Lorenz Engell/Christiane Voss: Die Relevanz der Irrelevanz. Aufsätze zur Medienphilosophie.

Paderborn: Fink 2021, ISBN: 3-8467-6196-6. 464 Seiten, Preis: € 69,00.

Autor/innen

  • David Jagella

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-14

Abstract

Lorenz Engell und Christiane Voss legen mit Die Relevanz der Irrelevanz eine umfassende Aufsatzsammlung vor, die vor allem bereits veröffentlichte Texte der Autor*innen enthält. Diese sind nach bestimmten Begriffen, beziehungsweise thematischen Feldern geordnet, wobei Aufsätze, die einem bestimmten  Gebiet angehören, in Beziehung zueinander gebracht werden (vgl. S. XVII). Das Buch ist in sieben Themenkomplexe gegliedert. Diese geben die Struktur des Bandes vor und folgen einem kurzen Einführungskapitel.

Die in einem Zeitraum von 2010 bis 2021 geschriebenen Aufsätze sind das Resultat der Zusammenarbeit an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar und dem Internationalen Kolleg für Kulturtechnik und Medienphilosophie. Daher sind auch einige Motive des an diesem Kolleg bedeutsamen Ansatzes der operativen Ontologie relevant. Die operative Ontologie lässt sich hier grundlegend verstehen als "eine medienmaterialistische Revision und Kritik traditioneller dualistischer Ontologien und Epistemologien" (S. IX). Dieser theoretische Zugang ermöglicht es, die Beteiligung von "Medien- und Kulturtechniken an Daseins- und Denkprozessen" (S. X) beschreibbar zu machen. Der Band ist, durch die Nähe zu den oben genannten Institutionen, auch einer spezifischen Richtung der Medienphilosophie zuzurechnen. Mit welchem Selbstverständnis und welchen leitenden Gedanken die hier vollzogene Medienphilosophie arbeitet, legen Engell und Voss in ihrer gemeinsam verfassten Einführung zur Aufsatzsammlung sowie dem ersten thematischen Kapitel "Grundlagen" dar. In Bezug auf konkrete Untersuchungsgegenstände versteht sich die hier in Anschlag gebrachte Medienphilosophie als eine "Philosophie des Minderen" (S. XIV), denn sie nimmt sich alltäglichen Phänomenen und dem "vermeintlich Abwegigen" (S. XIV) an. Diese Verortung erscheint als Abgrenzung zur Gegenstandswahl klassischer philosophischer Betrachtungen. Methodisch gehen die Aufsätze des Bandes sehr offen vor. Es geht folglich nicht darum, mediale Verfahren in den Rahmen einer Theorie einzupassen, beziehungsweise sie als reine Veranschaulichung theoretischer Ausführungen zu denken (vgl. S. X), vielmehr wird den Gegenständen ein eigenes "theoretisch-argumentatives Potential" (S. X) zugesprochen.  Das erste größere, auf die Einführung folgende Kapitel bietet einen durchdachten und umfangreichen Einblick in die Grundzüge der Medienphilosophie, der sich auch zum Einstieg  eignet. Nach Kapiteln zur "Anthropologie" (vgl. S. 63-118), der "Ontologie/Ontographie" (vgl. S. 119-166), zu "Affekt/Ästhetik" (vgl. 167-208) sowie "Humor/Komödie" (vgl. S. 209-270) folgen zwei Kapitel, die Aufsätze zu bestimmten Gegenstandsbeispielen versammeln. Das "Diorama" (vgl. S. 271-348) – beziehungsweise im Besonderen das Habitat Diorama – wird als Gegenstand des medienphilosophischen Nachdenkens ebenso produktiv gemacht, wie der "Film" (vgl. S. 349-436).       

Ein für den Band zentrales Konzept, das auch ein übergeordnetes Interesse der Autor*innen an medienanthropologischen Fragen widerspiegelt, ist die Anthropomedialität (S. XVIf.). Darunter wird die "irreduzibel relationale und operative Verschränkung von Mensch und Medien" (S. XVII) verstanden. Der Mensch erscheint dabei als eine "anthropomediale Relation" (S. 81). Erläutert wird dies in Lorenz Engells Aufsatz zur Anthropomedialität des Films. Der Mensch und das Mediale sind nur als Relation denkbar: der Mensch stellt ebenso eine Relation dar wie das Medium. Die Anthropomedialität versteht  Engell als das Verhältnis, das den beiden Relationen Mensch und Medium vorgängig ist. Sie ermöglicht und bedingt in diesem Sinne Mensch und Medium als Beziehungsgefüge (vgl. S. 386). In spezifischen Untersuchungen arbeiten Engell und Voss in Bezug auf diesen Ansatz die Anthropomedialität von Film und Fernsehen (S. 107) oder die "generische [...] Anthropomedialität des Humors" (S. 229) heraus. Der Ansatz der Anthropomedialität verweist als "Arbeitsbegriff […] im Schnittpunkt von Philosophie und Medienwissenschaft" (S. 82) auf ein zentrales Anliegen des Aufsatzbandes.  Es geht dabei um die Frage, wie die Medienphilosophie mit "der Spannung zwischen medientechnischen und anthropozentrischen Apriori" (S. XI) umgeht. Diese Fragestellung basiert auf der von Engell und Voss postulierten Annahme, dass in der deutschsprachigen Medienwissenschaft seit Friedrich Kittler der Fokus auf Medien und Techniken dazu geführt hat, den Menschen aus dem Zentrum der Betrachtung auszuschließen. Die Philosophie allerdings ist traditionell mit dem Menschen und seinem Verhältnis zur Welt beschäftigt (vgl. S. XI). Die beiden gedanklichen Muster haben gemein, dass sie etwas absolut setzen – einerseits die Medien, andererseits den Menschen – und damit das Andere für unbedeutsam befinden, wodurch es der Sphäre des Relevanten enthoben wird. Die Texte, die Engell und Voss im Band zusammenbringen, plädieren für eine wechselseitige Relevanz der Irrelevanz (vgl. S. XI). Eben dies soll mit einem medienanthropologischen Interesse und dem Begriff der Anthropomedialität geleistet werden. Aus Sicht aktueller medienkulturwissenschaftlicher Debatten erscheint allerdings das Postulat einer einseitigen Fokussierung des medientechnischen Apriori, also das vorgängige des Medientechnischen in der Medienwissenschaft, verkürzt. Denn das wechselseitige Hervorbringen und Konstituieren ist Grundzug vieler medienkulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Die beiden Gegenpole des medientechnischen und anthropozentrischen Apriori ermöglichen es den Autor*innen allerdings, ihren dazwischenliegenden Ansatz argumentativ zu verdeutlichen. 

