Kathrin Tiedemann (Hg.): Gintersdorfer/Klaßen – Eleganz ist kein Verbrechen. \\\\ Florian Malzacher (Hg.): andcompany&Co. – the & of history. \\\\ Christine Wahl (Hg.): Rimini Protokoll – welt proben.

Berlin: Alexander 2020. (Postdramatisches Theater in Portraits; Bd. 2) ISBN 978-3-89581-523-2. 208 S., 150 Abb., Preis: € 12,90. \\\\ Berlin: Alexander 2021. (Bd. 3) ISBN 978-3-89581-522-5. 168 S., 75 Abb., Preis: € 12,90. \\\\ Berlin: Alexander 2021. (Bd. 4) ISBN 978-3-89581-560-7. 184 S., 80 Abb., Preis: € 12,90.

Autor/innen

  • Yana Prinsloo

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-05

Abstract

Die Rede vom Postdramatischen Theater stellt für die gegenwärtige Praxis und Forschung eine selbstverständliche Begrifflichkeit dar. Verstanden als Abkehr vom dramatischen/bürgerlichen Theater ist der Lehmannsche Begriff heutzutage wohl weniger als eine Innovation als vielmehr als ein "Allgemeingut"[i] zu sehen, eine eigenständige Institution mit professionalisierten Ausbildungs- und Produktionsstätten.

Die Reihe "Postdramatisches Theater in Portraits", welche zum 30. Jubiläum der Kulturstiftung NRW im Jahr 2019 initiiert wurde, versucht, dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit durch eine Historisierung und Archivierung nachzukommen. In Form einer 12-teiligen Portraitreihe, die diverse Anschlussmöglichkeiten bietet, werden nun diejenigen künstlerischen Positionen und Performances vorgestellt und diskutiert, die am Erfolg des Postdramatischen Theaters beteiligt sind. Auch jenseits eingeweihter Kreise sollen ihre Arbeiten sichtbar gemacht werden.

Die vorliegenden Bände sind in Zusammenarbeit mit den Theatermacher*innen entstanden und geben im kompakten Format einen guten Einblick in ihre künstlerische Handschrift. Gemeinsam ist ihnen ein Rückblick auf die 1990er Jahre, in denen ihre Arbeiten die bundesdeutsche Theaterlandschaft im Wesentlichen mitveränderte: Quereinsteiger*innen aus unterschiedlichen Sparten hätten neue Bezüge zwischen Theater und Realität hergestellt. Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen verlor seine Diffamierung als "Unglücksschmiede"[ii]. Als Gegenentwurf zum Autonomiegedanken habe sich eine Fülle von Theaterformen etabliert, welche als performative Experimente ihre Ergebnisse einer Suche nach neuartigen, nicht-disziplinierenden Beziehungen zwischen Bühne und Publikum sichtbar machten.

Zentrales Anliegen der Herausgeber*innen der Reihe, Florian Malzacher, Aenne Quiñones und Kathrin Tiedemann, ist es, das Postdramatische Theater nicht als "einen Sonderweg" des Theaters, sondern als eine "eigenständige Kunstrichtung" zu reflektieren und diese prägenden Theatermacher*innen in den Diskurs einzuschreiben.[iii] Die Auswahl der Gruppenportraits, darunter die Theaterkollektive Gob Squad, Gintersdorfer/Klaßen und Rimini Protokoll, scheint daher selbst schon ein Garant für die Diskursmächtigkeit der künstlerischen Position zu sein, da sie aus der Perspektive der Herausgeber*innen "bestehende Strukturen und Produktionsweisen – auch die selbst geschaffenen – immer wieder in Frage stellen".[iv]

Die unterschiedlichen Positionen werden durch eine einheitliche Form vermittelt: Sie beginnen mit einem Überblickstext und werden mit Bildmaterialien, eigenen Texten sowie mit Interviews/Gesprächen ergänzt. Auf wenigen Seiten werden Alleinstellungsmerkmale konturiert: Gob Squad produziere sich selber als permanentes Projekt; Rimini Protokoll hätte sich durch ihr Konzept der Expert*innen des Alltags als internationaler Exportschlager etabliert; Gintersdorfer/Klaßen interveniere durch ihre spezifische Theatersprache als deutsch-ivorisches (Kern-)Team in bestehende Systeme der Repräsentation und betreibe die Neuerzählung der europäischen kolonialen Vergangenheit durch ihre Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven (Band 2: S. 52/60).

Was die Einzel- und Gruppenportraits in Bezug auf die Geschichte dieser eigenständigen Kunstrichtung leisten können und sollen, wird auf den ersten Blick klar: Es geht um die Repräsentation und die Würdigung der Innovation und der Kollektive in einem kompakten Format affirmativer und anekdotischer Natur.

