Ömer Alkın: Die visuelle Kultur der Migration. Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos.

Bielefeld: Transcript 2020. ISBN: 978-3-8376-5036-5. 628 Seiten, Preis: € 59,99.

Autor/innen

  • Hauke Lehmann

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-2-08

Abstract

Allmählich kommt Bewegung in die Forschungslage zum sogenannten "deutsch-türkischen Kino". Nachdem jahrelang nur drei Sammelbände und einige verstreute Aufsätze zum Thema vorlagen, hat die Debatte in letzter Zeit mit Monografien etwa von Nanna Heidenreich (2015), Gözde Naiboğlu (2018) und Muriel Schindler (2021) sowie zwei weiteren Sammelbänden (vgl. Alkın 2017, Bayrak u.a. 2020) deutlich an Dynamik gewonnen. Gemein ist den meisten dieser Publikationen der dezidierte Anspruch, das so lange brachliegende Forschungsfeld neu zu konturieren und den Forschungsstand einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Kritik richtet sich vornehmlich auf die medien- bzw. filmtheoretische Unterkomplexität, mit der das deutsch-türkische Kino lange angegangen wurde – speziell im Hinblick auf die Frage der Repräsentation (also die Frage, inwieweit filmische Bilder als Abbilder gesellschaftlicher Realität verstanden werden). In diesen Kontext ist auch Die visuelle Kultur der Migration von Ömer Alkın einzuordnen. Was seine Monografie (zugleich seine Dissertation) auszeichnet, ist, dass er nicht nur theoretisch ambitioniert vorgeht, sondern vor allem in historischer Hinsicht eine Forschungslücke schließt, indem er den sogenannten "türkischen Emigrationsfilm" als komplementäre Formation zu den in Deutschland produzierten Filmen in den Blick rückt.

Alkın baut seine (über 600 Seiten lange) Arbeit in zwei große Teile auf. Der erste Teil widmet sich ausführlich dem Forschungsstand, den theoretischen und methodischen Vorüberlegungen (etwa zur Abgrenzung des Gegenstands oder zur eigenen Arbeitsweise mit bewegten Bildern) sowie einer Rekapitulation der historischen Kontexte zum Thema Migration sowohl der Filmproduktionen aus Deutschland wie derjenigen aus der Türkei. Die Filme des im konventionellen Sinne "deutsch-türkischen Kinos" (also Produktionen aus Deutschland, die von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund inszeniert werden bzw. von solchen Menschen handeln) spielen allerdings im weiteren Verlauf der Arbeit keine nennenswerte Rolle mehr. Dies wirft sogleich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn von Alkıns Ansatz auf, beide Formationen zusammenzudenken – könnte sich dieser Gewinn doch erst dort mit voller Überzeugungskraft einstellen, wo man die Filme in vergleichender Analyse aufeinander bezieht.

Migration wird von Alkın als "Motiv" in den Filmen, bzw. als "epistemisches Ding" (S. 36f.) verstanden. Das Ziel seiner Arbeit besteht darin, nachzuverfolgen, wie sich dieses Motiv der Migration in den Filmen des Kinos der Türkei, speziell des Yeşilçam-Kinos der 1970er-Jahre, visuell konstituiert. Alkın orientiert sich an Theorien visueller Kultur, bezieht aber auch eine ganze Reihe anderer Ansätze mit ein (Medienphilosophie, Psychoanalyse, Raumtheorie, Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Science and Technology Studies), um die Schwierigkeiten der Eingrenzung und Verortung dieses Filmmotivs angemessen zu reflektieren. Über der Vielzahl der Perspektiven verliert sich allerdings gelegentlich die klare Ausrichtung der Argumentation.

