Drehli Robnik: Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19.

Berlin: Neofelis 2020. ISBN: 978-3-95808-326-4. 174 S., Preis: € 16,00.

Autor/innen

  • Deniss Boldavesko

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2020-2-10

Abstract

Während die meisten von uns die gefühlt unendliche Aneinanderreihung von Sonntagen mit Heimwerken, Nachrichten schauen und Entschleunigung verbrachten, nutzte der Theoretiker, Essayist und Filmkritiker Drehli Robnik den Lockdown in Österreich, um sich in seiner Monografie Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19 mit dem Verhältnis von Kino, Pandemie und Sozietät auseinanderzusetzen.
Mit Ansteckkino knüpft Robnik nahtlos an sein bisheriges Werk an. Er untersucht populären Spielfilm, in diesem Fall "Ansteckkino", "Ansteckungsfilm", "Pandemie-Spielfilm" (S. 14), im Kontext von Politik und Geschichte. Es handelt sich hier um keine filmwissenschaftliche oder kulturwissenschaftliche Arbeit, sondern um eine historisch-philosophische, die "anhand von 167 Pandemiefilmen aus 100 Jahren deren Geschichte und Gegenwart in anhaltenden Formen und Wiederholungen" (S. 9) verhandelt. Dabei werden hauptsächlich die Narrative der Filme und weniger deren Ästhetik untersucht. Genre- und Morphologiefragen zur Definition von Ansteckungsfilmen sucht man vergebens, stattdessen beschreibt Robnik seinen Gegenstand flüchtig als "Filme, die als ganze oder in Teilen das Problem vermitteln, dass man einander ansteckt, wie also am täglichen sozialen Umgang etwas Gefährliches hervortritt" (S. 14).

Mit einer "politischen Philosophie und Geschichte des Filmes, durch Film", wendet sich Robnik gegen eine ahistorische, gegen eine anthropologische und gegen eine psychologische Philosophie, die soziale Missstände mit der Begründung "der Mensch sei halt so" naturalisiert (S. 11f). Seine Kritik setzt dabei beim politischen Anspruch auf Egalität an.
Der Autor versteht Film als Wahrnehmung, und zwar als "Wahrnehmung von Konflikten und Ermächtigungskämpfen, von Veränderung der Herrschaftsmächte in ihrer Prozesshaftigkeit" (S. 12). Wie tangieren diese Wahrnehmungen die Alltage der Bevölkerung politisch? Ähnlich wie im Kino, lädt uns Drehli Robnik ein, sich in seinem Werk zum "Wahrnehmen von Kontingenz von Wirklichkeit zu versammeln" (S. 15). Wenn er die Einleitung mit "Streit-Geschichte in Film-Wahrnehmung" betitelt, richtet er seinen Fokus auf die Gesellschaft als Konfliktfeld, es geht um politische Bewegung, "Gründungen" im Streit, immer mit Menschen. (Film-)Geschichte wird brüchig, kann immer wieder neue Potentiale entwickeln, die eben auch rassistisch, antisemitistisch, aggressiv White sein können, beziehungsweise in konspirative Machthandlungen münden (vgl. S. 12f).

Diese Monografie arbeitet sich nicht systematisch an einer These ab. Auf eine lineare Argumentation durch die Kapitel hindurch wird zumeist verzichtet. Stattdessen hangelt sich der Text mit groben Stichworten und Perspektiven anhand des Gegenstandes "Pandemie-Spielfilm" entlang. Dabei werden vier Linien für die politische Philosophie und Geschichte des Ansteckungsfilms herauskristallisiert: "Vermachtung von Lebensprozessen", "Dechiffrierung von Infrastrukturen", "Verselbstständigung von Namen" und "Spannung zwischen Normalablauf gesellschaftlicher Regulierung und souveräner Macht". Entlang dieser Linien werden "Gender- und Klassenverhältnisse sowie rassistisch überformte Machtverhältnisse" aufgedeckt (S. 21).
Dabei analysiert Robnik unter anderem "Ansteckungsfilm zwischen 1919 – 1945", "Postkoloniales Nachkriegskino 1950 – 1970", "Mittelalter-Ansteckungsfilm", "westliche Ansteckungsfilme im Kalten Krieg der 1950er–1960er Jahre", "Zombie-Ansteckungsfilme" und auch aktuelle Ansteckungsfilme des 21. Jahrhunderts. Die Einschränkung in der Filmauswahl wird vom Autor reflektiert. Trotz seiner Bemühungen bleibe das nicht-westliche, nicht-weiße Kino unterrepräsentiert.