Der Beitrag von Gintersdorfer/Klaßen unterscheidet sich graduell: Sie stellen auch die Konflikte in der Gruppenarbeit aus und fordern abschließend eine nachhaltige Produktionsweise des Postdramatischen Theaters. Das Theaterkollektiv hat sich dazu entschieden, eigene Texte und Statements von Hauke Heumann, Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star, Ted Gaier usw. abzudrucken. Diese Texte geben spannende Einblicke in die Konflikte und Zweifel, die die gemeinsame Arbeitsweise hervorbringen. Gaier bezeichnet den Probenprozess als Stressmoment: "Als Performer kann ich sagen, dass die Vorspielsituationen, die sich oft ergeben, ziemlich stressig sein können. Wenn man im Proberaum aus dem Stegreif eine originelle These oder einen Move präsentieren soll und nicht gleich auf den Punkt kommt und in Monikas Gesicht den Unwillen hochsteigen sieht, weil sie sich langweilt – schön ist das nicht" (Band 2: S. 130). Die Gruppe fragt sich selbstkritisch, inwiefern "Kritik ohne Abstand", von Akteur*innen auf der "gleichen Referenzebene" überhaupt möglich ist. Die Antwort bleibt den Leser*innen überlassen.

Ihr Band endet mit Monika Gintersdorfers Forderung nach einer zukünftigen Freien Theaterszene ohne Gatekeeper*innen: "Im Moment ist das so organisiert in der Freien Szene, dass wir Künstler*innen keinen direkten Zugang zu Ressourcen haben. Keine Räume oder Gelder, auf die wir ohne Jury oder Ähnliches zugreifen können. Wenn wir da mehr Spielräume hätten, dann könnten wir was hinterlassen, wenn andere Generationen kommen." (Band 2: S. 153). Ihre Ausgabe ist in ihrer Eindringlichkeit und Polyphonie besonders hervorzuheben.

Rimini Protokoll wiederum reflektieren ihre künstlerische Praxis durch Gespräche mit anderen, zum Beispiel an der Schnittstelle ihrer künstlerischen Praxis mit dem Kurator Low Kee Hong, mit der Bühnenbildnerin Barbara Ehnes und mit dem Dramaturg Matthias Lilienthal. Im Austausch wird ihr Selbstverständnis gegenüber anderen Theaterkollektiven wie der Gruppe Peng! sowie ihre Erfahrungen im Ausland auf dem schmalen Grat zwischen einer Anpassung ihrer Arbeiten und dessen Zensur durch die vorherrschende (Kultur-)Politik deutlich. Zusammen mit Lilienthal wird auch eine vielversprechende, neue Produktion zum Konzern Amazon angedacht. Als Leserin frage ich mich sogar, ob ich die Initialzündung eines nächsten Projekts aus nächster Nähe nachlesen konnte (Band 4: S. 98).

Herausgeberin Christine Wahl betont in ihrem Rimini-Protokoll-Portrait die Novität des Rimini-Protokoll-Prinzips, theaterfremde Akteur*innen als Expert*innen des Alltags auf die Bühne zu bringen. Hierfür hätte es nach Wahl eine Wiederbelebung der eingeschlafenen Praxis des Dokumentarischen Theaters sowie eine Abgrenzung vom Laientheater bedurft. Wahl ist wichtig: das theatrale "Readymade", welches in Gießen im Jahre 1997 das erste Mal reüssierte, ist für sie bis heute "branchenepochal" (Band 2: S. 33).

Die Berichte über ihre frühen Erfahrungen mit ihren Expert*innen sind sehr amüsant: So hätten viele Teilnehmer*innen teilweise bis zum Probenbeginn trotz bestehender Verträge und Absprachen nicht (wirklich) daran geglaubt, dass sie im Endeffekt selbst auf der Bühne stehen werden.

"What are you looking at?", fragt Gob Squad im Foto mit herausforderndem Blick auf der ersten Doppelseite. Ganz in Gob-Squad-Manier wirft die Gruppe gleich den Blick zurück zu mir als Leserin und bindet mich mit in ihr Portrait ein. Neben den obligatorischen Bestandteilen aus Überblickstext, Gespräch und Werkverzeichnis zeigt Gob Squad ihre Arbeit in vielen Bildern. Der Band ist spielerisch und selbstironisch. "Gob Squad [sei] ein Zwitterwesen aus sieben Kontrollfreaks, eine Borg, eine Patchwork-Familie, eine soziale Utopie" (Band 1: 34) Sie stellen (sich) die Frage, ob sie als Kollektiv-"Dinosaurier" inzwischen ein "Label" sind und inwiefern ihre permanente Selbstbeschäftigung sie immer wieder zu gesellschaftspolitischen und grundsätzlichen Fragen menschlichen Miteinanders führt (Band 1: S. 77-87). Der Band verrät wenig über den Arbeitsalltag des Kollektivs und beschränkt sich umso intensiver auf die Gründungsgeschichte und die Ideale der kollektiven (Theater-)Verantwortung. Der Wille, eigene Regeln zu etablieren sowie ihr Mut immer wieder multiple Perspektiven auf der Bühne auszustellen, wird deutlich. Das zeigt sich auch in ihren Abschlussstatements, in denen sie das Thema der Blase als einerseits Verlassen der Komfortzone und andererseits Verlassen des eigenen etablierten Statutes konträr diskutieren. Deutlich wird die gegenseitige Verbindlichkeit, wofür Sarah klare Abschlussworte findet: "Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass unsere Bereitschaft, füreinander zu sorgen, uns gegenseitig und unser Team zu stützen, das ist, was uns zusammenhält – das ist der Kitt." (Band 1: S. 100).