Der zweite Teil konzentriert sich auf die Analyse der Beispiele, wobei immer wieder theoretische und historische Exkurse eingestreut werden. (Eine Anmerkung zur Form: ein gründlicheres Lektorat hätte dem Buch gutgetan und seine Lesbarkeit deutlich erhöht.) Besonders die historischen Exkurse erweisen sich dabei als wichtig für die Einbettung der Filmanalysen. Alkın nimmt zu Beginn die heuristische Setzung einer "Ereignisstruktur von Emigration" (S. 209) vor, zu deren Status und theoretischer Kontextualisierung man gerne mehr erfahren hätte – etwa mit Blick auf die Frage, inwiefern es sich bei dem untersuchten Korpus um ein Genre handelt, oder wie sein Zusammenhang jenseits einer Gemeinsamkeit von Motiven zu denken ist. Alkın identifiziert vier Elemente dieser Ereignisstruktur: Abwesenheit, Anreise, Ankunft und Anwesenheit, die er anhand der Untersuchung von entsprechenden Szenen herausarbeitet. Insgesamt bleibt in der Hinführung auf die konkreten Analysen eher vage, wie der theoretische Zugriff auf die Filme gedacht wird. Alkın spricht sich dafür aus, "den Fokus auf die filmästhetischen Besonderheiten der Filme nicht durch eine prädeterminierte filmtheoretische Überlegung einzugrenzen, sondern den materiell unversieglichen Überschuss des Filmischen gegenüber eines schriftlichen Beschreibungssystems [sic], das auch die vorliegende wissenschaftliche Arbeit ist, anzuerkennen und an ihm zu arbeiten" (S. 204). Wie aber kann man am "Überschuss des Filmischen gegenüber eines schriftlichen Beschreibungssystems" arbeiten ohne konsistenten filmtheoretischen Zugang? Hier gibt es einen Bruch zwischen dem theoretischen Anspruch des Buches und der Einlösung dieses Anspruchs in den Analysen – einen Bruch, der übrigens durchaus typisch ist für die akademische Diskussion zu dem Thema.

Die ausführlichen Analysen operieren denn auch keineswegs theoriebefreit. Dort, wo sie auf einer kohärenten theoretischen Basis aufbauen – etwa in der Analyse der Anfangssequenz von Davaro (R: Kartal Tibet, TR 1981) – machen sie die stärksten Abschnitte des Buches aus. Dort gelingt es Alkın auf eindrucksvolle Weise, die audiovisuelle Entfaltung des filmischen Bildraums als Entstehungsprozess einer Vorstellung von Sozialität nachzuzeichnen, für die das Verhältnis zwischen Emigrant und Dorfgemeinschaft zum Ordnungsproblem wird (vgl. S. 224-238). Ein anderes Beispiel ist die detailliert kontextualisierte Analyse einiger Sequenzen aus Memleketim (R: Yücel Çakmaklı, TR 1975), in der das komplexe Zusammenspiel von Produktionsumständen, politischen Diskursen, sozialen Kontexten, medialen Konfigurationen und künstlerischen Poetiken voll zur Geltung kommt und nachvollziehbar gemacht wird (vgl. S. 445-479). Hingegen entstehen immer dann Probleme, wenn von einer vermeintlich stabilen, ahistorischen Charakteristik von Migration auf die Filme zurückgeschlossen wird, anstatt auf die generischen Zusammenhänge einzugehen, in denen die formalen Verfahren und ästhetischen Figurationen in ihrer Historizität erkennbar werden könnten (siehe beispielsweise S. 297, wo es heißt, Migration sei gekennzeichnet durch "das binäre Modell einer Medialität von An- und Abwesenheit", und darin liege die "Wesensverwandtschaft zur Medialität des Filmischen"). Ähnlich irritierend wirkt es, wenn am Beispiel einer Szene, in der betont flash zooms eingesetzt werden, nicht etwa auf die entsprechenden historisch verortbaren Konventionen verwiesen wird (etwa jene des  Hollywood-Kinos der 1970er Jahre und sicher auch im damaligen Kino der Türkei), sondern ein allgemeiner Exkurs zum Verhältnis von technischen Medien und menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit erfolgt (vgl. S. 410f.).

Vor diesem Hintergrund ist möglicherweise die letzte Drehung in Alkıns Argumentation zu verstehen, wenn er direkt vor dem kurzen Schlusskapitel die Möglichkeit einer affekttheoretisch basierten Filmanalyse andeutet, die die dauerpräsente Frage der Repräsentationslogik noch einmal von einer anderen Seite beleuchtet. So scheinen bis zuletzt leise Zweifel daran angebracht, wie sinnvoll es ist, Migration tatsächlich als "epistemisches Ding" zu abstrahieren. Denn auch der von Alkın betriebene hohe theoretische Aufwand ändert nichts daran, dass der Akt, auf das filmische Bild zu zeigen und festzustellen: "Dies ist Migration", bzw. "dies ist ein Migrant" selbst ein politischer Akt ist: nämlich ein Akt, der Identität zuschreibt und politische Kategorien – in welcher medialen Vermittlung auch immer – auf die Beschreibung audiovisueller Bilder überträgt. Wenn man daher mit W. J. T. Mitchell von einer visuellen Kultur der Migration spricht, kommt man nicht darum herum, diese Kultur auch historisch zu situieren: als Ergebnis oder Ausdruck eines Prozesses politischer und kultureller Vergemeinschaftung, der sich durch eine spezifische Sinnlichkeit auszeichnet, zugleich aber unweigerlich Ein- und Ausschlüsse produziert. Die visuelle Konstruktion von Migration ließe sich dann nur im Wechselspiel zwischen den Bildern und den Diskursen rekonstruieren, auf die die Bilder sich beziehen.

