Robert Dörre: Mediale Entwürfe des Selbst. Audiovisuelle Selbstdokumentation als Phänomen und Praktik sozialer Medien.

Marburg: Büchner 2022, ISBN: 978-3-96317-268-7. 492 Seiten, Preis: € 36,00.

Autor/innen

  • Leonie Kapfer

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-13

Abstract

Kaum ein anderes Phänomen scheint so unauflöslich mit dem neoliberalen Imperativ des "Entwerfe dich Selbst" verbunden zu sein wie die Sozialen Medien. Obwohl schon lange vor der Existenz dieser Online-Plattformen internetbasierte Praktiken audiovisueller Selbstdarstellung an Popularität gewannen (vgl. Jones 2006, Helsing van et al. 2016), kommt dem Phänomen durch die rezente, alltägliche Omnipräsenz der Sozialen Medien vermehrt Relevanz zu. Auch Robert Dörres Studie Mediale Entwürfe des Selbst. Audiovisuelle Selbstdokumentation als Phänomen und Praktik sozialer Medien wendet sich der Ubiquität des Selbstentwurfs in und mit Sozialen Medien zu. In seiner Monografie analysiert Dörre Formen der Selbstdokumentation, die von sogenannten Influencer*innen auf Internet-Plattformen wie YouTube, Instagram, TikTok oder Snapchat inszeniert werden. Als auto-dokumentarisch versteht Dörre dabei Selbstdarstellungen, in denen "Wahrheit und Wirklichkeit als Referenzgröße dienen [und] das Selbst vorgibt ein Inneres zu entbergen" (S. 37). Sie erwecken so den Eindruck "auto-dokumentarische Artefakte zu sein" (ebd.). Einen Fokus legt Dörres auf das Medium Video, daher werden bildliche Formen der Selbstdokumentation, wie sie beispielsweise die Plattform Instagram dominieren oder in Memes ihren Ausdruck finden, nicht im Speziellen behandelt. Diese Engführung erscheint jedoch vor allem aufgrund der Materialfülle durchaus sinnvoll und wird produktiv umgesetzt. Zumal durch den rezeptionsästhetischen Forschungsansatz der Arbeit auch Kommentare und Bilder in die Analyse miteinbezogen werden.

Dörre beleuchtet vier verschiedene Facetten medialer Selbstentwürfe. In einem ersten Kapitel fokussiert der Autor auf die Problematik von Authentizität in der Selbstdokumentation und fragt, "ob die Behauptung authentischer Darstellung stehts unhinterfragt übernommen [wird und, ob] es unterschiedliche Grade von Authentizität [gibt]?" (S. 63-64). In der Analyse zahlreicher Videos von Influencer*innen aus dem deutschsprachigen Raum geht Dörre sehr ausführlich auf diese Fragestellungen ein und zeigt, dass in den Selbstentwürfen durchaus eine ambivalente Haltung zum Authentischen eingenommen wird. Denn neben dem Festhalten an Vorstellungen über eine ontologisch fundierte Authentizität, erkennt Dörre auch eine distanzierte Haltung gegenüber Authentifizierungsanrufungen. Dörres zeigt so, dass das auto-dokumentarische in den Sozialen Medien zwar von "dokumentarischen Traditionen des Kinos, des Fernsehens (besonders des Reality TV), der Kunst, des Privaten" informiert ist, diese Kriterien jedoch "gleichwohl interpretiert und verflüssigt" (S. 192).

Das zweite Kapitel wendet sich anschließend der Sozialität der Sozialen Medien zu und geht der Frage nach, welche Formen der Vergemeinschaftung aus Selbstdokumentationen hervorgehen. Dörre hält fest, dass "soziale Medien nicht sozialer als andere Medien" sind, "sie bringen aber das Soziale an Medien überhaupt zum Schillern" (S. 296). Damit positioniert sich der Autor sehr überzeugend gegen Deutungsversuche, die das Phänomen der audiovisuellen Selbstdokumentation entweder rein kulturpessimistisch oder -optimistisch deuten. Gemeinschaft entsteht, so Dörre, vor allem durch geteilte mediale Praktiken.

Ausgehend von diesen Überlegungen zum sozialen Potential dieser Selbstentwürfe, geht Dörre in einem dritten Kapitel auf die Marktförmigkeit dieser Selbstdokumentationen und Vergemeinschaftungsformen ein. Er zeigt hier, inwiefern Influencer*innen in ökonomische Logiken verstrickt sind, betont jedoch gleichzeitig, dass diese Einbettung in den Markt kein Spezifikum der Selbstdokumentation in sozialen Medien ist, sondern auch auf "hochkulturelle Güter" zutrifft (S. 357). Indem in diesem Punkt zudem der Topos des "vertrauensseligen und besinnungslos konsumenthusiastischen Mädchens" kritisch reflektiert wird, erweitert Dörre seine Überlegungen auch um gendersensible Fragestellungen und zeigt jene misogynen Logiken auf, die in der Kritik an und der Rezeption von Influencer*innen zum Tragen kommen (ebd.).

In einem letzten Analysekapitel wendet sich Dörre schließlich der Serialität der Selbstdokumentation zu. Hier zeigt der Autor, dass die Selbstentwürfe weniger auf "schlichter Wiederholung" als vielmehr auf "Verfahren variabler Rekursion" beruhen (S. 390). Die Selbstdokumentationen bekannter Influencer*innen ähneln sich somit, ohne sich einfach zu kopieren. Nicht Kopie, sondern "Praktiken des Wiederaufgreifens und Zurückweisens" durchziehen die einzelnen von Dörre analysierten Videobeiträge (ebd.).

Auf diese sehr überzeugend ausgearbeiteten Analysekapitel folgt eine mediengeschichtliche Betrachtung des Phänomens der audiovisuellen Selbstdokumentation, in der sowohl auto-dokumentarische Amateurpraktiken als auch Kunstperformances analysiert werden. Hier wird verdeutlicht, dass jene Praktiken, die Influencer*innen aufgreifen immer auch Remediatisierungen früherer Verfahren sind. Dieses als "Aus- und Rückblick" angeführte Kapitel ergänzt die vorherigen Analysen,  dient jedoch nicht zu einer medienhistorischen Aufarbeitung des Phänomens.  Dörres Interesse bleibt eindeutig auf gegenwärtige Medienpraktiken gerichtet.  

In seiner umfangreichen Studie audiovisueller Selbstdokumentationen liefert Dörre so einen wichtigen Beitrag für die theoretische Eingrenzung der sich immer im Wandel begriffenen Sozialen Medien. Indem Dörre einen für die Sozialen Medien spezifischen Umgang mit Authentizität und Serialität erarbeitet und die Formen der Vergemeinschaftung genauer betrachtet, die in und mit Sozialen Medien sattfinden, eröffnet das Buch neue Einblicke in dieses Forschungsfeld. Erfrischend ist zudem, dass es der Studie gelingt, wenig vorurteilsbehaftet an das Forschungsfeld der Sozialen Medien heranzutreten. Dörre schafft es so, jene Ambivalenzen theoretisch einzufangen, die den medialen Selbstdokumentationen inhärent sind.

Autor/innen-Biografie

Leonie Kapfer

Leonie Kapfer ist Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zuvor war sie vier Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Frauen- und Geschlechterforschung der JKU in Linz tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Feministische Theorie, Mediale Selbsttechniken und Gender und Medien.

Cover: Mediale Entwürfe des Selbst

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Medien