Jakob Hayner: Warum Theater. Krise und Erneuerung.

Berlin: Matthes & Seitz 2020. ISBN: 978-3-95757-852-5. 160 Seiten, 15,00 €.

Autor/innen

  • Yana Prinsloo

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-01

Abstract

Warum Theater? Wie kontrovers diese Frage diskutiert wird, zeigen die theaterhistorischen und die gegenwärtigen Auseinandersetzungen gleichermaßen. Der Theaterkritiker und Redakteur bei Theater der Zeit Jakob Hayner stellt sie im Rahmen der Reihe Fröhliche Wissenschaft des Verlags Matthes & Seitz. "Fröhliche Wissenschaft", das meine die knappe Abhandlung großer Gedanken. "Umwälzende Ideen brauchen nicht viele Worte", so das Verlagscredo (Werbeblatt). Auch Hayner wagt einiges und bietet Angriffsfläche für heftige und (hoffentlich) fröhliche (Grundsatz-)Diskussionen.

Für etliche Theatermacher*innen und Theaterkritiker*innen ist der seit Monaten andauernde Lockdown der Theaterhäuser im deutschsprachigen Raum unter anderem Anlass für Selbstreflexion und Institutionskritik. Neben der Verteidigung der Theaterkultur als systemrelevant, fordern Theatermacher*innen dazu auf, aus dem Lockdown zu lernen und problematische Theatertraditionen zu verlernen. Auf den radikalen Stillstand soll nicht bloß die Rückkehr zur Normalität folgen. Statt eines Back-to-normal geht es um ein verändertes Theater auf, vor und hinter der Bühne.

In seinem Buch Warum Theater sehnt Hayner auch einen Nullpunkt herbei, auf den eine Neubestimmung des Theaters und eine Rückbesinnung auf dessen Kräfte und Fähigkeiten folgen könne. Das sogenannte Gegenwartstheater würde kaum noch (s)einen kulturellen Wert erkennen lassen und den "eigenen Maßstäben" nicht gerecht werden (vgl. S. 18). Die Erfahrung von Ambivalenzen wäre durch eindeutige Botschaften der (Theater-)Kunst ausgetauscht worden (vgl. S. 20). Die durch die Schließung der Theater provozierte Digitalisierung des Gegenwartstheaters ist für Hayner vermutlich ein Schritt in die falsche Richtung. Das Theater solle sich eher in Kritik an den technischen Erscheinungsformen üben, da gerade dort sein "spezifisches Vermögen" liege (S. 38). Hayner geht mit dem Gegenwartstheater hart ins Gericht: Es sei zu angepasst; neige zur "Nacherzählung der Schlagzeilen der Tagespresse", kippe in "kalkulierte Empörung", beschränke seine Politisierung auf bloße, ethisch motivierte Ersatzhandlungen und erschaffe keine politischen, transformierenden Momente (vgl. S. 19-24).

Happenings, Events, die Experten des Alltags transportieren opportunistisch politische Ideologien, die durch ein "eigentümliche[s] Oszillieren zwischen Kunst und Politik" zu ihrer wechselseitigen Bedeutungslosigkeit führen (S. 81). Der Autor kritisiert z.B. mit Nachdruck die Arbeiten des Kollektivs Rimini Protokoll und anderer Theatermacher*innen wie u.a. des Kollektivs Signa. Regelrecht abwertend arbeitet er sich an den Thesen zur Ästhetik des Performativen von Erika Fischer-Lichte ab. Er vermutet eine problematische Verschmelzung von Ästhetik und Ethik im Sinne des Philosophen Jacques Rancière. Seine Sorge teilen derzeit einige andere Kunstkritiker*innen wie Hanno Rauterberg. Die immersive Innovation oder die Erschließung neuer Erfahrungsräume menschlichen Zusammenlebens und Manipulation, die in Signa-Produktionen erfahrbar werden, bleiben unter seinem Radar.  

