Samir Gandesha/Johan F. Hartle (Hg.): Aesthetic Marx.

London u. a.: Bloomsbury Academic 2017. ISBN: 978-1-350-07471-2. 342 S., 35 s/w Abb., Preis: € 24,85.

Autor/innen

  • Hauke Lehmann

Abstract

Wenn sich eine übergreifende Tendenz in den geisteswissenschaftlichen Debatten der letzten zwei Jahrzehnte beobachten lässt, so besteht diese in dem Bemühen, die politische Relevanz von Kunst und ästhetischer Erfahrung auf neue, den zeitgeschichtlichen Entwicklungen angemessene Weise zu denken. Die dazu in Anschlag gebrachten Modelle gehen in verschiedene Richtungen und treten miteinander durchaus in Konflikt. Ein Zeichen für die enorme Strahlkraft dieser Hinwendung zum Politischen ist das Erscheinen von Aesthetic Marx, eines Bandes, der antritt, die Theoreme eines vermeintlich so erschöpfend behandelten Denkers wie Karl Marx für die aktuelle Diskussion fruchtbar zu machen.

Gleichzeitig markiert der Band nicht nur die Insistenz der gegenwärtigen Problemstellungen; vielmehr dient er auch als Testfall für die Tragfähigkeit jener Ansätze, die sich deren Bewältigung oder doch mindestens Beschreibung zur Aufgabe gemacht haben. So scheint es ja keineswegs selbstverständlich, in diesem Zusammenhang ausgerechnet auf Marx zurückzugreifen, auch wenn niemand bestreiten wird, dass der Kapitalismus "ästhetisch geworden" ist – so die Diagnose, mit der die Herausgeber ihre ambitionierte und zuweilen dichte Einleitung beginnen (S. x). Ebenso unbestreitbar verbindet sich mit der Chiffre 'Marx' noch immer eine Art utopischer Überschuss, den es jedoch – auf welche Weise auch immer – einzulösen gilt. Auf Grundlage dieser Diagnose zielt die Einleitung daher darauf ab, historisch herzuleiten, wie sich das marxsche Werk auf durchaus vielfältige Weise auf jene Ansätze beziehen lässt, die diese ästhetische Dimension als Frage nach dem Politischen konzeptualisieren. Diese Herleitung greift weit aus und verortet Marx nicht nur in historischer Langzeitperspektive, sondern auch mit Blick auf geistesgeschichtlich zentrale Denker wie Aristoteles, Machiavelli, Nietzsche oder Kant – zusätzlich zu denjenigen, die sich ihrerseits auf Marx beziehen (Lukács, Gramsci, Marcuse, Benjamin, Jameson, Derrida, etc.). Sie liefert dadurch eine hervorragende Grundlage nicht nur für die im Band versammelten Beiträge, sondern auch für zukünftige Arbeiten in dieser Richtung.

Ein zentrales Manöver ist dabei, den Unterschied zwischen "Ästhetik" ("aesthetics") als philosophische Disziplin und dem "Ästhetischen" ("the aesthetic") als historische Organisation der Sinne hervorzuheben (S. xii). Diese Operation erinnert unmittelbar an die Unterscheidung zwischen 'Politik' und dem 'Politischen', die unter anderem in der jüngeren Rezeption Jacques Rancières in der politischen Philosophie und den Kulturwissenschaften enorm wirkmächtig geworden ist – eine Parallele, die hier jedoch (trotz ausführlicher und durchaus kontroverser Auseinandersetzung mit Rancière) nicht explizit gemacht wird. Wenig überraschend ist es die zweite Bedeutungsdimension des Ästhetischen, die für das "meta-ästhetische" (S. xiii) Projekt des Buches besonders produktiv wird – ist es doch in der aktuellen Diskussion speziell diese Perspektive, in der sich die Verfahren der Künste in ihrer theoriebildenden und politisch intervenierenden Kraft nachvollziehbar machen lassen. Die vielfältigen Facetten dieser Debatte bezieht die Einleitung aufeinander und bereitet so den Zusammenhang der einzelnen Beiträge vor, die in drei Sektionen gegliedert sind: "Aesthetics/Emancipations", "Style and Performativity in Marx" und "Modes of Artistic Production". Jede Sektion setzt sich aus vier Aufsätzen zusammen.

