Katherine Mezur / Emily Wilcox: Corporeal Politics Dancing East Asia.

Michigan: University of Michigan Press 2020. ISBN: 978-0-472-07455-6. 372 Seiten, 80,00 $.

Autor/innen

  • Freda Fiala

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2021-1-03

Abstract

Der vorliegende Band bespricht Körper-Politiken von Tänzer*innen, Performer*innen und Choreograph*innen aus Ostasien, wobei er durch "radikale Kontextualisierung" methodologisch auf die ausgeprägten historischen und kulturellen Verflechtungen innerhalb der Region verweist. Indes alle darin versammelten Analysen inner- und transasiatische Logiken und temporale Strukturierungen nachvollziehen, gelingt diesem kollektiven Projekt ein relevanter Beitrag zur Vertiefung des Feldes ostasiatischer Tanzforschung, die als Teil der globalen Tanzforschung zu verstehen ist. Mit einem Ausgangspunkt in den Critical Area Studies und unter besonderer Berücksichtigung länderspezifischer, sprachlicher Ressourcen, versteht sich der von Wilcox und Mezur herausgegebene Band als Beitrag im Feld der Critical Dance Studies.

Die Publikation geht dabei von einer ostasiatischen Perspektive aus, die eine Re-Zentrierung eigener Narrative vornimmt und diese als Teil inter- und transnationaler Tanzgeschichtsschreibung positioniert. Der methodisch zu verstehende Titel verweist auf die zentrale Bedeutung des Körpers für den Tanz – der Körper kann dabei im Dienste politischer Agenden stehen, oder auch als Mittel und Methode ihrer Dekonstruktion agieren. Folgerichtig zielt die Publikation weder auf eine zusammenfassende Theoretisierung noch ein von Beispielen abgeleitetes Konzept ab. Die fünfteilige Gliederung orientiert sich dabei an thematischen Gruppierungen, die die Artikel unter den cluster-artigen Überschriften "Contested Genealogies", "Decolonizing Migration", "Militarization and Empire", "Socialist Aesthetics" und "Collective Technologies" versammeln. Die einzelnen Artikel bestehen als Koordinaten innerhalb dieses recht offenen Möglichkeiten-Feldes, als anspruchsvolle Analysen. Diese unternehmen aufwendige Reisen, wie beispielsweise der Beitrag von Suzy Kim, der die spätere künstlerische Karriere der 1911 geborenen Cheo Seung-hui in Nordkorea erzählt und dabei das beständige Potential einer Re-Aktualisierung von Folklore und politisch diktierten "Traditionen" durch das einzelne künstlerische Individuum betont. Fallbeispiele wie dieses zeigen deutlich Verkehrungen in 'orientalistischen' Vorstellungen an, die eine Hinwendung zu sogenannten 'traditionellen Formen' mit einem reduzierten Anspruch an die kreative Leistung der jeweiligen Künstler*innen gleichsetzen.

Wie ein analytischer Blick auf die komplexen Lebensgeschichten von Seung-hui, Park Yeong-in, Dai Ailian oder Fujikage Shizue zeigen kann, zeugen diese vom Potential individueller Mobilität als prägendes Momentum künstlerischer Entwicklung. Sie durchkreuzen damit kulturnationalistische Lagepläne und Vorstellungen homogener Gemeinschaften, wie sie sich zugleich universalistischen Logiken westlicher Prägung und dichotomen Unterscheidungen – in 'traditionelle' künstlerische Formen des Ausdrucks einerseits, und 'moderne' Formen andererseits – verwehren. Die Relevanz der Publikation liegt damit auch darin, Tänzer*innen, Choreograph*innen und Performer*innen, die in der englischsprachigen akademischen Literatur bislang keine oder kaum Erwähnung fanden, einer breiteren Leser*innenschaft vorzustellen. Auch ist die jeweils konkrete Praxis jener Tänzerinnen, die bewusste Anerkennung disziplinierten und routinierten Trainings sowie der übenden Wiederholung ein Anliegen des Buches, wie sie Mezur auch in ihrem Nachwort unterstreicht (vgl. S. 319). Wilcox zieht hier einen bewussten Vergleich mit militarisierter Disziplinierung von Körpern, wobei sie den potentiell liberalisierenden Aspekt ausgebildeten Könnens und ein politisches Vermittlungspotential gerade durch die Virtuosität betont, wenn sie schreibt: "I also argue that gaining these regimented skills opens and liberates the bodies of the performers, and allows them to access a greater variety and range of physical and expressive skills and practices." (S. 320) In diesem Punkt differiert die Lesart der Herausgeberin stark von jenen, tendenziell der Dekonstruktion und dem Spektakel-Skeptizismus zugeneigten Positionen, wie sie, zumindest in Europa, wesentlich die Entwicklungen im Tanz der letzten Jahrzehnte charakterisieren. Wiewohl hier ein unmittelbar politisches Verständnis der Analysen gefordert wird, antworten glücklicherweise weitaus nicht alle Beispiele im Buch auf eine solche Engführung sensorischer Disziplin mit realpolitischer Kontrolle.

