Mia Berg/Christian Kuchler (Hg.): @ichbinsophiescholl. Darstellung und Diskussion von Geschichte in Social Media.

Göttingen: Wallstein 2023. ISBN: 978-3-8353-5485-2. 246 Seiten, 28,80 €.

Autor/innen

  • Leonie Kapfer

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2024-1-08

Abstract

"Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl holte das Instagram-Projekt von SWR und BR die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt. Im Kanal @ichbinsophiescholl ließ die 21-jährige Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, ihre User*innen hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben".1

 

Mit diesem Satz beschreibt die Redaktion des SWR ihr kontrovers diskutiertes Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl. Zwei Jahre nach dem Start des public history-Projekts veröffentlichten Mia Berg und Christian Kuchler einen Sammelband zum Instagram-Kanal, der interdisziplinäre Perspektiven liefert. Während darin – wahrscheinlich auch wegen der Verortung der Herausgeber*innen in der Geschichtswissenschaft – eine historische Perspektive überwiegt, kommen auch Stimmen aus der Medienwissenschaft, der Psychologie und Pädagogik zu Wort. Der Sammelband überzeugt vor allem, da er das Instagram-Projekt des SWR im Kontext der deutschen Erinnerungskultur reflektiert und eine kritische Positionierung zu diesem Erinnern entwickelt. Auch bietet der Sammelband einen Überblick über Fragen der Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur in und mit Sozialen Medien und macht auf Möglichkeiten aber auch Fallstricke aufmerksam.

In einem ersten Unterpunkt – "Historische Einordnung und Kontexte" – wird eine fundierte geschichtliche Verortung der Figur Sophie Scholl vorgenommen. Hans Günther Hockerts und Nils Steffen gehen hier in ihren jeweiligen Beiträgen mit dem "Gebot der kritischen Quellenforschung" (S. 22) vor. Dabei arbeitet vor allem Hockerts in seinem Beitrag "History and Memory. Sophie Scholl in der biografischen Forschung und im Boom der Erinnerung" jene Aspekte auf, die in den Instagram-Stories ausgeblendet wurden: Scholls starke religiöse Prägung sowie ihre langjährige Mitgliedschaft im Bund deutscher Mädchen, in dem sie von 1937 bis 1938 zur Oberscharführerin aufstieg und deren Treffen sie bis 1941 besuchte (S. 23). Erst ab 1941/42 ging Sophie Scholl dann als Studentin in die Frontalopposition über und schloss sich spätestens im November 1942 dem aktiven Widerstand ihres Bruders Hans Scholl und dessen Kommilitonen Alexander Schmorell an. Am 18. Februar 1943 wurden Sophie und Hans Scholl bei der Verteilung eines sechsten Flugblattes ihrer Widerstandsgruppe Weiße Rose im Hauptgebäude der Universität München vom – später verurteilten und in der Nachkriegs-BDR begnadigten – Hörsaaldiener Jakob Schmid beobachtet und denunziert. Vier Tage später, am 22. Februar, wurden die Geschwister Scholl sowie Christoph Probst nach tagelangen Verhören zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet. Die von der Gestapo angefertigten Vernehmungsprotokolle dokumentieren eine bis zuletzt "unbeugsame" und "couragierte" Sophie Scholl (S. 32). So viel zur historischen Einordnung. Diese Einordnung – hier stimmen nahezu alle Autor*innen des Sammelbands überein – ist für die wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Instagram-Kanal umso bedeutender, da sich der SWR entschied, keine Quellen auf dem Kanal offenzulegen und auch nicht markierte, was historisch belegbar und was reine Fiktion ist.

Besonders scharf kritisiert wird dieser Umstand in den Beiträgen von Tanja Thomas und Martina Thiele sowie von Nora Hespers und Charlotte Jahnz. Sie stellen nicht nur die westdeutsche Fixierung auf die Figur der Sophie Scholl in Frage, sondern gehen auch auf Fragen der memory cultures und studies im Allgemeinen ein. Fragen, die sie besonders interessieren, sind: Wer wird erinnert und wer nicht? In diesem Sinn greifen Thomas und Thiele in ihrem Aufsatz "@ichbinsohiescholl. Erinnern und Vergessen von Widerstand gegen den Nationalsozialismus in medialen Öffentlichkeiten" die Frage auf, ob die Forcierung auf die Figur der Sophie Scholl und das damit einhergehende Verdrängen ihres Bruders Hans Scholl mit dessen Inhaftierung wegen "bündnerischer Betätigung" (homosexuellen Handlungen) im Jahr 1937 zusammenhing. Erschwerte seine vermeintliche Homosexualität die Erinnerung an ihn in der BRD? Immerhin blieb Homosexualität auch nach dem NS-Regime strafbar und Scholl passte somit auch nicht in das Männlichkeitsbild der BRD, das in Bezug auf Homosexualität Unrechtsverhältnisse fortschrieb (S.117). Die westdeutsche Erinnerungskultur ist somit voller Widersprüche, auf die neben Thomas und Thiele auch Jaspers und Jahnz in ihrem Beitrag "Häppchenweise Sophie Scholl. Kritische Anmerkungen zum Instagram-Kanal @ichbinsohiescholl" verweisen. In Anlehnung an die Arbeit von Max Czollek kritisieren sie, dass Scholl zur Figur der "Wiedergutwerdung der Deutschen" wurde (S. 158). Statt sich mit der familiären Nazi-Vergangenheit der eigenen Groß- oder Urgroßeltern zu beschäftigen, bietet der SWR die Identifikation mit einer heldenhaften Sophie Scholl. Auch die Fixierung auf den bürgerlichen Widerstand und seine Figuren, allen voran Sophie Scholl und Claus von Stauffenberg, wird in dem Beitrag kritisch hervorgehoben. Der zahlenmäßig sehr viel stärker vertretene Widerstand von Kommunist*innen, Jüd*innen und Sozialist*innen wird so unsichtbar. Ein Umstand, der gerade aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit der Figuren Scholl und Stauffenberg erstaunlich ist. Hespers und Jahnz fassen so nochmal die Erkenntnisse der langjährigen kritischen Beforschung deutscher Erinnerungskultur zusammen, die, wie sie festhalten, "in den deutschen Medienredaktionen [auch] 30 Jahre später nicht angekommen" ist (S. 157).