Schließlich drängt sich diesbezüglich noch eine Frage zum theoretisch-analytischen Ansatz der Arbeit auf: Wieso ist darin eigentlich nur von visueller, nicht aber von audiovisueller Kultur die Rede? Schließlich spielt doch die Musik nicht nur, aber gerade auch in den Arabesk-Filmen – dem "türkischen Migrationsgenre schlechthin" (S. 394) – eine zentrale Rolle. Hier scheint ein blinder Fleck der Untersuchung zu liegen; denn es ginge dann letztlich nicht nur um die Sichtbarmachung von Migration (verstanden als epistemisches Problem), sondern um die politische, gesellschaftliche und kulturelle Funktion der Filme, die sich auf den Migrationsdiskurs beziehen. Das Wandern des Arabesk-Modus' von einer kulturellen Formation (verbunden mit der Binnenmigration in der Türkei) in ein musikalisches Genre, von dort ins Kino und von dort wiederum in einen umfassenden Lifestyle ist dafür tatsächlich beispielhaft. Erst als audiovisuelle Figurationen, das heißt, als raumzeitliche Kompositionen mit einer bestimmten Dauer, die auf eine bestimmte Weise mit ihrem Publikum interagieren, werden die Filme in dieser Hinsicht lesbar und analysierbar.

Alkıns Buch stellt eine dringend benötigte Erweiterung der Forschung zum Zusammenhang von Kino und Migration zwischen der Türkei und Deutschland dar. Die äußerst ambitionierte Arbeit stößt dabei trotz einiger Probleme eine Vielzahl von Fragen an, die über das Feststellen von Forschungslücken hinausgehen: unter anderem solche nach dem Film als Form audiovisueller Diskursivität, nach der Bedeutung von Genres für ein Denken der historischen Dimensionierung ästhetischer Erfahrung, nach der Art und Weise, wie sich der Zusammenhang zwischen Film und Gesellschaft jenseits von Repräsentationslogiken denken lässt und danach, auf welche Weise die Filmwissenschaft der interdisziplinären Beschäftigung mit filmischen Bildern eine möglichst anschlussfähige methodische Grundlage bereitstellen kann. In Bezug auf diese und mehr Fragen erweist sich Alkıns Buch als überaus anregende Lektüre.

Literatur:

Alkın, Ömer (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Verlag: Wiesbaden 2017.

Bayrak, Deniz/Dinç, Enis/Ekinci, Yüksel/Reininghaus, Sarah (Hg.): Der deutsch-türkische Film. Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: Transcript 2020.

Heidenreich, Nanna: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. Bielefeld: Transcript 2015.

Naiboğlu, Gözde: Post-Unification Turkish German Cinema. Work, Globalisation and Politics Beyond Representation. London: Palgrave Macmillan 2018.

Schindler, Muriel: 'Deutsch-türkisches Kino'. Eine Kategorie wird gemacht. Marburg: Schüren 2021.

Autor/innen-Biografie

Hauke Lehmann

Dr. Hauke Lehmann lehrt Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Dort leitet er das Teilprojekt "Transkulturelle, integrative und rassistische Poetiken audiovisueller Bilder" am Sonderforschungsbereich Affective Societies. Seine Dissertation Affektpoetiken des New Hollywood erschien 2016. Hauke Lehmann ist Mitherausgeber des interdisziplinären Handbuchs Emotionen (2019) sowie Ko-Autor von The Politics of Affective Societies (2019). Er forscht zur gesellschaftlichen Erscheinungsweise filmischer Bilder sowie zu Theorien des Imaginären.

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Veröffentlicht

2021-11-30

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Rubrik

Film