Michail Bachtin: Sprechgattungen. Hg. v. Sylvia Sasse/Renate Lachmann/Rainer Grübel.

Berlin: Matthes & Seitz 2017. ISBN: 978-3-95757-272-1. 336 S., Preis: € 30,00.

Autor/innen

  • David Krych

Abstract

Mit Rabelais und seine Welt (1940/1965) und den Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans (1975) lieferte der russische Philosoph, Kunst- und Literaturtheoretiker Michail Bachtin (1895-1975) ausschlaggebende literaturtheoretische Konzepte zur Groteske und zur narrativen Konstruktion von Raum und Zeit, die sich nicht nur einer zunehmenden Rezeption im deutsch- und englischsprachigen Raum erfreuten, sondern ebenso im theater-, film- und kulturwissenschaftlichen Bereich steigenden Anklang fanden. Mit Sprechgattungen liegt nun die erste deutsche Komplettübersetzung aus der russischen Werkausgabe Problema rečevych žanrov (1996) vor, deren theoretischer, multi- und interdisziplinärer Gehalt nahtlos an seine vorherigen Arbeiten anzuschließen vermag.

Bereits in der Konzeption der vorliegenden Ausgabe liegt eine mehrfache Qualität und Besonderheit vor: Die Übersetzung von Rainer Grübel und Alfred Sproede beschränkt sich nämlich nicht nur auf das von Bachtin 1953, d. h. unmittelbar nach Stalins Tod, verfasste Manuskript (S. 7-59), sondern umfasst mit "Aus den Archiv-Niederschriften zur Arbeit 'Sprechgattungen'" (S. 61-150), "Die Sprache in der künstlerischen Literatur" (S. 151-164) sowie "Sprache und Rede" (S. 165-169) einen außergewöhnlichen Fundus an Textfragmenten, anskizzierten Gedanken und Argumentationsversuchen, die nun zum ersten Mal den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zur Verfügung gestellt werden. Den dritten Teil dieser Ausgabe bildet das "Nachwort" (S. 173-207) von Renate Lachmann und Sylvia Sasse, das sowohl eine zeithistorische als auch theoretische Verortung von Bachtins Arbeit leistet. Und zuletzt ist ein bemerkenswert detaillierter Anmerkungskatalog (S. 209-325) vorhanden, der viele Erklärungen liefert sowie Editionsspezifika thematisiert. Beispielsweise war Bachtins ungekürzte Erstfassung, geprägt vom zeitgenössischen Personenkult sowjetischer Textetikette, d. h. mit "unverzichtbaren Stalin-Zitaten angereichert" (S. 212) angereichert – wie im Kommentar ausführlich beschrieben wird –, diese wurden jedoch in der russischen Werkausgabe gänzlich weggelassen. Die sorgfältigen Anmerkungen ermöglichen noch weitere Vertiefungen in die Materie und erleichtern den Zugang zum Werk.

Was versteht nun Bachtin unter Sprechgattungen? Es handelt sich um "mündliche und schriftliche Äußerungen aus den verschiedensten Bereichen menschlicher Tätigkeit und Kommunikation" (S. 10). Darunter zählt Bachtin – neben den zu erwartenden künstlerischen Äußerungen – u. a. Chroniken, Verträge, Gesetzestexte oder auch Verwaltungsdokumente. Er unterscheidet dabei zwischen primären (einfachen) – z. B. Begrüßungen, Verabschiedungen etc. – und sekundären (komplexen) – hierzu gehören u. a. Romane, Dramen, wissenschaftliche Untersuchungen etc. – Gattungen. Dabei nehmen im Laufe ihres Entstehungsprozesses gemäß Bachtin die sekundären Gattungen "verschiedene primäre (einfache) Gattungen der unmittelbaren sprachlichen Kommunikation in sich auf und verarbeiten diese" (S. 9). Aus diesem Grund schreibt Bachtin über die relative Stabilität der Typen, da sie Transformationen und Wechselwirkungen unterworfen sind, "so kann man z. B. die Gattungsform der Begrüßung aus der offiziellen Sphäre in die Sphäre vertrauten Umgangs überführen, sie also mit parodistisch-ironischer Akzentverschiebung gebrauchen, und mit entsprechender Absicht kann man vorsätzlich Gattungen verschiedener Sphären vermischen" (S. 33). Wie schon in seiner praktisch philosophischen Ausarbeitung zur horizontalen Betrachtung von Kunst und Alltag in Zur Philosophie der Handlung (Fragment 1919; dt. Übersetzung 2011) wird auch hier Bachtins Situierung der Sprache im alltäglichen Leben erkennbar, denn "die Sprache geht in das Leben über konkrete Äußerungen ein (realisiert sich in ihnen), und über konkrete Äußerungen tritt umgekehrt das Leben in die Sprache ein" (S. 11).

