschaft an. Ihrer tiefgehenden Forschung stellen sie zur besseren Einordnung kurze theoretische Abhandlungen und Einordnungen zu verschiedenen Formen von Extremismus voran und begründen so ihre Konzentration auf den Extremismus im Internet, wo Jugendliche heute mehr Zeit verbringen und sich informieren, als den Weg über die traditionellen Medien, wie das Fernsehen oder Radio zu gehen. Sie schließen diese längere Exposition mit der Vorstellung ihres theoretischen Modells und den konkreten Forschungsfragen. So strukturieren sie das Buch anhand von unterschiedlichen sogenannten "Forschungsdefiziten", die ihrer Meinung nach für die Präventionsarbeit bisher noch nicht gründlich genug aufgearbeitet worden sind (S. 3).
Zu diesen "Forschungsdefiziten" würden zum einen Intensität, Frequenz und Umstände des Kontakts von ExtremistInnen mit Jugendlichen in ganz bestimmten Kommunikationskanälen gehören. Im dazugehörigen ersten Kapitel entwerfen die AutorInnen ein empirisches Vorgehen mittels Face-to-Face-Befragungen: Gespickt wird dieses Kapitel, wie auch die folgenden, mit den zu den Befragungen gehörenden Grafiken und Tabellen, welche aber mitunter erschlagend wirken, angesichts der Fülle an Zahlen und Informationen. Problematisch ist zudem, dass die den Grafiken zugrundeliegende Erhebung, die gleichsam als Basis der Buchkonzeption dient, bereits im Sommer 2016 stattgefunden hat und nicht klar thematisiert wird, dass sich die Wichtigkeit der einzelnen sozialen Kanäle seitdem hat verändern können. Unabhängig davon zeigen die Forschungsergebnisse jedoch deutlich, dass der Kontakt mit Extremismus durch verschiedene Medien passiert und dort auch wiederum unterschiedlich intensiv vonstatten geht.
Im zweiten Teil der Studie werden die Befragten schließlich auf der Basis dieser ersten Ergebnisse und des unterschiedlichen medialen Kontakts mit Extremismus in vier Gruppen kategorisiert. Die größte Gruppe, "Die Unbedarften", bildet für die AutorInnen dabei die Jugendlichen ab, die laut eigener Aussage nur selten oder nie in Kontakt mit Extremismus kommen. Dagegen werden Jugendliche, die überdurchschnittlich viel Kontakt mit traditionellen Medien vorweisen können, als Gruppe 2, "Die Informierten" tituliert. In der dritten Gruppe "Die Reflektierten" werden die Jugendlichen zusammengefasst, welche in einen noch intensiveren bzw. häufigeren Kontakt mit Extremismus stehen würden und auch in den sozialen Netzwerken und auf Videoplattformen auf Extremismus träfen. Unter "Die Gefährdeten" schließlich werden die jungen Menschen zusammengefasst, bei denen sich ebenfalls ein reger Kontakt zum Extremismus zeige, der aber gleichsam auch eine gewisse politische Zuwendung zum Extremismus aufweise (S. 110f) – ein Kontakt, der vorwiegend durch rechtsextreme oder religiös fundierte Medienkanäle erfolge.
Insgesamt wird im Rahmen der Untersuchung festgestellt, dass extremistische Kontakte häufig während der gewohnheitsmäßigen Mediennutzung geschehe oder durch Hinweise von FreundInnen, Bekannten oder der Familie. Dabei zeigen die Ergebnisse, dass deutlich unterschiedliche Kompetenzen im Umgang mit extremismusbezogenen Medieninhalten bei verschiedenen Jugendlichen zu bestehen scheinen, was mit der Meinung der AutorInnen dazu führe, dass einzelne, unbekanntere extremistische AkteurInnen nicht erkannt und eingeordnet werden könnten. Diese Unterschiede würden gemäß der Studie auch davon abhängen, wie intensiv Extremismus und das politische Geschehen in der Schule, der Familie oder im Freundeskreis thematisiert werde.
