Elizabeth Ellcessor/Bill Kirkpatrick (Hg.): Disability Media Studies.

New York: New York University Press 2017. ISBN: 978-1-4798-4938-3. 416 S., 16 s/w Abb., Preis: € 45,50.

Autor/innen

  • Stefan Schweigler

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-1-14

Abstract

Unter dem programmatisch verschränkenden Titel Disability Media Studies versammeln Elizabeth Ellcessor und Bill Kirkpatrick exzellente Artikel, die die Medienwissenschaft durch Begriffe und Perspektiven der Disability Studies erweitern und herausfordern wollen. Durch die jeweils medienwissenschaftliche Problemstellung und medienanalytische Methodik zeigen die Beiträge – umgekehrt – auch für die Disability Studies mögliche theoretische Verschiebungen in der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der soziokulturellen Konstruiertheit von Behinderung auf, indem sie diese Konstruiertheit als Effekt medialer Dispositive in Form von Repräsentation aber auch "beyond Representation" (Mack Hagood, S. 312) denken.

Dem Sammelband liegt ein erweiterter und intersektionaler Begriff von Disabilities zugrunde. Gemeinhin werden unter Behinderungen klinisch konnotierte, vermeintlich 'stärkere' und 'merkliche' motorische, sensorische oder geistige Beeinträchtigungen verstanden. Die überzeugende Erweiterung des Begriffs von Behinderung erfolgt, indem bspw. auch Gegenstandsbereiche der Neurodiversität und der Illness Studies besprochen werden: Dazu zählen unter anderem das Leben mit Autismus oder AD(H)S, oder auch mit chronischen Schmerzerkrankungen und sensorischen Erkrankungen wie Tinnitus, potentiell tödlichen viralen Infektionen wie AIDS/HIV sowie psychischen Dispositionen wie Depressionen und Angstzuständen. Der Begriff wird mithin nicht auf klinische oder legislative Definitionen von Behinderung verengt, sondern erstreckt sich auf alle mittel- und längerfristigen oder wiederkehrenden Formen der Reduktion von Handlungsfähigkeit durch Barrieren, die einer mutmaßlich idealen oder normalen motorischen, sensorischen, kognitiven und emotional-stabilen Befähigung von Körpern in den Weg gestellt sind. Aufgrund ebendieser Erweiterung des Begriffs von Disabilities im Plural empfiehlt sich schließlich notwendig auch seine intersektionale Perspektivierung, die Aspekte erweiterter Disabilities im Kontext von Rassismus, (Hetero)Sexismus, Klassissmus, ageism, lookism etc. sichtbar machen soll, wie im Band überzeugend ausgeführt wird. So geht es im Sammelband mitunter um die Verschränkung von Abnormalisierung und Effemination von Anxiety Disorders (D. Travers Scott/Magan Bates); um den verandernden, euro-ethnischen Blick auf nicht-weiße, vermeintlich animalisch-monströse Freak-Show-Künstler_innen (Lori Kido Lopez); und um Arbeiter_innen im globalen Süden, die durch den Medienproduktionsimperialismus des globalen Nordens ausgebeutet, geschwächt, verletzt und verbehindert werdern (Toby Miller).