Der erste Abschnitt versammelt Beiträge, die sich dem inhärenten Zusammenhang zwischen den marxschen Thesen und Axiomen ästhetischer Theoriebildung widmen. So stellt Samir Gandesha in seinem Aufsatz zu "drei Logiken des Ästhetischen bei Marx" die vielleicht nicht erstaunliche, jedoch weitreichende These auf, dass Marx' Begriff des Ästhetischen mit der Entwicklung seines Konzepts des Materialismus eng korrespondiert, wobei beide über das Prinzip der "Sinnlichkeit" miteinander in Beziehung treten (S. 5). Auf diese Weise avanciert die Gesetzmäßigkeit historischen Fortschreitens zu einer ästhetischen Logik. Im Zuge der Ausarbeitung dieser Logik entgeht der Autor nicht immer der Gefahr, sich in 'marxologischen' Spezialdiskussionen zu verlieren, anstatt die Begriffe für übergeordnete Fragestellungen produktiv zu machen.

Henry Pickford hinterfragt in seinem Aufsatz die hergebrachte Dichotomie zwischen 'poiesis' (Herstellen) und 'praxis' (Handeln), indem er eine dritte Spielart des produktiven Denkens einführt: 'energeia'. Zur eigentlichen These seines Aufsatzes gelangt Pickford allerdings erst nach zehn Seiten Vorbereitung – das gibt einen kleinen Eindruck in die Komplexität (und lange Geschichte) der in diesem Band aufgegriffenen Diskurse. Er hat dort seine stärksten Momente, wo die Autoren den Mut zur Spekulation entwickeln, z. B., wenn Pickford am Ende seines Aufsatzes die Möglichkeit eines spezifisch marxistischen Begriffs ästhetischer Erfahrung erörtert. In diesem Sinne stellt der Beitrag von Sami Khatib ein Musterbeispiel dar: Er geht vom Faszinosum der eigentümlichen Seinsweise der Warenform – der Realabstraktion – aus und verfolgt die Facetten dieses Phänomens in ihren vielfältigen Verzweigungen, sei es in Theorien der Linguistik oder in paradigmatischen Figurationen der Moderne. Ein Aspekt dieser Seinsweise ist, dass sich Realabstraktion nicht objektivieren lässt; vielmehr bezeichnet sie ein Wahrnehmungsverhältnis, das jede Position der Analyse einfasst, einschließlich Marx' eigener. In der Konsequenz enthüllt der "Modus der Präsentation die Struktur des Untersuchungsgegenstands" (S. 52): Das Problem zeigt sich in der Sprache selbst, es ist sinnlich und übersinnlich zugleich.

Formen des Denkens spielen auch für den letzten Aufsatz der ersten Sektion eine wesentliche Rolle: John F. Hartle geht dem Prinzip der "freien Assoziation" bei Marx und Sigmund Freud nach – das eine Mal als Plan sozialer Ordnung, das andere Mal als Verfahren, Zugang zu den "elementaren Kräften unbewusster Wünsche" (S. 73) zu erhalten. Angesichts der theoriegeschichtlich äußerst einflussreichen Kopplung psychoanalytischer und marxistischer Erklärungsmodelle stellt der Aufsatz einen höchst instruktiven Versuch dar, Verwandtschaften und Unterschiede zwischen ihnen freizulegen – Begriffsarbeit im besten Sinne, die die von Rancière so prägnant markierten Verbindungen zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen aus ungewohnter Perspektive beleuchtet.

Die zweite Sektion legt einen stärkeren Akzent auf die konkrete historische Verortung des marxschen Werkes. Eingeläutet wird dieser Abschnitt von Anna-Katharina Gisbertz. In ihrem Beitrag rekonstruiert sie, wie Marx seine Überlegungen ins Verhältnis zum dominanten ästhetischen Diskurs seiner Zeit setzt. Das von ihr gezeichnete Bild zeigt dabei einerseits einen Marx, der konservativer daherkommt, als es manchmal den Anschein hat. Andererseits wird so erst verständlich, worin die innovative und transformative Kraft seines Denkens in Bezug auf sein historisches Umfeld gelegen haben mag.