In Anlehnung an seine Prognosen definiert Hayner vier (kritikwürdige) Dimensionen des Gegenwartstheaters:

1. das "Theater der symbolischen Aktionen", welches lediglich das Symbolische der Kunst mit den Botschaften der Politik lose miteinander verbinde (S. 84-86);
2. das "Theater der Politik der ersten Person", welches durch die ständige Thematisierung der eigenen Biografie einem "therapeutischen Narrativ" folge und damit zur Etablierung neoliberaler Selbstregierungstechniken beitrage (S. 87-90);
3. das Theater, das eine "Auseinandersetzung mit der Identität einer Gruppe" anstrebe und sich im begrenzten Wechselspiel zwischen Fremd- und Selbstzuschreibungen erschöpfe (S. 90-92).
4. die vierte Dimension des Gegenwartstheaters sei ein politisches Theater, welches lediglich "traumatische Situationen wiederholt" (S. 92-96). Diese vier Dimensionen repräsentieren loße Tendenzkunst, indem künstlerische Mittel für außerkünstlerische Zwecke vereinnahmt werden würden.

Seiner Kritik am Gegenwartstheater stellt er die Ansätze von Theatermachern wie Bertolt Brecht, Samuel Beckett, Peter Brook, René Pollesch sowie der Philosophen der Frankfurter Schule als positive Beispiele gegenüber, die seine Vorstellung vom wahren Potenzial des Theaters geprägt hätten. In der Tradition des Philosophen Christoph Menke setzt er ganz auf die Möglichkeiten des Scheins, mit dessen Hilfe Herrschaft und Zwang vom Schleier des angeblich Natürlichen/Naturhaften enttarnt und demaskiert werden könnten. Allein durch Schein, Spiel, Mimesis und die Darstellung der Gesellschaft als eine auf Handlungen basierende, könne Theater zur Aufklärung der Gesellschaft beitragen und ein Urteil hervorrufen (vgl. S. 116). Hayner hofft hier auf das Drama als lustvolles Spiel der Verwandlung mit sozialem Inhalt. "Drama ist die Vorführung von Handlungen in Situationen. Und Handlungen sind wiederum Stoff, aus dem Gesellschaften sind […]." (S. 116) Dieses bewahre vor der "vorherrschende[n] Gedankenlosigkeit" und vor dem Anspruch auf (pädagogische) Nützlichkeit den wahren Kern des Theaters: sein Formbewusstsein.
Im Drama trete Wahrheit in Erscheinung, indem im (Rollen-)Spiel die Grenzen der Verhältnisse überwunden werden würden. "Die Idee des Theaters, um deren Erneuerung es gehen soll, speist sich aus dem Surplus der Form" (S. 99).

Hayner verfasst ein deutliches Plädoyer gegen die "romantische Lesart des Performativen als Verschmelzungslehre von Kunst und Leben" (S. 119), welche für ihn auch eine Einfühlung und eine Wiederverzauberung der Welt bedeute. Er spricht sich gegen das Postdramatische und gegen das Performative als leere Abstraktionen und verzerrte Wunschbilder aus (vgl. S. 118). Die Realität solle das Material nicht aber der Maßstab für das Theater sein. Sein Theaterideal bezeichnet er als kommunistisch – eine Zuschreibung, die er näher hätte ausführen können.

Nach der Lektüre wird klar: Hayner traut Theater Großes zu und glaubt an einen Ausweg aus der Theaterkrise in Analogie zu seiner Prognose einer gesamtgesellschaftlichen Krise. Er will einen Beitrag zur "Selbstaufklärung" leisten und Theater als Möglichkeitsraum verstehen (vgl. S. 153). Dementsprechend formuliert er wohltuende Sätze wie "Die unernsten Spiele des Theaters entzaubern die ernsten der Wirklichkeit" (S. 8) oder: "Auf der Bühne können wir Menschen sehen, die der Weltgeschichte schon zwei Schritte voraus sind" (S. 12). Dabei überwiegt in Hayners Argumentation das Bedürfnis nach Kritik und nach einer Abgrenzung von Tendenzen des Gegenwartstheaters. Seine Abhandlungen zum Schein und zum Drama hätten mehr ins Gewicht fallen können.

