Julia Roßhart: Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag. Anti-klassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD.

Berlin: w_orten & meer 2016. (Reihe: wissen_bewegen). ISBN 978-3-945644-06-5. 567 S., Preis: € 19,80.

Autor/innen

  • Mandy Gratz

Abstract

Julia Roßhart fragt in ihrem Buch nach antiklassistischen Interventionen innerhalb der autonomen Frauen-/Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in Westdeutschland. Damit greift sie die unlängst wieder populäreren Themen Klasse und Klassismus auf und wirft mit ihrer Frage einen Blick zurück in einen so bisher wenig betrachteten Teil feministischer Bewegungsgeschichte.

Dieser Blick zurück ist gekennzeichnet durch eine breite Sichtung von Texten, darunter auch verschriftlichte Gespräche aus Frauen-/Lesbengruppen, und Expertinnengespräche, die sie selbst geführt hat. Ihre Betrachtung hört allerdings nicht bei dem Material auf, das ihr konkret vorliegt. Sie würdigt auch die Interventionen, auf die im Material verwiesen wird. So erarbeitet sie ein Bild der feministischen Auseinandersetzung mit Klassenunterschieden, das über die Untersuchung schriftlich verfasster Kritiken hinausgeht und breit gefächert Material zum Themenfeld einbezieht.

Die Urheber*innen der Materialien, die Roßhart in ihrer Arbeit sichtet, befanden sich mit den Themen Klassenherkunft und -erfahrung in einer zweifachen Randposition innerhalb der politischen Linken: Viele Frauen/Lesben haben sich in geschlechterhomogenen Gruppen organisiert, da ihre Belange in anderen Gruppen zum Nebenwiderspruch erklärt worden waren. Die Klassenfrage war dort Primus. Klasse wurde dadurch allerdings in Frauen-/Lesbengruppen häufig nebensächlich (S. 42ff).

Das Buch ist in zwölf Kapitel unterteilt, die wiederrum in Unterkapitel untergliedert sind. Eine weitere Unterteilung der Unterkapitel findet dort statt, wo es die im Text besprochenen Perspektiven anbieten.

Die Einleitung erläutert Forschungsfrage, Forschungsstand und den Aufbau des Buches. Außerdem dient sie der Begriffsklärung beziehungsweise der Offenlegung der sprachpolitischen Entscheidungen der Autorin. Im Vergleich zu anderen Texten aus den Sozialwissenschaften wird damit bereits in der Einleitung die wichtige Frage nach der Benennungspraxis bestimmter Sachverhalte geklärt. Zwei für das Buch zentrale Begriffe, den der Klasse und den des Klassismus klärt Roßhart in diesem Kapitel jedoch nicht. Dieses Vorgehen liegt in ihrem Forschungsansatz begründet, der nicht den Abgleich mit Begriffen und Theorien, sondern Interventionen gegen Herrschaftsverhältnisse ins Zentrum der Diskussion stellt. Damit rückt der Fokus von der Autorin und ihrem Verständnis von Klasse und Klassismus weg und hin zu dem der Aktivist*innen, die Teil dieser Interventionen waren.

Diesen Ansatz, den damit verbundenen Forschungsprozess und den Zugang zu den Gegenständen ihrer Auseinandersetzung erläutert sie im zweiten Kapitel näher. Dabei reflektiert Roßhart, in welchem Verhältnis ihre gesellschaftliche Position und ihre Erfahrungen zu ihrem Forschungsgegenstand stehen und welchen Einfluss das auf ihre Arbeit hat. Ebenso legt die Autorin offen, wie sie ihre Quellen kontextualisiert und welche Funktion diese Kontextualisierung für ihre Arbeit hat. Zuletzt listet sie eine Reihe von Fragen, die sie an die Interventionen stellen will. Dabei geht es einerseits um die Interventionen an sich, also um die Aktionen, die Akteurinnen, den Bewegungskontext und die Themensetzung. Andererseits befragt Roßhart die Interventionen nach ihrem Verhältnis zu Kapitalismuskritik und Ökonomietheorie, nach ihrem Verständnis von Klassismus und anderen dazu interdependenten Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Antisemitismus und Ableismus und nach einer möglichen Unterscheidung zwischen Klassenherkunft und Klassenerfahrung.