Die Portraitreihe leistet aus meiner Sicht daher zweierlei. Sie ist eine Standortbestimmung und eine performative Selbstpräsentation, denn die drei Gruppen bleiben sich in der Gestaltung ihrer Ausgaben treu: Rimini Protokoll sucht den Austausch zu anderen Expert*innen, Gob Squad fordert ihre Zuschauer*innen/Leser*innen heraus und Gintersdorfer/Klaßen stellt durch das Nebeneinander ihrer Textbeiträge ihre eigene Kritikfähigkeit zur Disposition. Als performative Materialien sind die Bände gelungen. Ich empfinde den persönlichen Austausch, der sich durch die Gestaltungsfreiheit der Theatermacher*innen ergibt, als bereichernd und angenehme Leseerfahrung.  

Die Bände sind damit Teil einer informativen, schön gestalteten und anschlussfähigen Reihe mit offenem Ende. Sie sind eine plausible Art der Selbstarchivierung, gerade mit Blick auf die eklatanten Leerstellen einer Dokumentation des Freien Theaters, die bereits durch Projekte wie das Performing Archive angeprangert werden.[v] Interessant wird sein, inwiefern die Herausgeber*innen die Auswahl der Theatergruppen durch eine Begründung noch transparent machen, bzw. inwiefern die folgenden Bände die Praxis der Kanonisierung selbst problematisieren. Mich würden in zukünftigen Projekten noch eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Arbeitsalltag der Gruppen und dem möglichen Wandel der Selbst- und Fremdbezeichnung als Kollektiv interessieren. Die Reihe motiviert Neulinge und Fans gleichermaßen, in neuen Richtungen von Theater zu denken.

 

[i] "'Theater kann viel mehr sein'. Eva Behrendt im Gespräch mit Florian Malzacher, Christine Peters, Aenne Quin ̃ones, Kathrin Tiedemann und Alexander Wewerka über post-dramatisches Theater und die neue Buchreihe", Alexander Verlag 2019. https://www.alexander-verlag.com/images/verlag/medien/464-broschu-re-web.pdf, abgerufen am: 28.03.2022, S. 8.

[ii] Ebd., S. 12.

[iii] Ebd., S. 8.

[iv] Ebd., S. 31.

[v] Wolfgang Schneider/Christine Henniger/Henning Fülle (Hg.): Performing the Archive. Studie zur Entwicklung eines Archivs des Freien Theaters. Hildesheim: Georg Olms 2018.

Autor/innen-Biografie

Yana Prinsloo

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der JGU. Ihre Doktorarbeit (Arbeitstitel: Arbeit als Performance. Eine kritische Analyse der Interdependenzen von Arbeits(-kraft) und Schöpfer(-mythos)) beschäftigt sich mit Arbeitsbegriffen und -praktiken aus einer interdisziplinären Perspektive. Ihre Masterarbeit wurde unter dem Titel Reset Postmodernity? Das (not) doing opinion in der ent-sinnten Gegenwart 2017 beim Tectum-Verlag veröffentlicht. Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit ist sie als freie Autorin (3sat Kulturzeit/ Neue Zeitschrift für Musik) und als freie Kuratorin tätig. Sie ist Gründungsmitglied des Doktorand*innen-Netzwerks DIS(S)CONNECT.

Publikationen:

- Reset Postmodernity? Das (not) doing opinion im Angesicht der ent-sinnten Gegenwart. Marburg: Tectum 2017. (Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft)

- "Über männliche Wehen und fragile Sägeblätter – wenn drei weiße Männer in ihren 40ern einen Workshop leiten." In: Festivals als Innovationsmotor? (itw: im Dialog. Forschungen zum Gegenwartstheater 4) Berlin 2020, S. 144–151.

- "Das Smartphone als Immersions-Verstärker? Zur immersiven Erfahrung in Romeo Castelluccis The Parthenon Metopes und Anne Imhofs Faust." In: Cahiers d’Études Germaniques (CEG, Nr. 79). Aix-en-Provence: 2020, S. 273–283.

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Veröffentlicht

2022-05-18

Ausgabe

Rubrik

Theater

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