In ihren Aufsätzen beziehen sich Engell und Voss immer wieder auf einige bekannte Theoriekonzepte und Autor*innen. In Auseinandersetzungen um den Genrebegriff wird beispielsweise mehrmals auf Stanley Cavell zurückgegriffen (vgl. S. 248ff.). Besonders Engell arbeitet in seinen Argumentationen häufig und in verschiedenen Kontexten mit Gilles Deleuze (vgl. S. 259ff.). Bei Untersuchungen zum Humor wird auf Sigmund Freuds Ausführungen – auch ergänzend und überarbeitend – verwiesen (vgl. 239ff.). Auch klassische Autoren*innen der Medienwissenschaft wie Günther Anders und Friedrich Kittler finden in den Überlegungen Platz. Jene theoretischen Rückgriffe sind an dieser Stelle gerade deshalb zu erwähnen, da sie eine Art Einblick in die Verortung der Aufsätze geben können. 

Die Relevanz der Irrelevanz ist eine Aufsatzsammlung, die theoretisch-argumentativ äußerst dicht und voraussetzungsreich erscheint. In Verbindung mit der häufig komplexen Sprache ist der Band daher nicht niederschwellig. Auch für Leser*innen, die mit medienkulturwissenschaftlichen Argumentationen und Begrifflichkeiten vertraut sind, ist die Aufsatzsammlung an einigen Stellen schwer greifbar. Dies liegt auch an der für die Medienwissenschaft eher untypischen Debatte in Bezug auf  traditionell philosophische Kategorien. Zum Teil unterscheidet sich auch das Vokabular von jenem der Medienwissenschaft. Die Fragestellungen, das konkrete Vorgehen der Texte und ihr Interesse sind an mehreren Stellen anders akzentuiert als in der Medienkulturwissenschaft. Das Interesse, die Bearbeitung oder der Bezug auf genuin philosophische Felder, beispielsweise die Transzendentalität oder die Unterscheidung zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen – die in den Ansätzen von Engell und Voss aufgelöst wird (vgl. S. XVI) –, erscheint dabei für medienwissenschaftliche Fragen nur bedingt relevant zu sein. Allerdings sind diese Interessen für die Medienphilosophie produktiv und lassen in spezifischen Fällen auch ein Aufgreifen in medienwissenschaftlicher Perspektive zu. Politiken medialer Verfahren werden in den Aufsätzen von Engell und Voss nicht thematisiert und Untersuchungen, die explizit die medienkulturelle Verfertigung von Welt entlang gewisser Diskriminierungsachsen in den Blick nehmen, kommen im Band kaum vor. Diese unbearbeiteten Bereiche bieten allerdings die Möglichkeit eines Weiterdenkens. Im Rückgriff auf die Ausführungen der Autor*innen kann eine solche Analyse von Politiken vollzogen werden. Ein interdisziplinär-diskursives Arbeiten, in dem von verschiedenen Ansätzen wechselseitig profitiert wird, regt die Aufsatzsammlung somit an. 

Einige der hier vorgeschlagenen Konzepte sind für die Medienkulturwissenschaft anschlussfähig. Die theoretische Figur der Anthropomedialität ließe sich beispielsweise in spezifisch medienwissenschaftliche Fragen rund um die medienkulturelle (Mit-)Verfertigung von Existenzweisen und Zugriffsmöglichkeiten auf Welt integrieren. An mehreren Stellen erscheint eine Ergänzung, beziehungsweise ein Hinzufügen von medienkulturwissenschaftlichen Ansätzen und Interessen, äußerst produktiv. Eben dies könnte durch ein Aufgreifen der hier entwickelten Konzeptionen ermöglicht werden. Die medienphilosophische Perspektive der Autor*innen ist somit für unterschiedliche Disziplinen eine Bereicherung, auch für die medienkulturwissenschaftliche Theoriearbeit. 

Autor/innen-Biografie

David Jagella

David M. Jagella studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft im Master an der Universität Wien. Dort ist er als Studienassistent und Tutor tätig. Sein medienkulturwissenschaftliches Forschungsinteresse zielt auf die medialen Verfahren und Politiken von Subjektivierungsprozessen ab. 


Publikationen:

Jagella, David M.: "Ambivalent solidarisch. Politische Influencer*innen auf Instagram". In: tfmlog 15, 2022. https://tfmlog.univie.ac.at/caring-media/ambivalent-solidarisch/, abgerufen am: 30.09.2022. 

Jagella, David M.: "Über tastende Menschen und abtastende Medien. Analyse einer reziprok-taktilen Interaktion". In: EJECT – Zeitschrift für Medienkultur XI, 2021, S. 6-13.

Cover: Relevanz der Irrelevanz

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Veröffentlicht

2022-11-16

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Rubrik

Medien