Gabriele Dietze: Sexueller Exzeptionalismus. Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus.

Bielefeld: transcript 2019. ISBN: 978-3-8376-4708-2. 222 Seiten, kartoniert, 34 Abb., 19,99 €.

Autor/innen

  • Mandy Gratz

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-14

Abstract

Gabriele Dietze untersucht in ihrem Essay Sexueller Exzeptionalismus das Wie und Warum von Überlegenheitserzählungen der Neuen Rechten. Sie konzentriert sich auf das Erklärungspotenzial der Kategorie Geschlecht für die zunehmende Verbreitung rechtspopulistischer Positionen. Ihre Analyse soll etablierte sozioökonomische Erklärungsansätze ergänzen und wendet sich Rassismus und Sexismus als "zweiten Strom des neurechten Kraftfeldes" (S. 9) zu. Für dieses Vorhaben betrachtet sie Zeitschriften, Karikaturen, Socialmediaprofile, Romane und Memes, die durch neurechte Akteur*innen erstellt wurden, sie zu Wort kommen lassen oder ihre Überlegenheitsnarrative aufgreifen.

Der Essay führt zwei Begriffe ein, die eine Auseinandersetzung mit der Verquickung von Rassismus und Sexismus ermöglichen sollen. Ethnosexismus erfasst Formen "von Sexismus, dem Rassismus zugrunde" (S. 12) liegen, und eine abwertende und rassifizierende "Kulturalisierung von Geschlecht, Sexualität und Religion" (S. 12). Die so produzierte Hierarchie ermöglicht ein Gefühl von Freiheit und Überlegenheit gegenüber den vermeintlich sexuell Unfreien. Die ethnosexistische Konstellation, die titel- und richtungsgebend für den Essay ist, nennt Dietze sexuellen Exzeptionalismus. Angelehnt an den american exceptionalism steht sexueller Exzeptionalismus für die Überzeugung, dass der globale Norden über die "'beste' aller denkbaren Sexualordnungen" (S. 27) verfügt und dass diese in die Welt getragen werden müsse. Dieses Narrativ lenkt von den eigenen Defiziten und Ambivalenzen in Bezug auf Emanzipationsfragen ab: Das eigene Unbehagen und die eigene Rückständigkeit werden zu jenen der Anderen.

Das erste Kapitel beschäftigt sich unter diesem Gesichtspunkt mit der Fixierung auf Sexualität im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen und macht drei Themen aus, an denen sich die Wirkungsweise des sexuellen Exzeptionalismus exemplarisch zeigen lassen: Die sogenannte "Kopftuchfrage" (S. 29), die Infragestellung der Akzeptanz von Homosexualität (S. 30) und die Figur "des sexuell gefährlichen Geflüchteten" (S. 31). Diesen aktuellen Beispielen stellt Dietze eine historische Kontextualisierung zur Seite: Vorgänger des gegenwärtigen sexuellen Exzeptionalismus' sind im sexual-hygienischen Kolonialdiskurs (vgl. S. 33) und der Sexualmoral des fin de siècle zu finden. Ethnosexistische Konstellationen verändern sich also mit der Sexualmoral: "Was [früher] als Schande galt, gilt jetzt als Emanzipationsausweis" (S. 36).

Gegenstand des zweiten Kapitels sind die Geschehnisse der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte. Diese konnten zu einem wirkungsvollen Ereignis werden, weil sie auf ein "noch unstrukturierte[s] Meinungsklima" (S. 41) zur Ankunft hunderttausender Geflüchteter im selben Jahr gestoßen sind. Sie hatten zahlreiche (rechts)politische Konsequenzen und wurden unter der Chiffre Köln "zu einem Topos für neurechtes Denken und Fühlen" (S. 43). Dieser Topos wird weltweit von Neuen Rechten aufgegriffen. Er konnte so wirkmächtig werden, weil die damit verbundenen Gefühle und vermeintlichen Zusammenhänge gefühlt und gesehen werden wollen (vgl. S. 45). Davor sind auch zunächst betrauerte Schicksale nicht gefeiht: Aus den Toten des europäischen Grenzregimes werden potenzielle Gewalttäter, jedes zugewanderte Kind könnte zu einem "erwachsenen Belästiger" (S. 46) heranwachsen. Fantasien der Vernichtung der Anderen zum Schutze der Eigenen infiltrieren Diskurse, die sich zuvor noch wohlwollend zur Aufnahme von Geflüchteten geäußert haben. Der liberale sexuelle Exzeptionalismus wird vom rechtspopulistischen "überholt und angepasst" (S. 48). Die liberale, bürgerliche Presse beteiligt sich, so vollzieht Dietze einleuchtend nach, an der Konstruktion eines "Wissensobjekt[es] 'arabischer Mann'", das nicht Fakten entsprechen muss, sondern Wahrheiten über dieses Wissensobjekt produziert. Die Presse dokumentiert, welche Auswirkungen sexueller Exzeptionalismus auf die Subjektivierung von jungen muslimischen Männern hat, und bedient sich zugleich der von Edward Said herausgearbeiteten Sexualisierung des 'Orientalen'. Ethnosexistische Konstellationen müssen nicht dauerhaft präsent sein, um Wirksamkeit zu entfalten, sondern werden strategisch aufgerufen, um später, wenn sie keinen Vorteil mehr bieten, wieder zu verschwinden (S. 55). Dabei setzen diese Konstellationen asymmetrische Geschlechterverhältnisse voraus und verstärken sie, indem sie sich immerzu auf eine vermeintlich schützenswerte weibliche Schwäche berufen.

