Emma Pett: Experiencing Cinema. Participatory Film Cultures, Immersive Media and the Experience Economy.
London: Bloomsbury 2021. ISBN: 9781501352041. 248 Seiten, Preis: £ 26,09.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-11Abstract
Als ich Ende Juli zur Primetime am Apollo Kino in Wien vorbeiging, wurde ich Zeuge eines ungewöhnlichen Anblicks. Mehrere dutzend Teenager wimmelten vor den Toren des Cineplexx, alle uniformiert in Anzug oder Abendkleid, bewaffnet mit ihren Smartphones. Die Stimmung war ausgelassen und auch wenn es sich hierbei um mehrere, kleinere Gruppen handelte, partizipierten sie anscheinend an einer kollektiven Erfahrung. Ich war Zeuge eines TikTok-Memes geworden. Das Meme: Gruppen junger Menschen versammeln sich in feiner Kleidung, um ein Screening des Films Minions: The Rise of Gru (2022) zu besuchen. Dabei wird im Kinosaal bei jeder Gelegenheit überschwänglich applaudiert. Interessiert man sich für solche Phänomene, stellt Emma Petts Experiencing Cinema eine Pflichtlektüre dar. Ihre Studie "examines people’s experiences of engaging with a range of unconventional, bespoke forms of film exhibition" (S. 1). Pett ignoriert den Film als ästhetisches Objekt. Stattdessen arbeitet sie sich am Begriff der experience ab, mit dem sie die gesamte Konstellation der Filmrezeption in den Blick nimmt. Das Objekt Film bleibt darin nur Teil einer Konstellation, in der Erfahrung vom Außen in das Zentrum rückt.
Nachdem der Begriff experience als "discursively constructed and circulated" (S. 1) etabliert wird, zeigt Pett entlang von "six key sites of participation" (S. 1), welche Relationen solche Konstellationen ergeben. Dabei werden unterschiedliche methodische Zugänge bewusst vermischt. Vor allem qualitative Untersuchung von diskursivem Material – "marketing materials, film industry reports, online reviews, lifestyle blogs, cultural policy documents, marketing reports and manifestos within the non-profit sector" (S. 194) – bilden den Nährboden für die Überlegungen der Autorin. Ergänzend baut Pett sozio-politische Zugänge, Beiträge aus der Queer-Theorie und der Kulturtheorie in ihre Argumentationslinien ein. Den Konstellationen der cineastischen experience wird ein solch transdisziplinärer Zugang jedenfalls gerecht. Ohne es selbst zu thematisieren, reiht sich Pett damit nahtlos in den Post-Cinema-Diskurs ein. Da das Kino seine Vormachtstellung als Leitmedium des 21. Jahrhunderts verloren hat, verlagert sich auch der Blick auf alternative Rezeptionspraktiken abseits des klassischen Filmdispositivs.
Petts Studie formuliert ihre Haltung von Anfang an deutlich. Experience wird nicht 'an sich' analysiert, sondern immer vom Blickpunkt eines sozial-emanzipatorischen Programms. Auch zieht sich die Suche nach Potentialen zu sozialem Kontakt wie ein roter Faden durch das Buch; wenig verwunderlich, wenn man bedenkt das dieses Buch auch als Antwort auf die immer größer werdende individuelle Rezeption von Bewegtbildern aufgrund der Corona-Pandemie gelesen werden kann. Die Sehnsucht nach Begegnung treibt diese Studie an.
Zunächst erarbeitet Pett in Kapitel 2 die Begriffe experience und immersion im Kontext alternativer Rezeptionspraktiken. Sie interessieren solche, in denen "the exhibition of a film is combined with aspects of interactive performance, spectacle and other extra-textual features to create a 'live' experience" (S. 32). Pett zeigt im Kontext Großbritanniens, inwieweit solche Formen des alternativen Rezipierens von neoliberalem Klima und Austeritätspolitik befeuert werden: Pop-Ups als fluide Geschäftsmodelle im urbanen Raum und eine Neuorientierung von Konsumtionsformen abseits des Massentauglichen. Aber auch große Produktionen, wie die Secret Cinema Productions werden thematisiert. Dabei werden Filme nicht nur projiziert, sondern durch eine Show ergänzt. Die Vorführung alter Filme erzeugt hier eine wohlfühlende Nostalgie. Verstärkt wird dies, durch das Gefühl beim Publikum, dass es sich um eine "sociable occasion" (S. 39) handelt. Im Gegensatz zum klassischen Kinodispositiv wird die "liveness" (S. 41) solcher Konstellationen hervorgehoben. Damit sehen wir eine Reaktion auf die Verschiebung von Publikumsbedürfnissen, auch als Reflex auf eine Übersättigung von heimischer Konsumption verstanden. "Millennial experience economy" (S. 54) ist das Stichwort, welches verdeutlicht, inwieweit der Film selbst bei einem gewissen Publikum seine Vormachtstellung an das Potential verloren hat, das Event im Nachhinein – vor allem online – ausstellen zu können.