Die neun darauffolgenden Analysekapitel werden diesem Programm in großen Teilen gerecht. Davon befassen sich sechs mit Binneninterventionen innerhalb der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung in der BRD. Die DDR klammert Roßhart bis auf einige Anmerkungen zu Bestrebungen westdeutscher Gruppen, sich mit Gruppen aus der ehemaligen DDR in den 90er Jahren zu vernetzen, aus. An die sechs Kapitel zu Binnenkritik schließen sich noch weitere drei an: Eines widmet sich feministischen, antiklassistischen Interventionen in Hochschule und Wissenschaft und zwei weitere nehmen Interventionen in den Blick, die in den Niederlanden und den USA ihren Ursprung genommen haben.

Die sechs Kapitel mit Bezug auf die BRD befassen sich mit einer großen Bandbreite an Formaten: Angefangen bei einem verschriftlichten Gespräch zwischen zwei Frauen/Lesben mit unterschiedlichen Klassenerfahrungen, das aus einem Aufsatz entnommen wurde, Texte, Umverteilungspraxen und Workshopankündigungen und -dokumentationen von zwei Proll-Lesben-Gruppen aus Berlin; Veröffentlichungen der afro-deutschen Frauenbewegung insbesondere von Audre Lorde, einem Aufsatz von Ilona Bubeck, den Ausgaben der radikalfeministischen Lesbenzeitschrift Ihrsinn und den Protokollen ihrer Redaktionssitzungen bis hin zu einem Artikel einer Berliner Frauenlesbengruppe und ergänzenden Interviews. Dabei wechseln nicht nur die Formate, sondern auch die Perspektiven, die aus den Dokumenten sprechen, und die Formen von und Ansprüche an Wissensbildung.

Die Diskussion der Interventionen im Raum Hochschule stellt die hochschulspezifischen, klassistischen Ausschlüsse und die Auseinandersetzungen der Arbeiter*innentöchter mit diesen in den Mittelpunkt. Es handelt sich dabei um den einzigen Exkurs, in dem Roßhart das Bewegungsaußen in ihre Untersuchung einbezieht. Jedoch ist die Betrachtung gerade deshalb aufschlussreich, weil besagte klassistische Ausschlüsse die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas im Raum Hochschule bis heute erschweren. Um so interessanter ist, dass die Autorin eine Vielzahl von Forschungsvorhaben, die die Hochschule als klassistisch strukturierten Raum und die Position von Arbeiter*innentöchtern darin thematisieren, in die Sammlung der Interventionen aufnimmt. Es geht also nicht nur um die Auseinandersetzung mit dem Herrschaftsverhältnis und dessen Auswirkung auf Betroffene, sondern konkret um die Schaffung eines wissenschaftlichen Diskurses zu diesem Thema durch Betroffene. Die sich daran anschließende Diskussion des Verhältnisses zwischen Frauenbewegung und Frauenforschung endet mit einer kurzen Besprechung der Tendenzen in der Theorie und der Praxis der Gender Studies an Hochschulen in Bezug auf Klassismus als zugangsbeschränkendem Faktor zum Fach und die dort stattfindende Wissensbildung.

Die zwei Exkurse zu Interventionen, die außerhalb des deutschsprachigen Raums stattgefunden haben, nennt Julia Roßhart passenderweise "Denkanstöße". Es handelt sich jeweils um Bücher bzw. Texte, die später ins Deutsche übersetzt wurden. Im niederländischen Bewegungskontext befasst sich die Autorin insbesondere mit Anja Meulenbelts Buch Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus, welches 1985 in den Niederlanden erscheint und drei Jahre später im deutschen Buchhandel verfügbar ist. Für den US-amerikanischen Kontext untersucht Roßhart Aufsätze von bell hooks, die ab den frühen 1990er Jahren auf deutsch zugänglich waren, wobei sie vor allem den Text Schwesterlichkeit: Politische Solidarität unter Frauen im Exkurs analysiert. Spätestens nach der Übersetzung haben diese Interventionen auch Einfluss auf die deutsche Frauen-/Lesbenbewegung genommen. Mit diesem Einfluss befassen sich die Exkurse zum einen durch eine Betrachtung der Rezeption in der BRD. Zum anderen werden hooks und Meulenbelt als Quellen und Textgrundlagen in der Kontextualisierung der einzelnen Interventionen in der BRD besonders häufig referenziert. So werden die historisch zwar gleichzeitigen, aber geographisch getrennten Interventionen immer wieder innerhalb der Arbeit Roßharts miteinander in Verbindung gesetzt.

Insgesamt wird das Buch den Erwartungen gerecht, die die Einführungskapitel wecken. Die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit den klassen- und herrschaftskritischen Interventionen sind systematisch und detailliert aufbereitet. Auch mit wenig Vorwissen über die Frauen-/Lesbenbewegung der 80/90er Jahre ist der Text durch die stetige Einordnung in den Bewegungskontext gut verständlich und die Lektüre eine Bereicherung.