Auf Basis des intersektionalen, erweiterten Begriffs von Disabilities schließen die Artikel eine breite Palette von medialen Untersuchungsgegenständen für eine medienkulturwissenschaftliche Bearbeitung auf. Das heißt, es geht bei diesen Artikeln keineswegs schlicht um eine Beschäftigung mit Disabilities 'am Beispiel von' Medien. Medien wären dann die Trägermedien, die angeblich präexistente Themen, Ideen, Stereotype oder kritische und widerständige Botschaften in Bezug auf Disabilities lediglich transportieren oder verstärken. Im medienkulturwissenschaftlichen Denken der Autor_innen wird stattdessen davon ausgegangen, dass Disabilities sich in besonderem Maße erst 'in' ihren Mediatisierungen verwirklichen. Mediale Alltagsgegenstände, mediale Narrative und Motive, mediale Räume und Architekturen stellen das Bild von und das Leben mit vermeintlicher körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung unter Bedingungen, die von der Mediatisierung selbst erst hervorgebracht werden. Besprochene Beispiele sind etwa die Darstellung eines Rollstuhlnutzers in einer Jugend-TV-Serie der 2010er Jahre 'durch' einen able-bodied Schauspieler (Ellcessor, S. 31–51) oder die Bewerbung eines Radiogeräts in den 1920er Jahren für invalide Bettlägerige 'als' Angebot zur gefühlten Teilhabe an gesellschaftlichem Leben (Kirkpatrick, S. 311–353). Wie die differenziert argumentierenden Beiträge aufzeigen, verhalten sich diese Phänomene nicht einfach sekundär zur sozialen Wirklichkeit. Sie sind nicht nur die abbildende Darstellung von Behinderung (in der TV-Serie) oder die technologische Antwort auf eine Behinderung (Radioempfang). Vielmehr wird überzeugend aufgezeigt, dass sich das Politische an der (Nicht-)Behinderung von Körpern (d. h. ihre Verstrickung in Machtverhältnisse) erst durch Mediatisierungen und Technologien realisiert und stets Aktualisierungen und Revidierungen von dem hervorbringt, was als motorisch, sensorisch oder kognitiv 'normales' Befähigungsausmaß gilt. Die Frage nach der Medialität von Disabilities zu stellen, ist damit für die Autor_innen des Buchs keine Fleißaufgabe für kulturwissenschaftliche Illness und Disability Studies, sondern zielt auf eine medienwissenschaftlich-epistemologische Grundierung ihrer Kernthemen wie etwa accessibilty (Barrierefreiheit/Zugänglichkeit), debilitation (Schwächung/Verbehinderung), Mobilität, Zeitempfinden und Arbeits(un)fähigkeit. Dieser intersektionale medienkulturwissenschaftliche Zugang fragt damit danach, wie die Beziehungen von Medienhandeln und Mediatisierungen zur ungleichen Verteilung von Handlungsmacht und Privilegien verschiedener (nicht-)behinderter Körper aussehen, wirken und normalisiert sind – aber auch danach, wie diese Beziehungen dekonstruiert und verändert werden können.

Mit Medien sind im Sammelband zum einen kulturelle Medien-Technologien im engeren Sinn gemeint: Film, Fernsehen, Radio, Internet, Graphic Novels, klinische Technologien wie bildgebende Diagnostik. Aber auch Sprechakte oder Diskursstränge zur (Ab)Normalität bestimmter Körper werden – einem erweiterten Begriff davon entsprechend – als mediale Operationen begriffen. Dies gilt auch für konventionelle Blickregime des Starrens, des Ekels oder der Bemitleidung oder für proxemische (Nicht-)Möglichkeitsräume der (Im)Mobilität oder der (Un)Zugänglichkeit. In den Augen von Ellcessor und Kirkpatrick soll die Beschäftigung mit Medien im engsten ebenso wie im erweiterten Sinn die Beforschung der kulturellen Konstitution von Behinderung stärker anleiten, da Medien – seien es Film, Radio oder Zeichnung, seien es Sprach-, Raum- oder Wahrnehmungsanordnungen – jeweils die Infrastrukturen sind, die soziale, kulturelle, informationelle und auch materielle Barrieren organisieren, kanalisieren und regulieren. (Vgl. S. 10–20)

Dementsprechend wird im Band Medialität nicht nur als eine Frage der Repräsentation verstanden (wie wird etwas – in Bildpolitiken, als Motiv, als Narrativ – dargestellt und dadurch politisch wirksam?), sondern auch als eine Frage nach dem 'Handeln mit Medien': In welchen technischen, strukturgebenden, vermittelnden, ordnenden, speichernden, ästhetischen, übersetzenden sowie selbst- und fremd-regierenden Medien-Praxen konstituieren sich Beeinträchtigungen, Barrieren und Beschränkungen von Handlungsmacht? Die medienwissenschaftliche Epistemologie, die von den Artikeln nominiert wird, besteht damit in der Annahme, dass die Prozesse der Subjektivierung stets mit Prozessen des Agierens/Erleidens im Rahmen medialer Praxen korrespondieren. "When scholars study moments such as these, in which bodies and technologies interact, they shift the analytical frame from one of representation to one of biomediation." (Mack Hagood, S. 312)