In Kapitel 3 verschiebt sich der Fokus auf virtuelle Realitäten und immersive Technologien, die entlang der bereits etablierten, den VR-Diskurs prägenden Begriffe der "presence, empathy and agency/interactivity" (S. 60) modelliert werden. Obwohl dies in anderer Fachliteratur bereits ausführlicher beschrieben wurde, kann festgehalten werden, dass in Bezug auf die Fragestellung der experience die Präsenz und Interaktivität die im vorherigen Kapitel beschriebene liveness bestärkt. VR beheimatet das Potential, die Distanz zwischen Leinwand und Rezipierenden zu überbrücken. Allein die Emergenz dieser neuen Technologie ermöglicht Erfahrungen neuer Relationen zwischen Bewegtbild und den Rezipierenden.
Pett befragt in Kapitel 4 das Verhältnis von "immersive and participatory films within the institutional context of art galleries" (S. 86). Die Autorin erkennt ein erhöhtes Publikumsbedürfnis an alternativen Sichtungsweisen von Filmen, welche sie anhand der Filminstallation The Clock (2010) – ein 24-stündiger Film, der die Medialität von Zeit verhandelt – analysiert. Dabei wird das traditionelle Filmdispositiv für neue Formen des musealen Dispositivs verlassen. Nichtsdestotrotz bleiben solche Gegenmodelle weiterhin von klassischen Sehgewohnheit strukturiert. Es wird ersichtlich, dass solche Konstellationen keinen Bruch darstellen, sondern sich wie die Seiten eines Möbius-Bandes zueinander verhalten.
Die städtischen Rezeptionskonstellationen werden in Kapitel 5 um ihre ländlichen Pendants ergänzt, denen im Diskurs kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Filmische experiences reihen sich hier in eine touristische Infrastruktur ein. Doch vor allem dem gemeinschaftsstiftenden Potential schenkt Pett ihre Aufmerksamkeit. Dem neoliberalen Fokus auf das Individuum können solche experiences im ländlichen Kontext mit "community spirit" (S. 122) entgegenwirken. Diese Events liefern die Möglichkeit, in familiärem Umfeld Möglichkeiten für multigenerationellen Kontakt herzustellen. Damit zeigt Pett das Potential für eine soziales Verständnis von Filmrezeption als "collective dimension" (S. 124). Medienrezeption wird hier also, konträr zum Unbehagen an den sozialen Medien, als Möglichkeitsraum für wahrhaftige social media propagiert. Damit blickt Pett auf das soziale Potential von Filmrezeption und Filmvermittlung, eine Frage, die im Zeitalter von Netflix und Co. viele Filmschaffende umtreibt. Ein Raum für Begegnung wird eröffnet, im Gegensatz zum cinephilen Einzelgänger, der sich in dunklen Filmtempeln abschottet. Aus filmtheoretischer Perspektive wird spätestens an dieser Stelle des Buches klar, inwieweit das "de-centring of the significance of the film text" (S. 127) all diese Konstellationen durchzieht.