Wie Roßhart selbst feststellt, konzentrieren sich die Interventionen, die sie untersucht hat, in einem mehrheitlich studierten, weißen, nicht-migrantischen Umfeld (S. 510). Im Gegensatz zur Feststellung, dass die Mehrzahl der untersuchten Interventionen in Lesbengruppen ihren Ursprung haben, lässt sich diese Tendenz jedoch nicht durch eine stärkere Betroffenheit von ökonomischen Ungleichheiten erklären. Folgerichtig macht die Autorin in ihrem Fazit darauf aufmerksam, dass es eine differenziertere Auseinandersetzung mit den einzelnen Strömungen innerhalb der Frauen-/Lesbenbewegung geben müsste, um Aussagen über anti-klassistische Eingriffe außerhalb der beschriebenen Gruppe treffen zu können.

Auch heute sind Klassenherkunft und Klassismuserfahrung keine populären Themen in der feministischen Debatte. Binnenkritik ist nach wie vor schwierig, da sie in dem Ruf steht zu spalten und nicht etwa die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen zu vertiefen. Die Arbeit von Julia Roßhart zeigt aber das Gegenteil. Und so ist das Buch nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, sondern lässt sich selbst ebenfalls als Intervention in die feministische Bewegung lesen. Sicherlich bleibt es eine akademische Arbeit und muss sich damit den ebenfalls im Buch thematisierten und kritisierten Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Schreibens fügen. Das macht die Arbeit sowohl in ihrem Format wie auch auf einer sprachlichen Ebene für einen nicht-akademischen Bewegungskontext schwer zugänglich. Jedoch kann das auch schwerlich das Ziel eines Buches sein, das in seinem Kern eine Dissertation ist. Dass Hochschule ein klassistisch strukturierter Raum ist und damit auch alles Schreiben und Sprechen in diesem Raum von Klassismus mitgeformt ist, reflektiert Roßhart allerdings, wie bereits ausgeführt, und stellt somit nicht nur Fragen an die Geschichtsschreibung der Bewegungsforschung, sondern auch an die zunehmende Akademisierung des Feminismus und eine problematische Klassenblindheit.

Formal sorgt die Abgeschlossenheit der Kapitel, die dazu einladen den Text nicht linear zu lesen, für eine gewisse Redundanz, was jedoch für die Verständlichkeit des Buches kein Hindernis darstellt. Ebenso motiviert ein Verweissystem im Text dazu, im Buch zu blättern und so an andere Stellen im Text zu gelangen – und damit auch an andere Orte und Zeitpunkte in der Frauen-/Lesbenbewegung – die sich mit gleichen oder ähnlichen Themen befassen. Eine lineare Lektüre hingegen ergibt eine Erzählung, die einen kritischen, suchenden Blick auf die Gegenwart erlaubt.

Der gleichzeitige Blick auf Vergangenheit und Gegenwart, den der Text einfordert, provoziert auch den Entwurf einer Zukunft, der sich den Klassenverhältnissen annimmt, sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag als Arbeit an Archiven und Dokumenten, sowie als Eingriff in die Bewegungsforschung und den akademischen Feminismus und schließlich als Aufforderung an die Zukunft der feministischen Theorie und Praxis ein sehr lesenswertes Buch ist.

Autor/innen-Biografie

Mandy Gratz

Hat Französistik, Erziehungswissenschaft und Mathematik an der Universität Jena und der Ecole Normale Superieure Paris studiert und studiert derzeit Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist ehemaliger Vorstand des freien zusammenschluss von student*innenschaften e. V. und Mitglied im dortigen Ausschuss für frauen- und genderpolitik.

Leitet Workshops zu feministischer Praxis in Arbeitszusammenhängen und Wissenschaftskritik. Vortragstätigkeit und Podiumsteilnahme zu den Themen Gleichstellung und Hochschule, kritische Wissenschaft, Exklusion und Inklusion im Hochschulbetrieb, rechte Netzwerke an Hochschulen, Praxisbezug im Studium und Digitalisierung in der Hochschullehre. 

Publikationen:

Gratz, Mandy/ Haitz, Louise/: #NotHeidisGirl – oder doch? Wir sind alle Heidis Mädchen, in: Gender-Blog der Zeitschrift für Medienwissenschaft zfm, 11.11.2017, URL: http://www.zfmedienwissenschaft.de/online/blog/notheidisgirl-%E2%80%93-oder-doch-wir-sind-alle-heidis-m%C3%A4dchen

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Veröffentlicht

2018-11-15

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Rubrik

Kulturwissenschaft