Josefine Wikström: Practices of Relations in Task-Dance and the Event-Score. A Critique of Performance.
New York/London: Routledge 2021. ISBN 9780367615475. 170 S., 2 Abb., Preis: £ 36,99.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-1-06Abstract
Josefine Wikströms Monographie Practices of Relations in Task-Dance and the Event-Score. A Critique of Performance formuliert eine historisch-philosophische Intervention zum Performance-Begriff im bzw. als Zeichen der Entgrenzung der Künste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Arbeit, die auf eine Dissertation am Centre for Research in Modern European Philosophy (Kingston University, London) zurückgeht, ist daher nicht in der Tanz-, der Theaterwissenschaft oder in den Performance Studies angesiedelt, sondern der Philosophie der Kunst gewidmet. Sie verhandelt die Frage von Performance als Kunst genauso wie jene von Kunst als Performance, das heißt, wie ein Begriff von Performance beschaffen sein muss, um Kunst noch in ihrer ontologischen Spezifik erfassen zu können; schließlich lässt sich diese Spezifik nach der Auflösung der modernen Trennung der Künste nicht mehr aus deren Medienspezifik ableiten. Mit Blick auf die Performance-Genealogien von Fluxus-Scores und task-basierten Tanzpraktiken von Judson Church entwickelt Wikström eine Kritik nach weitgehend Kant'schem Vorbild. Einer Kritik der Performance-Begriffe aus Performance Studies, Cultural Theory und Post-Operaismo bzw. post-Marxistischen Strömungen, die Wikström zufolge allesamt über kein hinreichendes Kriterium für den Kunstcharakter von Performance verfügen, stellt sie einen kritischen Performance-Begriff gegenüber, der die ontologische Differenz der Kunst besonders in der ästhetischen Erfahrung der Grenzen der Erkenntnis durch das Kant'sche transzendentale Subjekt begründet.
Wikström entfaltet ihr Performance-Verständnis in einer Einleitung und in fünf Kapiteln zu den Stichworten "practice", "experience", "object", "abstraction" und "structure". In der Einleitung umreißt Wikström zunächst drei Ausprägungen des von ihr als defizitär bestimmten "cultural concept of performance": Den aus den Performance Studies stammenden und besonders von Schechner geprägten Begriff von Performance, der sich vorwiegend aus Anthropologie und Soziologie speist; den in der Cultural Theory verbreiteten Begriff von Performance bzw. Performativität, der auf Austin, Derrida und Butler zurückgeht und bei Butler zum allgemeinen Begriff für historische Subjektivierungsprozesse wird; und den post-Operaistischen bzw. post-Marxistischen Begriff von Performance, der den auch als Postfordismus bekannten Wandel von Arbeit und Produktion nach dem zweiten Weltkrieg betrifft. Wikströms Vorwurf: Die drei Diskurse eint, dass sie künstlerische Performances höchstens graduell von nicht-künstlerischen unterscheiden: "Art, as a consequence, is considered another type of object, rather than an ontologically different one." (S. 9, Herv. i. O.)
Ihr "critical concept of performance" entwirft Wikström im Gegenzug anhand einer historisch-philosophischen Methodik von Abstraktem und Konkretem, die sie aus Marx' epistemologischen Überlegungen der Grundrisse ableitet. So wie nach Marx die abstrakte Kategorie "Geld" erst durch die konkrete Kategorie der "bürgerlichen Gesellschaft" ihre Relevanz erhält, so entfaltet Performance erst mit dem Aufkommen und der Institutionalisierung einer nicht mehr medienspezifischen Kunst in den späten 1950ern und 60ern ihre volle Bedeutung – wobei sich durch Performance wiederum diese nicht mehr medienspezifische Kunst vermittelt. Im Anschluss an ihren PhD-Betreuer Peter Osborne und im kritischen Verweis auf Thierry de Duve spricht Wikström auch von "generic art" bzw. einem "generic concept of art", um Kunst nach der Entgrenzung der Künste zu umreißen; sie prägt des Weiteren die Rede von "performance in general" bzw. einem "generic concept of performance", um Performance als Motor dieser generischen Kunst zu betonen.