In Hayden Whites (hier wiederabgedrucktem) Aufsatz wird Geschichte dann selbst zum Gegenstand des Denkens, das emphatisch selbst historisch verortet ist. White erläutert zu Beginn, dass er Marx' historiografisches Schreiben eher als künstlerische denn als wissenschaftliche Tätigkeit versteht – eine Unterscheidung, die White selbst allerdings mehr als einmal in Zweifel gezogen hat. Im vorliegenden Text demonstriert er an Marx' Schriften spezifische Modi geschichtlichen Denkens: den der Synekdoche und den der Metonymie. Aus dem Zusammenspiel dieser Modi lässt sich das Verhältnis zwischen gesetzmäßig konstanten ökonomischen Strukturen und ebenso gesetzmäßig dynamischer langzeithistorischer Entfaltung ableiten. Die Intention des marxschen Vorgehens erkennt White darin, Geschichte in ihrer Veränderbarkeit erfahrbar zu machen und dadurch seinen Leser auf die Möglichkeit der Entscheidung zurückzuwerfen. Auf ganz andere Weise (und auch im Tonfall sich deutlich vom Rest des Sammelbands unterscheidend) wird Geschichte im Beitrag von Terrell Carver in Anschlag gebracht: Carver erklärt, die marxschen Schriften, so weit möglich, vor ihrer Kanonisierung und in ihrer zeitgenössischen Ausrichtung zu lesen und auf ihr politisches Potential befragen zu wollen – was u. a. die Frage aufwirft, wie die intervenierende Funktion polemischen Schreibens theoretisch zu rekonstruieren wäre. Es folgt eine scharfsichtige Lektüre des 18. Brumaire, die Carvers rhetorischen Aufwand jedoch nur bedingt zu rechtfertigen vermag.

Die produktive Kraft historischer Gegenüberstellungen demonstriert Daniel Hartley in seinem Essay, der mit Hilfe von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen einen "Strang ästhetischer Logik" (S. 165) in Marx' politischer Theorie sichtbar zu machen sucht, während seinerseits Schiller dabei auf neue Weise lesbar wird. Ähnlich wie die (offensichtlichere) Paarung von Marx und Freud setzt eine solche Konfrontation einen imaginativen Überschuss frei, der als stärkstes Argument für die anhaltende Relevanz des marxschen Denkens gelten mag. Wenn von Geschichte die Rede ist, ist im Übrigen positiv hervorzuheben, dass die Beiträge des Buches insgesamt sich nicht weiter mit Fragen der periodischen Einteilung (etwa in einen 'frühen' oder 'späten' Marx) aufhalten, sondern ganz auf die Bindekraft der in den Aufsätzen entworfenen gedanklichen Kontexte vertrauen.

Die letzte Sektion des Buches widmet sich der künstlerischen Reflexion von Marx' Werk, Leben und Wirken. Den Anfang macht ein Aufsatz von Boris Groys. Diesem geht es nun nicht (mehr) um die Verästelungen der Theorie, sondern darum, den Abstand zwischen der kommunistischen 'Idee' und den historischen Manifestationen dieser Idee auszumessen. In der Kunst, so Groys, realisiere sich der utopische, d. h. der intermediäre Status des kommunistischen Projekts – und zwar nicht nur in ihrer ästhetischen Dimension, sondern eben auch in den Bedingungen ihrer Produktion und Distribution. Die paradigmatische Form, in der sich diese Bedingungen reflektiert finden, ist Groys zufolge die Installation (woraus sich ein Spiel mit der Idee des Bauens am kommunistischen Projekt ergibt).