Die fünfteilige Gliederung des Bandes beginnt mit dem Abschnitt zu "Contested Genealogies", welcher die chinesischen (sinophonen) Wurzeln kultureller Praktiken in der Region Ostasien erforscht. Im Fokus des Artikels von Beverly Bossler steht die stigmatisierte Motivik weiblicher Unterhaltungskünstler*innen im Kontext historischer Opern-Performances in China, wobei Bossler das transgressive Potential beschreibt, das mit diesen Figuren zugleich assoziiert wird und ihnen eine Existenz außerhalb unmittelbarer sozialer Hierarchien ermöglicht. Catherine Yeh, im Anschluss, eröffnet eine weitere neue Perspektive auf eine kultige Figur der Peking-Oper im 20. Jahrhundert, den Performer Mei Lanfang, wobei sie dessen Auseinandersetzungen mit modernem Tanz ("dancification", S. 44) als Vehikel zur Modernisierung chinesischer Theaterformen anerkennt. Nan Ma’s Kapitel "The Conflicted Monk" endet mit einer Studie zu Adaptionen der Kun-Oper Si fan (Longing for the Mundane).
Das zweite Kapitel ist Beiträgen zu "Decolonizing Migration" gewidmet und besieht, im Bereich des Artistischen, transnationale Zirkulationen in und aus Ostasien im Kontext von Imperialismus, westlicher Moderne, Weltkriegspolitik und jüngeren neoliberalen Entwicklungen. Kazuko Kuniyoshi verfolgt dazu die tänzerischen Einflüsse eines Deutschlandaufenthalts auf Murayama Tomoyoshi als Vorbild der Japanischen Avantgarde. Tomoyoshi ist 1922 nach Berlin gegangen, um dort von Mary Wigman zu lernen. Okju Son widmet sich, mit Park Yeong-in einem Protagonisten der koreanischen Tanzszene, welcher ebenso Studien in Deutschland absolvierte, um sich dort aber verstärkt in eigener Praxis um eine Vorstellung der koreanischen Kultur an ein deutsches Publikum durch hybride Formen und ästhetische Effekte (vgl. S. 108) einer gezielt eingesetzten 'Korean-ness' bemühte.
Das Thema "Militarization and Empire" im dritten Teil, diskutiert unter anderem, wie Tanz als Strategie zur Kommunikation der japanischen 'Großostasiatischen Wohlstandssphäre' eingesetzt wurde und welche nachhaltigen Auswirkungen solche hegemoniale Körperpolitiken auf künstlerische Arbeiten zeitigen. Performances namens 'Miyako Odori' sind eine populäre Tradition in Kyoto, die seit 1872 jährlich im Frühling für die Öffentlichkeit gezeigt wird. Mariko Okada’s Besprechung zeigt die propagandistische Absicht jener Performances im Japan der 1930er Jahre auf, die Kinder als Botschafter*innen einer vermeintlich idyllischen Beziehung zwischen China und Japan inszenierten. Auch ein Produkt pan-asiatischer Ideologie und bloße Vorstellung blieben die Pläne Itō Michio’s, auf den Philippinen ein Festival aufzuführen, über die uns Tara Rodman informiert. Das hingegen realisierte Potential einer – mehrere Generationen umfassenden – Übertragung physischer Disziplinierung, über unmittelbare Zeiträume von Kolonialisierung oder die militärische Herrschaft einer Ein-Parteien-Regierung hinausgehend, wird danach am Beispiel Taiwans von Ya-ping Chen diskutiert. Ihr Artikel zu Lee-Chen Lin’s Jiao Performance zeigt die Fähigkeit aller Lebewesen zur Verletzlichkeit als mögliche Rebellion. Der Raum der rituellen Begegnung wird so zum Befürworter einer leidenschaftlichen Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten (vgl. S. 198) und räsoniert mit alten schamanistischen Vorstellungen und einer Praxis heilender Begegnung in Taiwan.