Die biopolitische "Vermachtung von Lebensprozessen" wird ausführlich anhand vom "Ansteckungsfilm 1919 – 1945" beschrieben. Es geht um biopolitische Regime, deren Macht am menschlichen Körper ansetzt und die Bevölkerung als schieres Leben definiert (S. 25f). Unter faschistoiden Bedingungen liegt eine rassenhygienische Vernichtung biologischer Feinde nahe. Der Feind, der Fremdkörper, der Andere infiziert das Volk. Er muss von der biopolitischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. So wird die Stadt in der Handlung von M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) als ein "biopolitisches Ensemble, das einen Mörder sucht und diesen immunitär selbstreinigend als Fremdkörper ausstößt" (S. 34), gelesen. Auch die "Spannung zwischen Normalablauf gesellschaftlicher Regulierung und souveräner Macht" lässt sich da bereits als Motiv erkennen. Demokratische Sicherheitsmaßnahmen werden im Ausnahmezustand übergangen. Der Pandemiefilm ist voll Selbstjustiz und Allein-Herrschaft, da er oft vom Ausnahmezustand handelt und darin "Suspendierung regulärer Rechtstaatlichkeit" ein sich wiederholendes Phänomen ist (S. 28).
Bei der "Verselbstständigung von Namen" handelt es sich um "Fragwürdig-Werden alter und Auftauchen unvorhergesehener neuer 'Namen' und Geltungsansprüche" (S. 21). Eine Pandemie als einschneidendes Ereignis in der Geschichte, in der verfestigte symbolische Ordnungen offenbart/geöffnet/gebrochen werden. Welche neuen Bedeutungskämpfe gibt es um die Signifikanten Herrscher, Staatshilfe und Gesundheit? Welche politischen Auswirkungen folgen für die Gesellschaft?
Die "Dechiffrierung von Infrastrukturen" ist eine "Sozialdiagnostik mit Zügen von Archäologie", wohl im foucaultschen Sinne. Dispositiv-Analysen unter Pandemiebedingungen. Wie schauen die Netze zwischen Institutionen, Subjekten und allen anderen Dispositiv-relevanten Elementen aus? Wie wandeln sie sich?

Widmen wir uns für einen Moment zur Veranschaulichung von Robniks Arbeitsweise seiner Lektüre von Pest in Florenz (1919), die unmittelbar vor Nennung der vier Linien erfolgt. Der 1919 erschienene Film markiert den Startpunkt in das philosophisch-historische Unterfangen, obwohl es sich sicher nicht um den allerersten Pandemiefilm handelt und obwohl Murnaus Nosferatu (1922) die bekanntere Auswahl gewesen wäre. In Florenz bricht die Seuche aus, eingeschleppt aus Venedig, dem sündigen sehr nahen Osten. Die Epidemie kommt auch in Nosferatu aus dem Osten, genauso wie COVID-19 in Wuhan seinen Anfang nahm. Es ist nicht zu übersehen, dass hier auch rassistische Projektionen mitschwingen. Der politische Sinn in Pest in Florenz erinnert Robnik an Siegfried Kracauers Ideologiekritik des Weimarer Kinos. Demnach kultivierte sich im Kino eine Sicht der Gesellschaft, in der "nur 'Tyrannei' oder aber 'Chaos' als einzige Chance", abseits von Egalität und demokratischen Prinzipien möglich wäre (S. 19). Mit den Florentinern wird religiös-mythisch abgerechnet. Die Infektion als Heilmittel gegen Freude, Lust und Wollust. Letztendlich werden die Florentiner aus der symbolischen Ordnung verbannt, die katholische Kirche erklärt sie als vogelfrei und damit außerhalb des Gesetzes. Die Florentiner versuchen sich zu schützen, indem sie sich innerhalb der Stadt abriegeln und kranke Kinder an ihren Grenzen abweisen. Die Wiederholung dieses Plots wird es dann 101 Jahre später an den EU-Außengrenzen geben.