Die Konsistenz und Kontinuität seiner Theorien zeigt sich darüber hinaus in seiner vehementen Ablehnung eines monologistischen Sprachverständnisses. Wie schon in anderen Schriften plädiert Bachtin für die Dialogizität. Wird Sprache als ein Monolog verstanden und untersucht, bedeutet dies für ihn eine Unterschätzung der kommunikativen Sprachfunktion, d. h., "die Sprache wird vom Standpunkt des Sprechers betrachtet, genauer: vom Standpunkt eines individuellen Sprechers, die unabdingbare Beziehung zum anderen und zur Kommunikationsgemeinschaft bleibt außer Acht" (S. 17). Das dialogische Prinzip ist dem literarischen bzw. schriftlichen Werk immanent, es ist "auf die Antwort eines anderen (der anderen) hin angelegt und zielt auf ein aktives Antwortverstehen, das verschiedene Formen annehmen kann" (S. 27). Basierend auf einer Theorie der steten Aktivität oder der Unmöglichkeit einer Passivität entwirft Bachtin hier einen so bemerkenswerten Gedanken, der auch – jedoch ohne Rekurrieren auf ihn – in späteren Performativitätsdiskursen artikuliert wird: "Das aktiv antwortende Verstehen des Gehörten (z. B. eines Befehls) kann sich unmittelbar in einer Handlung (in der Ausführung der verstandenen und befolgten Anweisung, eines Befehls) realisieren" (S. 19). Man ist sofort gewillt, nach Louis Althussers Aufsatz Ideologie und ideologische Staatsapparate (orig. 1970/dt. 1971) zu greifen und nach Verbindungen zwischen der Althusser'schen "Anrufung" und der Bachtin'schen "aktiven Antworthaltung" (S. 18) zu suchen.

Beachtlich ist in weiterer Folge Bachtins theoretischer Spagat, der sich zwischen seinen sehr stark in der Gegenwart verhafteten Betrachtungen – d. h. Analysen von Sprechakten – und einer Historisierung erstreckt. Denn parallel zu den an die Performativitätstheorien erinnernden Gedanken fordert Bachtin ein historisches Bewusstsein für die Sprache, das Gesprochene und Verfasste: "[J]eder Sprecher ist zugleich mehr oder weniger Antwortender, denn er ist ja nicht der erste sprechende Mensch, nicht der erste, der das ewige Schweigen des Alls durchbricht, er setzt nicht nur das System derjenigen Sprache voraus, die er benutzt, sondern auch irgendwelche vorgängigen – eigene und fremde – Äußerungen, zu denen seine jetzige Äußerung spezifische Beziehungen herstellt" (S. 19). Es ist dabei in gewisser Weise eine Kritik an der Theorie der adamitischen Sprache, die Kritik an einem Ursprung, denn der "Sprechende ist kein biblischer Adam, der es nur mit unberührten, noch namenlosen Gegenständen zu tun hat und ihnen erstmals Namen gibt" (S. 51). Einer sog. Unschuld der Sprache oder (besser gesagt) der Äußerung, die mit einem Ursprungsgedanken einhergehen würde, wird somit widersprochen, stattdessen die historischen und thematischen Verkettungen von Äußerungen in den Vordergrund gerückt.

Eine bemerkenswerte Argumentationslinie bildet in diesem Rahmen Bachtins Konzept der "Expressivität", d. i. "die subjektive, emotional wertende Beziehung des Sprechers zum propositionalen Inhalt seiner Äußerung" (S. 39). Damit schafft Bachtin – wie schon bei der Verbindung zwischen Aktualität und Historizität – eine Beziehung zwischen einer Objektivität des Wortes und einer Subjektivität der Äußerung: "Die Wörter sind niemandes Besitz und bewerten für sich genommen nichts, aber sie können allen möglichen Sprechern und deren verschiedensten, ja sogar einander widersprechenden Wertungen zu Diensten sein" (S. 40). In diesem Zusammenhang könnte der Eindruck entstehen, dass gegenwärtig Bachtin indirekt als ein Advokat revisionistischer Sprachpolitik fungieren könnte. Doch sowohl sein historisches Sprachbewusstsein als auch seine kontextbezogenen Fokussierungen widersprechen solch einer Fehldeutung, denn für ihn ist die "Expression einer Äußerung [...] stets mehr oder weniger Antwort und drückt eine Beziehung des Sprechers zu fremden Äußerungen aus – und nicht nur zum Gegenstand der eigenen" (S. 49).