Im Kapitel zu "practice" etabliert sie sodann eine Unterscheidung zwische n zwei – teils überlappenden, aber doch distinkten – Performance-Genealogien, von denen die erste unter dem Begriff Performance Art die Action Paintings von Jackson Pollock, sowie Allan Kaprows Happenings oder die Wiener Aktionisten summiert. Mit dem Fokus auf den Körper, auf die Identität von Künstler*in und Aktion, auf Unmittelbarkeit und Unwiederholbarkeit vollzieht Performance Art allerdings nicht das historische Ende der medienspezifischen Kunst, argumentiert Wikström, sondern bringt vielmehr Performance als Medium mit seiner eigenen Essenz hervor. Im Verweis auf eine der Facetten von Aristoteles Praxis-Begriff kritisiert sie Performance Art als "metaphysics of practice" (S. 41).
Kontrastierend betont Wikström die Genealogie einer "performance in general", die in der Tradition von John Cage oder Anna Halprin steht, und die sich in Performances wie Yvonne Rainers "Parts of Some Sextets", Yoko Onos "Instruction Paintings" oder George Brechts Event-Scores spiegelt. Dass diese generische Performance nicht die Originalität des Ereignisses und des Körpers feiert, sondern mit ihren Tasks und Scores auf die Wiederholbarkeit und die Verbindung unterschiedlicher Elemente (Körper, Objekte, Performer*innen, Zuschauer*innen) setzt, interpretiert Wikström anhand des Praxis-Begriffs von Marx' Feuerbach-Thesen. Mit Praxis schlägt der frühe Marx bekanntlich einen relationalen Begriff des Subjekts vor, demzufolge das Subjekt keine Essenz besitzt, sondern erst in der Praxis der sozialen Relationen von Subjekten und Objekten hervorgebracht wird. Dementsprechend argumentiert Wikström, dass die task- und score-basierten Arbeiten von Yvonne Rainer, Yoko Ono, George Brecht und anderen "through the indifference to the materials used" und "through the social relations of which they are constituted" vermittelt werden ; daraus ergibt sich für sie "another category of performance […]—a generic category of performance—that is more synonymous with art in general." (S. 55, Herv. i. O.) Tasks und Scores fungieren gewissermaßen als soziale Sprache und essenzlose, materialunabhängige Medialität, die das Verbindende nach der Entgrenzung der Künste bildet. Sie vollziehen eine "practice-isaton of art" (S. 32, Herv. i. O.).
Damit verfügt Wikström zwar über einen Begriff von Performance als generischer Kunst, aber die Frage nach der ontologischen Differenz dieser Kunst bleibt offen, weshalb sie im darauffolgenden Kapitel zu "experience" Kants Begriff ästhetischer Erfahrung ansetzt. "Task-dance" und "event-score" stellen vielfach sprachliche Anweisungen und Aufgaben, die gerade dadurch produktiv werden, dass sie Unmögliches zu tun vorschlagen. So führen sie zu einer Grenzerfahrung: "They point at the limit of experience through their material forms (the tension between written/spoken instructions and the possible performance of these), what Kant in his First Critique would call an experience. But they do so through what Kant, in his Third Critique, would call an aesthetic experience: an experience which stands out from the everyday experience and that is disinterested in whether the experience is true or false and instead only causes pleasure or displeasure in the subject." (S. 82, Herv. i. O.) Das Kritische von Wikströms kritischem Performance-Begriff verweist demnach mit Kant auf die transzendentale Erfahrung einer Grenze der Erkenntnis, die im ästhetischen Modus der Interesselosigkeit reflektiert wird.