Nach diesen eher grundsätzlichen Erwägungen steuert Robin Greeley eine historische Fallstudie bei, welche die Entwicklungen in der mexikanischen Konzeptkunst nach der Niederschlagung der Studentenproteste 1968 untersucht. Auf schlagende Weise, fast wie ein Gegengewicht, macht der Beitrag nicht nur den kulturellen, sondern auch historischen Abstand zwischen der aktuellen Situation und den Debatten sichtbar, die den Großteil des Sammelbandes beschäftigen. '1968' fungiert dabei wie ein Brennglas, in dem sich diese Diskurse auf eine Weise gebündelt haben, die uns heute, gerade einmal 50 Jahre später, ihrerseits in höchstem Maße erklärungsbedürftig erscheint. Damit ist nicht etwa das Scheitern des Buches diagnostiziert; aber es wird vielleicht deutlich, dass mit diesem Buch vor allem ein Anfang gemacht ist. Erste Schritte, die diesen Abstand adressieren, erfolgen in den letzten beiden Aufsätzen. Der Text von Sven Lütticken befasst sich mit filmischen Auseinandersetzungen mit dem marxschen Werk und dessen Folgen – angesichts der Stellung des Kinos nicht nur in der frühen Sowjetunion (man denke an Eisensteins Kapital-Projekt) ein zentraler Aspekt des hier verhandelten Themas. Der Fokus des Aufsatzes ist jedoch weder ein filmanalytischer noch ein filmtheoretischer. Dies stellt m. E. ein Versäumnis dar, hat doch die Filmtheorie in zahlreichen Ansätzen (von Eisenstein über Baudry bis Jameson) das Verhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen, bzw. der Ökonomie zu formulieren versucht und böte ein entsprechendes Reservoir an Begriffen. Stattdessen ruft Lütticken aktuelle ökonomische Theorien auf, vertreten durch Namen (Negri/Hardt, Boltanski/Chiapello), die im übrigen Buch wiederum geradezu auffällig abwesend bleiben. So wichtig es von einem Marx-Standpunkt aus ist, die Produktionsästhetik zu betonen, scheint hier eine Chance vergeben worden zu sein.

Den Abschluss macht ein zweiter Aufsatz von Johan F. Hartle, der die Zirkulation und Modulation von 'Marx' in der Kunst verfolgt. Der Name, bzw. 'das' Bild (denn es ist im Wesentlichen nur 'ein' Bild, das wieder und wieder reproduziert wird) hat längst eine Funktion als Chiffre angenommen, die in gewisser Weise im Cover-Design des Sammelbandes wieder aufgegriffen wird, dessen Titel in leuchtenden Neon-Buchstaben eben jene Spannung zwischen radikalem Veränderungsanspruch und prompter Kommodifizierung auf den Punkt bringt, um die es Hartle geht, und die den Kern des ästhetisch-politischen Paradigmas markiert. So dient der Aufsatz zugleich als passende Zusammenfassung des ganzen Bandes, der sich auf höchst anregende Weise an der Erneuerung dieses Paradigmas versucht – bei aller zuweilen herausfordernden Dichte und auch angesichts des seltsamen Effekts, der sich für den deutschsprachigen Leser ergibt, wenn er die ursprünglich weitgehend auf Deutsch geführten Debatten (von Schiller über Freud bis Habermas) in englischer Übersetzung rezipiert. Diese Mühe ist das Buch allemal wert.

Autor/innen-Biografie

Hauke Lehmann

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich Affective Societies an der Freien Universität Berlin. Er studierte Film- und Theaterwissenschaft in Berlin und Prag und promovierte 2013 mit einer Arbeit zu den Affektpoetiken des New Hollywood-Kinos. Seit 2015 arbeitet er an einem Forschungsprojekt zur Modulation von Gemeinschaftsgefühlen im sogenannten deutsch-türkischen Kino.

Publikationen (Auswahl):

Hauke Lehmann: "Groteske und Banalität. Abgrund des Zusammenhangs in Juraj Herz’ Der Leichenverbrenner". In: Filmische Seitenblicke. Cinepoetische Exkursionen ins Kino von 1968. Hrsg. v. Daniel Illger/Christine Lötscher. Berlin: De Gruyter 2019, S. 395–410.

–/Hans Roth/Kerstin Schankweiler: "Affective Economy". In: Affective Societies – Key Concepts. Hrsg. v. Jan Slaby/Christian von Scheve. London/New York: Routledge 2019, S. 140–151.

–: "Suspense in the Cinema: Knowledge and Time". In: Fascination with the Unknown: Time. Hrsg. v. Sibylle Baumbach/Lena Henningsen/Klaus Oschema. London: Palgrave Macmillan 2017, S. 251–271.

–: "How does Arriving Feel? Modulating a Cinematic Sense of Commonality". In: Transit 11/1, 2017 URL: https://escholarship.org/uc/item/7sd2s0v6

–: Affektpoetiken des New Hollywood. Suspense, Paranoia und Melancholie. Berlin: De Gruyter 2017.

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Veröffentlicht

2019-05-15

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Medien