Die an das Manuskript anschließenden "Archiv-Niederschriften" (S. 61-150) kreisen dabei um immer wieder auftauchende Fragen mit feinen Formulierungsnuancen. Die von Bachtin stets betonte Dialogizität und Offenheit der Äußerung kommt hier in mustergültiger Ausprägung zum Ausdruck. Beachtenswert ist dabei, dass der Leserin bzw. dem Leser hier die Möglichkeit geboten wird, nicht nur Einblick in Bachtins Gedankenkonstruktionen zu erhalten, sondern auch die Besonderheit seines Schreibstils in dieser 'Sprechgattung' zu erfahren. Die darauffolgende Skizze unter dem Titel "Die Sprache in der künstlerischen Literatur" (S. 151-164), die Mitte 1954 entstanden ist, kann mit dem Fokus auf Dialogizität und Polyphonie der Sprache als eine Replik auf Viktor Vinogradovs "programmatischen Aufsatz 'Die Sprache des Kunstwerks'" (S. 289) gelten. Der in dieser Ausgabe letzte Text Bachtins "Sprache und Rede" (S. 164-169), der zwischen 1957 und 1958 verfasst wurde, stellt einen Entwurf oder eine skizzenhafte Programmatik dar, die die Relation zwischen Sprache und Sprechen beleuchtet sowie die Dialogik in Beziehung zur Dialektik setzt. All diese Erstübersetzungen bieten außergewöhnliche Einblicke in die theoretischen Konzepte Bachtins und lesen sich nicht nur als Ergänzungen zu den Sprechgattungen, sie stellen vielmehr eigene Theorieentwürfe dar.

Die Breite und Tiefe an theoretischen Ansätzen, die mit dieser Ausgabe geliefert werden, ist enorm und lässt sich, wie z. B. mit Althusser angedeutet, problemlos mit anderweitigen Theorien in Verbindungen bringen. Gleichzeitig bieten Bachtins Gedanken zur 'Expressivität' sowie deren Verbindung zur Historizität der Äußerungen ausreichend Material, um die gegenwärtige (rechts-)populistische Sprachpolitik zu dekonstruieren. Für den sog. Diskurs-Betrieb ist Bachtins Fokus auf den "Aktcharakter des Sprechens" (S. 175) eine vielleicht einmalige Gelegenheit, um dem Performativitätsdiskurs eine neue – auch stärker historische – Ebene zu verleihen. Mit Sprechgattungen liegt inhaltlich ein herausragendes Buch vor – die Arbeit der beiden Übersetzer und Herausgeberinnen sowie des Herausgebers ist beispielhaft –, das gleichermaßen mit seiner materiellen und formalen Qualität (Druck, Satz, Bindung) überzeugt. Michail Bachtins Sprechgattungen sind uneingeschränkt empfehlenswert, uneingeschränkt auch für jegliche kultur- und geisteswissenschaftliche Richtung. Es kann hier nur der Wunsch ausgesprochen werden, dass seine Überlegungen, Gedankenskizzen und -entwürfe ihren Weg in weitere Theorien und Analysen finden – es wäre bedauerlich, wenn diese 'Steilvorlage' kulturwissenschaftlich ungenutzt bleiben würde.

Autor/innen-Biografie

David Krych

Abgeschlossene Diplomstudien der Philosophie sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft (2006-2013), Promotion über das Wiener Hetzamphitheater (2013-2017, Universität Wien), post-doc beim FWF-Forschungsprojekt zur Kommentierung von Friedrich Nietzsches "Die Fröhliche Wissenschaft" (2017-2019), seit 2019 Mitarbeiter beim Forschungsservice (Donau-Universität Krems).

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Veröffentlicht

2019-11-19

Ausgabe

Rubrik

Kulturwissenschaft