In einem nächsten Kapitel versuchen die AutorInnen dann zu erweisen, wann und wie Jugendliche überhaupt mediale Inhalte als extremistisch erkennen. Dafür werden qualitative Interviews geführt und eine Think-Aloud-Methode angewandt, mit der die Befragten zu einer freien und ungesteuerten Reflexion über ein Thema verleitet werden sollen (S. 150). Gearbeitet wird mit den vier bereits etablierten Gruppen. In der Auswertung erweist dieses Kapitel, dass "Die Unbedarften" nur selten in Kontakt mit extremistischen Inhalten kommen, doch könne dies unter dem aktuellen Forschungsinteresse auch in neues Licht gerückt werden, weil dies womöglich bedeuten könnte, dass die Jugendlichen Inhalte nicht richtig einzuordnen vermögen. An dieser Stelle arbeiten die AutorInnen auch mit direkten Zitaten aus den Interviews, um ihre Schlüsse, die diese Befürchtung tatsächlich bestätigen, klar darzulegen. So zitieren sie die Reaktion eines Schülers, der auf einen Post des islamistischen Predigers Pierre Vogel mit den Worten reagiert: "Das hat ein bekannter Typ online gestellt [...] Habt ihr einen Stapel für wichtig? Weil es wichtig ist, zu spenden." (S. 158). "Die Informierten", die sich über die verschiedensten Kanäle informieren, wiesen hingegen ein hohes politisches Interesse und einen gewissen kritischen Blick auf die Medien auf, welche ihren Blick auf extremistische Inhalte deutlich schärfen, während "Die Reflektierten", die die Medien mehr aus einer Routine heraus konsultieren, unterm Strich trotzdem eine gestärkte Medienkompetenz besitzen würden, die mögliche inhaltliche Defizite mittels ihres medialen Konsumverhaltens ausgleichen würde. Dieser kritische Blick fehle der Gruppe von "Die Gefährdeten" vollständig und mache sie deshalb zu einfachen Zielen extremistischer Kontaktversuche. Allgemein werden Inhalte von Reinemann et al. dann als gefährlich eingestuft, wenn ExtremistInnen versuchen würden, über Spendenaufrufe oder aus der Nähe der Lebenswelt (Schule, Sport etc.) der Befragten zu agieren. Dagegen könne Sprache mit viel Aggressivität und Beleidigungen leichter von den Jugendlichen als kritisch eingestuft werden.
Abschließend geht das Buch noch der Frage nach, wie gut und anhand welcher Punkte Jugendliche extremistische Online-Inhalte identifizieren können. Dazu bekamen Jugendliche ein bestimmtes Meme in verschiedenen Versionen vorgelegt, das für einen Teil der ProbandInnen mit einem Gegen-Kommentar versehen war, der das Meme als klar extremistisch einstufte. Bei der Wahrnehmung des Memes stellte man fest, dass nicht ein einziges Merkmal, sondern erst die Kombination aus der fingierten Quelle, der Botschaft und der Gegenrede das Urteil der Jugendlichen beeinflusst hatte. Als wirkmächtig wurde also weniger das Meme selbst oder Teile davon identifiziert, als der bereits vorhandene, individuelle Hintergrund eines jeden Jugendlichen und vor allem der Fakt, wie ein Inhalt unabhängig von seiner Botschaft auf visueller Ebene wahrgenommen wurde. So führte beispielsweise eine Einstufung als 'witzig' oder 'cool' dazu, dass anschließend die Gesamtaussage des Memes auch weniger kritisch reflektiert wurde.
Das vorliegende Buch dokumentiert vor allen Dingen die Auswertung von Forschungsergebnissen. Erst im Schlusskapitel werden erste Ideen dazu abgegeben, wie man mit den errungenen Erkenntnissen in der präventiven Praxis umgehen sollte und wie vor allem AkteurInnen im pädagogischen Umfeld von Jugendlichen fruchtbare Anstöße gegeben werden können. Entsprechend wäre dringend der Frage nachzugehen, wie die Ausnutzung von Medien von extremistischen Gruppen deutlicher markiert werden kann und wie dabei MedienmacherInnen wie -konsumentInnen mehr in die Verantwortung zu ziehen wären. Der Erkenntnisgewinn der vorliegenden Forschung ist immens, und doch, wie schon angedeutet, ändern sich die Nutzungsprozesse der Jugendlichen in der heutigen Zeit schnell und so sind gerade die Thesen dazu, wo die Jugendlichen potentiell am häufigsten auf Extremismus treffen können und wann, längst überholt. Dazu passt auch ein kürzlich erschienener Artikel des Journalisten Christian Schiffer, der ein weiteres wichtiges Kontaktfeld im Bereich der Videospiele aufzeigt. Es wird bereits im Buch erwähnt, dass Jugendliche nur selten in Computerspielen mit Extremismus in Kontakt kommen (S. 88f), doch der Kontakt mit Extremismus – Schiffer konzentriert sich auf den Rechtsextremismus – im Bereich der Videospiel-Kultur in Zukunft beobachtet werden muss. So ist es eines der heutigen Phänomene in der Videospielwelt, dass über Videoplattformen wie YouTube oder Twitch Jugendliche anderen beim Spielen zuschauen können und der oder die Spielende aktiv über Chats Kontakt mit seinen bzw. ihren ZuschauerInnen/Fans hält und er oder sie damit zu einem bzw. einer virtuellen FreundIn und Vertrauten, aber auch gleichzeitig zum Sprachrohr für extremistische Interessen werden kann. Und auch, wenn das Buch seinen Forschungsschwerpunkt auf Jugendliche begrenzt, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Probleme der medialen Täuschungen durch ExtremistInnen nicht nur Jugendliche, sondern genauso Erwachsene betreffen, die sich durch Politikverdrossenheit und -müdigkeit von einfachen Lösungen eingeladen fühlen, extremistisches Gedankengut als positiv einzustufen.
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