Im Zeitalter der Filterblasen und Partikularinteressen ruft sein Rundumschlag gemischte Gefühle hervor: Sympathisch ist die Radikalität und der Anspruch auf die große Erzählung. Gleichzeitig wirkt seine Kritik aus theaterwissenschaftlicher und theaterpraktischer Perspektive ungenau. Er neigt zur unterkomplexen Aufarbeitung von derzeitigen Debatten, was sich in seiner Rede von "der Gesellschaft" und einem ominösen "Wir", seinem spezifischen Fokus auf das Bühnengeschehen sowie seine Referenz auf Klassiker der Theaterwissenschaft wie Erika Fischer-Lichtes Werk Ästhetik des Performativen oder Hans-Thies Lehmanns Postdramatisches Theater, die Debatten der 2000er abbilden, zeigt.

Hayner argumentiert aus einer kunsttheoretischen Perspektive. Er setzt sich kaum mit institutionskritischen oder intersektionalen Stimmen auseinander. Seine Kritik hätte mehr Biss, wenn er auch zu den Konflikten Stellung bezogen hätte, die sich vor und hinter den Bühnen manifestiert haben. Die Frage "Warum Theater?" muss aktuelle Debatten zu den Produktionsverhältnissen miteinschließen. Die viel diskutierte Theaterkrise findet eben nicht nur auf der Bühne statt, wie z. B. der Verein ensemble-netzwerk deutlich macht.

Wer viel wagt, der bietet selbstverständlich auch viel Angriffsfläche. Der Anspruch, auf 170 Seiten eine Gesamtabrechnung vorzulegen und die Krise des Theaters als eine Generalkrise der menschlichen Erfahrung zu argumentieren, kalkuliert blinde Flecken ein. Hayners aufbrausende Argumentation und sein Verständnis von Theater als Möglichkeitsraum bieten wichtige Anknüpfungspunkte für ein Überdenken von derzeit virulenten Relevanzbekundungen und Legitimationsversprechen. Der Theaterkritiker lädt in diesem Sinne mit seiner fröhlichen Schrift von umwälzenden Gedanken zur (Grundsatz-)Debatte über die Eigengesetzlichkeit des Theaters ein.

Autor/innen-Biografie

Yana Prinsloo

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der JGU. Ihre Doktorarbeit (Arbeitstitel: Arbeit als Performance. Eine kritische Analyse der Interdependenzen von Arbeits(-kraft) und Schöpfer(-mythos)) beschäftigt sich mit Arbeitsbegriffen und -praktiken aus einer interdisziplinären Perspektive. Ihre Masterarbeit wurde unter dem Titel Reset Postmodernity? Das (not) doing opinion in der ent-sinnten Gegenwart 2017 beim Tectum-Verlag veröffentlicht. Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit ist sie als freie Autorin (3sat Kulturzeit/ Neue Zeitschrift für Musik) und als freie Kuratorin tätig. Sie ist Gründungsmitglied des Doktorand*innen-Netzwerks DIS(S)CONNECT.

Publikationen:

- Reset Postmodernity? Das (not) doing opinion im Angesicht der ent-sinnten Gegenwart. Marburg: Tectum 2017. (Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft)

- "Über männliche Wehen und fragile Sägeblätter – wenn drei weiße Männer in ihren 40ern einen Workshop leiten." In: Festivals als Innovationsmotor? (itw: im Dialog. Forschungen zum Gegenwartstheater 4) Berlin 2020, S. 144–151.

- "Das Smartphone als Immersions-Verstärker? Zur immersiven Erfahrung in Romeo Castelluccis The Parthenon Metopes und Anne Imhofs Faust." In: Cahiers d’Études Germaniques (CEG, Nr. 79). Aix-en-Provence: 2020, S. 273–283.

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Veröffentlicht

2021-05-20 — aktualisiert am 2021-05-21

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Theater