Zu Beginn des dritten Kapitels unterzieht die Autorin die diagnostizierte Krise weißer Männlichkeit einer kritischen Revision. Weiße Männlichkeit sei nicht ernsthaft gefährdet, vielmehr nehmen "(heterosexuelle) weiße Männer" (S. 60) wahr, dass vereinzelt Menschen in ihren Machtfeldern auftauchen und mitreden, die nicht mit ihnen identisch sind. Dieser Exklusivitätsverlust sei es, der als Krise empfunden wird. Im Angriff gegenüber dieser Krisenabwehr werden all jene aufgestellt, die keine weißen Männer sind. Und diese Abwehr "bewegt sich also immer in ethnosexistischen Konstellationen." (S. 60) Die von Dietze diskutierten Selbstinszenierungen weißer Männlichkeiten, wie beispielsweise die postheroische und die heroische Männlichkeit, und dessen, was sie abwehren, führen vor Augen, wie vielgestaltig sexueller Exzeptionalismus und seine Konstruktionen sind. Ihre Überlegenheitserzählungen bedienen sich dabei nicht nur offenkundiger Rassismen und Misogynie, sondern greifen auch Remaskulinisierungsfantasien, sozialdarwinistische Ideen und Homonationalismen auf.

Das vierte Kapitel widmet sich den Anknüpfungspunkten der Neuen Rechten im Feminismus. Dietze bespricht zu Beginn die Wirkmächtigkeit von Alice Schwarzers Positionen als feministische "Bewegungspionierin" (S. 99) und stellt deren Ermöglichungsbedingungen heraus. Auch Schwarzer nutzt sexuellen Exzeptionalismus als Argumentationsgrundlage. Durch die Universalisierung der weißen Frau in der Kategorie Frau und die "Ethnisierung von Sexismus" (S. 101) als Eigenschaft der Anderen stellt sie eine Überlegenheit weißer Männer her und lässt deren Sexismus und Rassismus vergessen. Der hier fehlenden Verknüpfung von Antirassismus und Feminismus wird Sara Farris' Konzept des Femonationalismus' gegenübergestellt. Dieses identifiziert und erklärt die neoliberale und nationalistische Indienstnahme feministischer Forderungen. Jedoch bewertet Dietze das Konzept als für ihre Analyse zu wenig differenziert und übernimmt lediglich den Begriff des feministischen Ethno-Nationalismus'. Beispielhaft für feministischen Ethno-Nationalismus führt Dietze den französischen Mainstreamfeminismus an. Diesem Feminismus sei es ein Anliegen, muslimische Frauen vom Kopftuch zu befreien und den Männern die Freiheit zu lassen, Frauen gegenüber aufdringlich (oder auch übergriffig) zu sein (vgl. S. 115). Er macht sich so zum Komplizen des französischen Machismo und Nationalismus'.

Im Rest des vierten Kapitels widmet sich die Autorin rechten Frauen(politiken). Sie portraitiert Frauen, die innerhalb der Neuen Rechten, sei es in deren ThinkTank, in der identitären Bewegung oder der AfD, eine gewisse Bekanntheit genießen und für unterschiedliche Seiten der Geschlechterpolitiken der Neuen Rechten stehen. Sie knüpfen in ihrer öffentlichen Selbstinszenierung an Bedrohungs- und Überlegenheitserzählungen an und führen teilweise paradoxe Existenzen, wie Dietze am Beispiel der Frauen an der Spitze rechtpopulistischer Parteien herausarbeitet: Sie vertreten eine Frauenpolitik, die politische Arbeit, wie sie sie betreiben, verunmöglichen würde. Zugleich stellen "[r]echtspopulistische Frontfrauen […] ein dynamisches Paradox dar. Als weibliche Anti-Feministinnen delegitimieren sie Gleichheitsforderungen von Frauen. Das geht umso besser, je erfolgreicher und sichtbarer sie selbst sind." (S. 140)