"The intersection of participatory forms of cinephilia with political activism" (S. 139) bildet den Kernpunkt des Kapitels 6. Dabei blickt Pett auf das Scalarama Film Festival in Großbritannien und das Scala Cinema in Bangkok. Scalarama steht in der Tradition von midnight screenings von Kultfilmen, vor allem populär zwischen den 1960er und 1980er Jahren. Auch für das Selbstverständnis dieses Projekts spielen liveness und participation wieder eine zentrale Rolle. Scalarama ergänzt dies durch eine politische Komponente, wenn es sich die "quest for a collaborative, non-commercial experience" (S.140) auf die Fahne schreibt. Pett legt offen, inwiefern Scalarama "an anti-neoliberal sentiment characterized by inclusivity, diversity and low-budget DIY economics" (S. 140) praktiziert. Ihre Befragungen verdeutlichen, dass vor allem queer-feministische Anliegen bei den Partizipant*innen zu erkennen sind. Dieses Festival soll "empowering environments" (S. 146) für Anliegen solcher Art schaffen, sei es in der Rezeption der Texte, in der Organisation des Festivals oder der Produktion der Filme. Die Unterstützung einer solchen "alternative experience economy" (S. 146) kann demnach auch als politischer Akt verstanden werden, als Unterstützung alternativer Sichtweisen abseits des Mainstreams: "cinephilia of sociability rather than form" (S. 154). Pett vergleicht dieses britische Phänomen mit dem Scala-Kino in Bangkok, das eine Alternative zum Mainstream anbiete (S. 156). Als Raum für alternative Sichtweisen eröffnet das thailändische Kino ein Gegenmodel zum repressiven System Thailands. Damit zeigt Pett auf, dass es sich bei den Arten der filmischen experience nicht nur um ein Phänomen der Unterhaltungsbranche handelt, sondern dass ihnen auch ein subversives Potential innewohnen kann: "social responsibility alongside live, interactive cinematic experiences" (S. 161).
In Kapitel 7 beschäftigt sich Pett mit "Cosplay, crossplay and immersive identities" (S. 165) und problematisiert das politische Potential jener Praktiken, die "the live/mediatized divide" aushandeln würden (S. 165). Das Cosplay zeigt äußerst fluide Prozesse, wenn es um Fragen von Normativität in Bezug auf gender oder race geht. Die Möglichkeit, temporär in die Haut eines fiktiven Charakters zu schlüpfen, eröffnet die Möglichkeit die Performativität sozialer Rollen zu verhandeln. Solche experiences der Transformation verlassen also ihren Medienbezug und wirken in sozialen Interaktionen: "non-binary and gender-fluid identities allow practitioners to experiment within a safe space, providing solidarity" (S. 187).
Im Fazit wird, neben einer ausführlichen Zusammenführung der Erkenntnisse, nochmals ausdrücklich gewarnt: Trotz aller emanzipatorischer Potentiale schwingt weiterhin die Gefahr der radikalen Kommerzialisierung mit – in Petts Analyse exemplarisch verdeutlicht an der Kommerzialisierung von Cosplay oder dem Secret Cinema. Ausprägungen des neoliberalen Subjekts können auch in experiences erscheinen. Phänomene, die innerhalb des "individualistic neoliberal economic framework" (S. 199) funktionieren, sind für Pett weiterhin zu kritisieren; experiences stellen also keinen Selbstläufer zu einer offenen Gesellschaft dar.
Pett argumentiert kritisch, aber offen für neue Filmkonstellation im 21. Jahrhundert und äußert keine Sehnsucht nach vergangenen Kino-Erfahrungen. Stattdessen wird sichtbar, wie tradierte Rezeptionsweisen an Bedeutung verlieren, neue Mischformen der filmischen Rezeption entstehen. Pett bespricht dabei hauptsächlich Konstellationen aus Großbritannien. Die Studie lädt dazu ein, weitere länderspezifische Phänomene in den Blick zu nehmen. Mit ihrer Analyse der experience im zeitgenössischen Bewegtbild animiert die Autorin dazu, weitere Verbindungslinien zu vergangenen Phänomenen zu zeichnen. Gleichzeitig verliert Petts Analyse des Zeitgenössischen etwas vom Biss eines genuin neuen Phänomens, wenn man betrachtet, dass die experience immer schon eine treibende Kraft im Kino war – natürlich in unterschiedlich sozio-technischen Qualitäten und verschieden ausgeprägten Intensitäten. Pett ist dies bewusst, wenn sie die behandelten Konstellationen in die Traditionslinie des Kinos der Attraktionen und der midnight screenings stellt. Die Popularität solcher Phänomene wahrzunehmen, kann einen Schlüssel dazu darstellen, neue Wege in der Filmvermittlung zu bestreiten. Die leider mittlerweile doch etwas redundante Proklamierung eines turns, in diesem Fall des "experiential turns" (S. 191), muss erwähnt werden. Da Pett selbst formuliert, dass experience immer schon relevant war, kann kaum von einem Paradigmenwechsel die Rede sein, vor allem da klassische Formen der Zuschauer*innenschaft immer noch den Großteil der Filmrezeption ausmachen.
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