Die drei restlichen Kapitel zu "object", "abstraction" und "structure" runden Wikströms kritischen Performance-Begriff ab. Yvonne Rainers und George Brechts Umgang mit Objekten und mit Prozessen der Objektivierung bzw. Vergegenständlichung versteht sie, knapp umrissen, im Rekurs auf Kant und Husserl als ästhetische Sichtbarmachung und Reflexion auf den Prozess, in dem das transzendentale Subjekt epistemologische Objekte bzw. Gegenstände formt. Sodann ruft sie unter anderem Smith und Marx auf, um task-basierte Performances außerdem als kritische Inszenierungen abstrakter Arbeit im Kapitalismus zu betrachten. Wo abstrakte Arbeit vor allem De-Spezialisierung und eine quantifizierte Zeiterfahrung bedeutet, setzen "task-dances" wie jene von Yvonne Rainer auf einen Tanz, der zwar von den spezialisierten Techniken des modernen Tanzes abstrahiert, aber durch die Bearbeitung unmöglicher Tasks zugleich neue Skills herausfordert und eine unendliche Zeit andeutet. Zuletzt argumentiert Wikström mit Blick auf Trisha Browns Accumulation-Serie und (post-)strukturalistische Theorie, dass task-dances "a conception of the artwork as a performative structure-object" (S. 142) hervorbringen, sodass sich die Struktur als transzendentale Bedingung der Performance und des Subjekts zeigt, was nicht der völligen Verabschiedung, sondern einer Komplizierung des transzendentalen Subjekts entspricht, wie sie mit Balibar betont.
Auch wenn Wikströms Arbeit in sich weitgehend schlüssig ist, wirft sie Einwände und Fragen auf. Zum einen inkludiert ihre Kritik angeblich unzureichender kultureller Performance-Begriffe unter anderem die Position von Bojana Kunst, die jedoch sehr wohl Performance als Kunst stark macht, indem sie die Kunst der Verschwendung und Potentialität von ökonomischen Performances abgrenzt (Kunst 2015). Auch ist zu fragen, ob Wikström nicht im Kapitel zu "structure" mit dem Performativen doch wieder einen Teilbereich des kulturellen Performance-Begriffs rehabilitiert, den sie eingangs verwirft. Darüber hinaus fällt auf, was Wikström nicht erwähnt: etwa die vielen Performance-Begriffe aus Philosophie und Theorie – ob von Fred Moten (2017), Catherine Malabou (2017), oder dem Performance-Philosophy-Netzwerk (2015-fortlaufend, 2020) –, die durchaus mehr als einen bloß kulturellen Begriff von Performance aufweisen. Im Kapitel zu Tanz und Struktur lässt Wikström zudem den zentralen Begriff der Choreographie unerwähnt, dessen Theoretisierung durch Gerald Siegmund (2010, 2006) Wikströms diesbezügliches Argument großteils vorwegnimmt. Zuletzt ist nach dem heutigen Stellenwert einer stark Kant'schen Ästhetik von Performance zu fragen, nachdem etwa Denise Ferreira da Silva (2018, 2007) die onto-epistemologische und politisch-kolonialistische Problematik thematisiert hat, dass Kants Begriffe der Kritik und des transzendentalen Subjekts an der modernen Konstruktion von race und der Nichtanerkennung nicht-weißer Körper teilhaben.
Quellen
Cull Ó Maoilearca, Laura/Lagaay, Alice (Hg): The Routledge Companion to Performance Philosophy. London/New York: Routledge 2020.
Ferreira da Silva, Denise: "In the Raw." E-flux journal 93, September 2018, n.p.
———: Toward a Global Idea of Race. London/Minneapolis, MN: Minnesota UP 2007.
Kunst, Bojana: Artist at Work. Proximity of Art and Capitalism. Winchester/Washington: Zero Books 2015.
Malabou, Catherine: "Power and Performance at Play. A Question of Life and Death." In: Inter Views in Performance Philosophy. Hg. v. Anna Street/Julien Alliot/Magnolia Pauker, London: Palgrave Macmillan 2017, S. 127-137.
Moten, Fred: "Some propositions on blackness, phenomenology, and (non)performance." In: Points of convergence. Alternative views on performance. Hg. v. Marta Dziewańska/André Lepecki, Warsaw: Museum of Modern Art 2017, S. 101-107.
Performance Philosophy: Performance Philosophy Journal. Seit 2015.
Siegmund, Gerald: "Five Theses on the Function of Choreography." Scores 0, 2010, S. 10-11.
———: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. Bielefeld: Transcript 2006.
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