Raewyn Connells Konzept hegemonialer Männlichkeit bietet im letzten Kapitel den Interpretationsrahmen für das Verhältnis zwischen den von Dietze herausgearbeiteten Männlichkeiten, deren Vorstellungen von Macht und Überlegenheit und der Komplizinnenschaft bestimmter feministischer Strömungen. Zur Erklärung dieser Komplizinnenschaft führt Dietze, leider etwas knappgehalten, drei Thesen an. Die erste bezieht sich auf die Angst der Frauen vor der Freisetzung als ökonomisches Subjekt im Neoliberalismus, den unter anderem die stete Aushöhlung des Staates kennzeichnet. Die Verunsicherung des Staates übertrage sich auf dessen Subjekte, die darauf mit Renationalisierung reagieren. Die zweite greift das Thema Komplizinnenschaft explizit auf: Sich mit dem Rechtspopulismus gemein zu machen, ermöglicht ein Gefühl der Überlegenheit, das Selbstermächtigung verspricht. Die letzte These geht von einer Emanzipationsverdrossenheit aus. Diese Verdrossenheit stelle sich bei jenen ein, die sich durch die permanente Thematisierung der noch nicht abgeschlossenen Gleichstellung der Geschlechter, abgewertet fühlen. Dietze schließt ihren Essay mit der Forderung nach einer selbst- und herrschaftskritischen, intersektionalen Analyse rechter Erzählungen.

Gabriele Dietze bezieht in ihrem Text sprachlich klar Position gegen die neue Rechte. Der Essay macht es so leicht, sich von neurechten Personen, Positionen und ihrer öffentlichen Wirksamkeit zu distanzieren. Pauschalisierungen und Pejorative verhindern an vielen Stellen eine Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit des Materials, die ebenfalls zu ihrer Wirkmächtigkeit beiträgt. Diese fehlende Differenzierung holt die Autorin nur in ihrer Diskussion der feministischen Antworten auf die Silvesternacht 2015 in Köln ein. An anderen Stellen bleiben medien- und literaturwissenschaftlich zweifelhafte Einordnungen unkommentiert stehen und trüben die analytische Schärfe des Essays. Der Autorin gelingt es, entlang zahlreicher Beispiele nachzuweisen, wie Sexualität und Geschlecht im Rechtspopulismus diskursiv in Stellung gebracht werden und diese Narrative in liberalen Medien Eingang finden. Die Fülle und Medienwirksamkeit des Materials verdeutlichen, dass die neue Rechte kein Randphänomen (mehr) ist. Die Arbeit mit dem Konzept des sexuellen Exzeptionalismus zeigt, wie Fortschritts- in Überlegenheitserzählungen kippen und von reaktionären politischen Kräften in Dienst genommen werden. Allerdings gerät durch das Augenmerk auf die neue Rechte und ihre Narrative die deutsche Vergangenheit aus dem Blick. Da die neue Rechte im deutschen Kontext keineswegs geschichtslos ist, ist eine Berücksichtigung der Kontinuitäten altrechter Positionen in der neuen Rechten und der deutschen Öffentlichkeit, gerade im Hinblick auf das Erklärungspotenzial von Geschlecht und Sexualität für die Verbreitung derartiger Positionen vielversprechend.

Autor/innen-Biografie

Mandy Gratz

Studium der Französistik, Erziehungswissenschaft und Mathematik an der Universität Jena und der Ecole Normale Superieure Paris. Derzeit beendet sie ihr Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist studentische Hilfskraft am dortigen Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse und koordiniert die bundesweite studentische Kampagne gesellschaft*macht*geschlecht. Sie arbeitet zu Verlust, politischer Trauer, Naturverhältnissen und Queerness.

 

Publikationen:

Gratz, Mandy / Kray, Lydia: Die Riesin / The Raisin / El Retiro. Münster: edition assemblage 2021.

Gratz, Mandy: "Über Megaphone unterhalten wir uns nicht. Einige Gedanken zu strukturellen Bedingungen sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen". In: Die Ratsfrau 22/2021.

Gratz, Mandy / Zürn, Anja: "Naturverhältnisse feministisch denken. Anforderungen an einen aktuellen Ökofeminismus". In: Forum Wissenschaft 3/2020, URL: https://www.linksnet.de/artikel/48050, abgerufen am 08.04.2021.

Gratz, Mandy / Haitz, Louise: #NotHeidisGirl – oder doch? Wir sind alle Heidis Mädchen. In: Gender-Blog der Zeitschrift für Medienwissenschaft zfm, 11.11.2017, URL: http://www.zfmedienwissenschaft.de/online/blog/notheidisgirl-%E2%80%93-oder-doch-wir-sind-alle-heidis-m%C3%A4dchen, abgerufen am 08.04.2021.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Medien