Der Begriff Ansteckung wird im Laufe der Monografie geöffnet. Die Infektion wird hier zur Kommunikation innerhalb gesellschaftlicher Netzwerke. Körper erscheinen somit in einem relationalen Geflecht aus Ansteckung, Affizierung und Resonanz. Dabei erinnert diese Begriffsöffnung an den New Materialism, der um Diana Coole und Samantha Frost Ausdruck findet. Die Pandemie erinnert uns daran, dass strikte Subjekt-Objekt-Trennungen zu problematisieren sind. Vielmehr interagieren Körper prozesshaft auf der Ebene der Immanenz. Daran anknüpfend sieht der Autor in der Ablehnung von Krankheiten als Ausschluss, das Potential "hegemoniale Subjektformen anzufechten". (S. 128)

Betrachtet man eine Zeitspanne von 100 Jahren, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch Medienkultur im Text Beachtung findet, denn "Konzepte von Mediengesellschaft stehen Konzepten von viraler Verbreitung nahe" (S. 139). Beide Konzepte können auf gesellschaftliche Machtverhältnisse verweisen, teilen sich somit eine politische Ader. Die Rolle der Medienpräsenz im Ansteckkino zeigt sich vor allem in Informationsverbreitungsmaschinen wie Zeitung, Fernsehen und Internet. Sowie die Globalisierung die Verbreitung des Virus befeuert, so führen unsere medialen Settings zu Informations-Spreading, und leider auch in korrumpierter Form zur Angstverbreitung. Aber den Medien sind auch Potentiale eingeschrieben. In Pandemiefilmen dienen Medien – von Kamera bis zum Mikroskop – "zum Sehen-Können von zuvor (zu) wenig gesehenen sozialen Verhältnissen" (S. 139). Der Film an sich wird für Robnik zum Mikroskop.

Das fehlende Fazit sowie die Abstinenz einer eindeutig formulierten These zu Beginn, sowie eine sprunghafte Argumentationsführung erschweren die Zugänglichkeit des Buches. Die Menge an Filmbeispielen dient zwar als gelungenes "Inventar" des Pandemiefilms, oft hätte man sich jedoch einen längeren Verbleib bei einzelnen Filmbeispielen gewünscht. Zusätzlich wurde die Lektüre, durch die zwischen wissenschaftlichem und essayistischem Stil fluktuierende Sprache erschwert. Die essayistischen Passagen beinhalten viele Wortspiele, die leider eher störend wirken und nicht zur Argumentation beitragen. Trotzdem ist dem Autor gelungen, mit differenzierter Betrachtungsweise der Filme zu zeigen, dass die Thematik Pandemie immer schon eng mit dem Kino verbunden war. Entlang des Filmes denkt Robnik die Kontingenz der Gesellschaft. Gleichzeitig werden die Filme dekonstruiert, bis deren Rassismen, Sexismen und Machtverhältnisse eindeutig werden. Niemals geht es in diesem Buch um eine rückwärtsgewandte historische Behandlung von Filmen. Die Vergangenheit sammelt sich immer am Punkt Gegenwart. Damit nutzt der Autor jede Gelegenheit über Analogien Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen, die Wiederholung zu beschreiben und die Differenz herauszuarbeiten.

Autor/innen-Biografie

Deniss Boldavesko

Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien (2013-Jetzt). Tutor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (tfm) (seit 2019). Lektorats- und Redaktionsarbeit beim Studierendenmagazin SYN – Magazin für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Erste wissenschaftliche Vorträge bei der 3rd Conference on Contemporary Greek Film Cultures ("Lanthimos meets Lacan") und der 4th SERCIA Conference ("Missing Screen. VR and Film Theory").

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Veröffentlicht

2020-11-18

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Rubrik

Film