Aus Sicht der Medienwissenschaft ist zudem die Frage interessant, wie Geschichte auf einer Sozialen Plattform inszeniert wird: Wie wirkt sich die Fokussierung auf Bildmaterial, beziehungsweise das nur fragmentarisch mögliche Geschichtenerzählen in den Stories auf Geschichtsvermittlung aus? Wie wurde damit von Seiten der Produktion umgegangen? Wie wurde der Content rezipiert?

Hier bietet der Sammelband nur vereinzelt Hinweise. So beschreibt Christian Kuchler in seinem Beitrag, dass das Projekt zwar breit rezipiert wurde, jedoch die Zielgruppe verfehlte: "alle sprechen von @ichbinsohiescholl – nur Schülerinnen und Schüler nicht" (S. 165). Hervorgehoben wird zudem die Selfie-Perspektive der Posts und Stories, die eine "radikale Subjektivität" ausstellt, wie Jaspers und Jahnz schreiben (S. 149). Wie Tobias Ebbrecht-Hartmann in seinem Beitrag "Eva, Anne und Sophie auf Instagram und Youtube" festhält, versucht das Projekt mit den zahlreichen Selfies – verstanden als fotografische Selbstdokumentationen – sich in das Genre der Dokumentation einzuschreiben und Authentizität zu evozieren. Die Selfie-Perspektive ahmt Videotagebücher nach. Diese Nachahmung spiegelt auch den Selbstanspruch des SWR wider, immerhin soll Scholls Leben "ungefiltert" wiedergegen werden. Ein Versuch, der allerdings, wie Jasper und Jahnz festhalten, in der gefilterten Bildästhetik von Instagram von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die Stories und Bilder der fiktionalisierten Sophie Scholl sind stark bearbeitet und mit Filtern überlegt, die oft den Eindruck erwecken, es würde sich um altes Fotomaterial handeln (S. 154).

Gelungen ist dem SWR allerdings der Versuch, wie Hans Ulreich Wagner, Jan Rau, Daria Cepurku, Clara Liebnagel und Daniel Wehrend in ihrem Beitrag "Kommunikative Praktiken der Aneignung und Vergangenheit" beschreiben, die Follower*innen in eine parasoziale Interaktion mit Sophie Scholl zu verwickeln. Viele Kommentare beginnen mit "Liebe Sophie,…" (S. 132). Zudem identifizierten sich auch viele Follower*innen tatsächlich mit der Figur und vergleichen ihr Leben mit dem der Widerstandkämpferin. Dabei kam es allerdings auch zu dem SWR wohl eher unerwünschten Vergleichen, wie dieser Kommentar zeigt: "Sophie, kannst du dir vorstellen, dass es in der Zukunft nicht mehr möglich sein wird, als normaler Mensch angesehen zu werden, sofern man sich nicht mit einem ungetesteten Impfstoff, der gegen eine Krankheit erfunden wurde, an der nicht mal 1 von 100 Infizierten stirbt? Sind das nicht die staatlichen Maßnahmen, gegen die du kämpfst? Gegen Ausgrenzung und Hass auf Basis naturwissenschaftlicher Ideologie?" (S. 137).

Das Projekt bestätigt somit wieder einmal mehr wie schwer es ist, die Wirkung und Rezeptionsweisen medialer Formate zu steuern. Ein Eigensinn, der sich auch nicht von einer Rundfunkanstalt einfangen lässt. Abschließend lässt sich festhalten, dass der Sammelband einen guten und vielschichtigen Überblick über das Projekt liefert, der zwar vor allem für Historiker*innen relevant ist, aber auch für Medienwissenschaftler*innen wichtige Impulse und Einblicke liefert: vor allem da die wissenschaftliche Debatte um die deutsche Erinnerungskultur außerhalb geschichtswissenschaftlicher Kreise immer noch zu wenig Aufmerksamkeit erhält.

Anmerkungen:

1 https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagram-serie-102.html (letzter Zugriff: 28.03.2024).

Autor/innen-Biografie

Leonie Kapfer

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Kulturgeschichte audiovisueller Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zuvor war sie vier Jahre am Institut für Frauen- und Geschlechterforschung der JKU in Linz tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Feministische Theorie, Gender Media Studies und (audio-)visuelle Formen des Selbstbezugs.

Publikationen

Kapfer, Leonie: "'Betroffen-Werden' in Beyoncé Knowles audiovisuellen Studioalbum Lemonade". In: Betroffenheit. Praktiken der (Selbst-) Politisierung in Kunst und audiovisueller Kultur. Hg. v. Barbara Paul/Andrea Seier, Wien: Böhlau 2024, S. 59-72.

Kapfer, Leonie: "'Contact Writing'. Theoriegeleitet und situiert Forschen". In: TFMJ – Journal for Theater, Film and Media Studies 2023/3-4, S. 105-114.

Kapfer, Leonie/Weichselbaumer, Doris/Fitz-Klausner, Sebastian: "Scheitern im Paradies. Die filmische Repräsentationsfigur der Sextouristin in Paradies: Liebe und Vers le sud". In: Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 15/2, 2023, S. 86-100. https://doi.org/10.3224/gender.v15i2.07.

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Veröffentlicht

2024-05-15

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Medien