Auch subversive Biomediationen werden im Sammelband besprochen. So beschäftigen sich Shoshana Magnet und Amanda Watson mit den auto-analytischen, ästhetischen Strategien von Künstlerinnen, die ihre durch Depressionen und chronische Schmerzen intensivierte Trägheit, Motivationslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit in Graphic Novels übersetzen. Von den künstlerischen Arbeiten leiten Magnet/Watson die These ab, dass Biomediationen von Disabilities eine paradigmatische Machtkritik formulieren, die anders als etablierte Machtkritiken zentral aus einer problematisierenden Verschränkung von Zeit- und Leistungs-Konzepten heraus argumentieren, denn "narratives about disability are haunted by time and temporalities. […] [W]e argue that an undertheorized piece of the structure of ableism is the way that people with disabilities are both shamed and haunted by time and its passing under late-capitalist narratives obsessed with normative forms of productivity and efficiency." (S. 247f) Während es das Verdienst der Queer Theory sei, kritische Perspektiven und Begriffe gegen normative Imperative von sexueller Reproduktion entwickelt zu haben, bestünde das größte Potenzial einer Crip Theory darin, neue Perspektiven und Begriffe gegen kapitalistische, meritokratische und neoliberale Imperative von Produktion, Effizienz und 'erfüllter Zeit' zu theoretisieren.

Die Artikel stellen einen herausragenden Beitrag zum wichtigen – und leider im deutschsprachigen Raum eher minoritären – Bestreben nach intersektionaler Medienwissenschaft dar. Eine entsprechend intersektionale Ausrichtung von Media Studies begreift die kritische Analyse und Theoretisierung von Medien als eine Wissenschaftspraxis, die die medialen Infrastrukturen von Machtverältnissen ins Auge fassen und freilegen will. Besonders positiv fällt dabei auf, dass die Konzeption des Sammelbands diesen Gedanken auf die Frage der 'Lektüre' akademischer Texte zu übertragen scheint und kleinere Versuche in Richtung neurodiversitätsgerechter Aufbereitung unternimmt: Begonnen bei vorangestellten Abstracts und gründlichen Conclusios bis hin zur überaus leser_innenfreundlichen Sprache, zeichnet sich auch das Textmanagement der Beiträge stilistisch durch eine gewisse Sachlichkeit und Schlichtheit aus, die hochgradig 'accessible' ist und daher auch als Einstieg in Disability Studies oder Medientheorie empfohlen werden kann. Zugänglichkeit wird auch maximiert, indem zwei Inhaltsverzeichnisse vorangestellt werden: Eines, in dem die Beiträge in theoriebasierte Cluster geordnet sind und ein zweites, in dem die Artikel hinsichtlich der unterschiedlichen besprochenen Medienformen aufbereitet wurden. Obwohl es sich nicht um einen Reader oder ein Handbuch handelt, möchte mensch diesen Sammelband auch nach der Lektüre in Griffweite verwahren: denn er zeichnet sich auf theoretischer, methodischer und konzeptioneller Ebene durch viele instruktive Ideen aus, die ebenso herausfordernd wie erhellend sind.

Autor/innen-Biografie

Stefan Schweigler

Stefan Schweigler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Sein Dissertationsprojekt trägt den Arbeitstitel "Shame and Pain. Dispositive des Zuhauses im Kontext queerer Affekte". Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Medientheorie, Affekttheorien, Intersektionalität, Theorien von Ohnmacht und Negativität.

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Veröffentlicht

2020-05-25

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Rubrik

Medien