Mit der bereits erwähnten Cheo Seung-hui erlaubt uns Suzy Kim, eine weitere beeindruckende Protagonistin des Theaters in Ostasien im 20. Jahrhundert kennenzulernen. Ihr Artikel eröffnet den Abschnitt des Sammelbandes, der mit "Socialist Aesthetics" betitelt ist und das Potential sozialistischer Stilistik, welche oftmals in ihrer künstlerischen Wertigkeit nicht ernst genug genommen wird, für die Entwicklungen im koreanischen bzw. chinesischen Tanz befragt. Dong Jiang’s und Ting-Ting Chang’s Artikel im selben Abschnitt befassen sich mit dem klassischen chinesischen Tanz und dessen janusköpfiger Relation zur Einordnung als repräsentativ und 'traditionell'. Chang geht dabei am Beispiel von Yang Liping’s Spirit of the Peacock vor, deren Verhandlungen von feministischer Position und ethnischer Minorität in ihren international erfolgreich gezeigten Performances zumeist mit dem Darstellungslabel "Chinesische Identität" assoziiert werden.
Der fünfte Teil "Collective Technologies" bespricht künstlerische Antworten auf die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen in Ostasien in den letzten Jahrzehnten. Dabei handelt es sich jedoch weniger um Subsumierungen unter dem Prädikat des Technologischen, als um die Potentiale kollektiver Ausdrucksformen, die jedwede Mittel für sich zu bedienen und zu (ver-)wenden wissen: In Katherine Mezur’s "Cracking Historie’s Codes in Crocodile Time" adressiert die Autorin die Arbeiten von Ashikawa Yoko und Furukawa Anzu, welche mehr als bloße produktive Ausnahmen innerhalb der gewöhnlich männlich dominierten Genealogien des Butoh-Tanzes darstellen. Soo Ryon Yoon widmet sich den kollektiven Kräften im Bereich von Evangelischem Aktivismus und Anti-LGBTQ Performances in Südkorea. Lediglich Yatin Lins abschließendes Kapitel wirft futuristisch-technologische Funken und beendet den, ansonsten weitgehend historisch ausgerichteten Sammelband mit einer Besprechung von Huang Yi’s Roboter-Performances in Taiwan. Lin stellt so nicht nur eine innovative künstlerische Position vor, sondern erinnert mit der kategorischen Benennung "digital performance" vor allem daran, welche Rolle Ostasien in der heutigen Zeit, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in technologischer Hinsicht spielt.

Der Aufruf, Ostasien "zu tanzen", ist buchübergreifend, daher als Aufbruch in die Komplexität der Beziehungen in der Region zu verstehen, stets im Bestreben, auch deren Widersprüche und Diversitäten anzuerkennen. In seinem cross-regionalen Anspruch, den das Buch großzügig als Dialog unterschiedlicher Charaktere, Zeiträume und Genres wiedergibt, bietet es den Lesenden so Parallelen und Erkenntnisse über glücklich unvermutete Begegnungen.

Autor/innen-Biografie

Freda Fiala

Doktorandin an der Universität Wien. Sie studierte Theater- Film- und Medienwissenschaft und Sinologie in Wien, Berlin, Hong Kong und Taipei. Sie beschäftigt sich forschend und schreibend: mit Theater- und Performancekulturen in Ostasien, interkulturellen Inszenierungsformen, sowie den darstellenden Künsten als Mittel und Methode internationaler Kulturbeziehungen.

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Veröffentlicht

2021-05-20

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Rubrik

Theater