Brigitta Kuster: Grenze filmen. Eine kulturwissenschaftliche Analyse audiovisueller Produktionen an den Grenzen Europas.
Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3-8376-3981-0. 344 S., € 29,99.
Abstract
In ihrer Monographie Grenze filmen webt Brigitta Kuster ein komplexes Netz an Filmanalysen zu Film- und Videobildern, die Grenzüberschreitungen der europäisch-kolonial geprägten nationalstaatlichen Ordnung begleiten und herstellen. Geleitet von detaillierten Beobachtungen filmischer Verfahren, die den Rhythmus des Schreibens an vielen Stellen auf poetische Weise vorgeben, geht die Autorin der "Ko-Produktion des Grenzraums Europa" (S. 10) und den daran gekoppelten (bild-)politischen Fragestellungen nach. Aus der von Kuster eingenommenen Perspektive, welche sich ihrerseits auf disziplinäre Grenzpassagen zwischen migration studies, Kulturwissenschaften, visual studies und Ansätzen aus "feministischer und postkolonialer Perspektive" (S. 10) beruft, "hat das Kino der Migration […] die Öffnung und Ausweitung, ja auch die Bewohnbarkeit von Zwischenräumen, Zeit-Räumen der Verbindung oder rites de passages zum Ziel" (S. 203).
Drei solcher Zwischen-Räume verleihen dem Buch folglich seine Struktur: der entscheidende Moment der Überschreitung einer nationalstaatlichen Grenze von Europa oder den USA (Kapitel 1), der Flughafen von Paris Roissy-Charles-de-Gaulle (Kapitel 2) und das Mittelmeer zwischen dem afrikanischen und dem europäischen Kontinent (Kapitel 3).
Zunächst jedoch skizziert die Autorin eine vielschichtige theoretische Annäherung an die Thematik, das Verhältnis zwischen dem Potential des Bildes und den migrantischen Bewegungen, sowie die Interferenzen, die deren wissenschaftliche Bearbeitung erzeugt. Entgegen einer häufig inflationären Verwendung des Begriffs wird Migration präzise in einem politisch-historischen Kontext situiert als Prozess der "Entstehung eines Personenstatus als Migrant*in […], der an die moderne Idee des Nationalstaats und des Staatsvolks als Souverän gebunden ist" (S. 9).
Anhand des konkreten Artefakts des Reisepasses thematisiert Kuster die "Berührungspunkte zwischen Abbildungsparadigmen und Aufzeichnungsmedien auf der einen Seite und den veränderlichen und flüchtigen Akteur*innen der Migration auf der anderen Seite" (S. 36). Über eine Kritik an dominanten Bewegungsmodi von Wissenschaftler*innen, die sich aus einer privilegierten Position auf die Ebene der 'Realität' der Migration hinabzulassen meinen (passing down), kommt die Autorin zur alternativen, sozialen Figuration der Komplizenschaft, die sie anhand ihrer ersten filmischen Beispiele definiert als eine Relation, in welcher, "der oder die Eine Verantwortung für die Handlungen des oder der Anderen übernimmt" (S. 78). Als Fundamente der darauffolgenden, repräsentationskritischen Analysen des Bildmaterials treten insbesondere Texte von Donna Haraway, Michel de Certeau und Gilles Deleuze deutlich hervor. Sie ermöglichen es, Grenzübertritte und Grenzziehungen kritisch im Feld der visuellen Machtstrukturen des eurozentristischen Otherings und den Un-/Sichtbarkeitsstrukturen des Rassismus' zu benennen, ohne die 'Autonomie der Migration' und ihrer Bilder und Erzählungen zu vernachlässigen.
Sobald die drei genannten Zwischen-Räume betreten werden, geht es zeitgleich immer auch um die Bewegungen des Fliehens aus diesen Räumen. Diese Vorgänge nennt Kuster "Fluchtwesen" oder "Figuren des Entkommens" (S. 13), denen die Kraft zukommt, Grenzen und Räume durch ihr autonomes Handeln zu "durchlöchern": "Die Migration, so die These, gräbt Löcher indem sie das Nahe-Ferne-Problem unterminiert und damit die Distanz zwischen Kontinenten genauso unterwandert wie die binäre Rasterung und Orientierung von Ankunfts- und Herkunftsräumen" (S. 209).
Das Durchlöchern wird zur Methode des Buches. In den Text der Verfasserin greifen lange Passagen an Dialog-Transkriptionen aus dem Filmkorpus ein. Inspiriert von Trinh T. Minh-Has "Nahe-an-den-Filmen-Sprechen" statt 'über' sie und Kelly Olivers Konzept des "speaking in tongues" (S. 72) durchziehen sie die Schrift mit ihren Parallelstimmen auch formal – während die ausführlichen Fußnoten ebenfalls ihren Raum reklamieren, weitere Löcher graben und verzweigte Subtexte schaffen.
Die "Fluchtwesen" des ersten Kapitels offenbaren den Übertritt der Grenze als einen Prozess der Herausforderung des europäischen Regimes der Rechte und Privilegien, da die Grenze "nicht einfach ein räumliches Hindernis ist, keine Zweiheit, sondern eine abstrakte Relation, die von der Differenz lebt" (S. 126).
Das zweite Kapitel spielt sich fast zur Gänze auf dem Territorium des Flughafens von Paris Roissy-Charles-de-Gaulle ab. Es begleitet mehrere Produktionen im "Film-Werden" der Person Sir, Alfred Mehran, der an diesem Zwischen-Ort 18 Jahre im Transit lebte und zum Sujet mehrerer Filmproduktionen wurde. Im Sinne von Laura U. Marks‘ "embodied spectatorship" (vgl. S. 257) mischt sich hier der Körper der Autorin selbst unter die Passant*innen des Flughafens, wenn sie ihre eigenen Routen im Zuge der Recherchen zu Filmen und Person des Sir, Alfred Mehran beschreibt. Auf den filmischen, politischen, sozialen, aber auch einfach alltäglichen Spuren dieses Menschen, der die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation mit seinem Leben eindrücklich durchlöchert, lotet Kuster einen Konflikt aus zwischen den hegemonialen, bürokratischen Mechanismen der Herstellung einer personalen Identität, die sich durch Ausweise und Dokumente verifizieren lässt, und der Handlungskraft des Menschen selbst, diese Mechanismen inklusive audiovisueller (Ko-)Produktionen ad absurdum zu führen. Obgleich die Schwerpunkt-Verschiebung des theoretisch-philosophischen Gerüsts des Textes am Übergang zwischen erstem und zweitem Kapitel angekündigt wird, scheinen ab Kapitel 2 "Das Film-Werden des Sir, Alfred Mehran" nahezu alle anderen Stimmen zugunsten von Gilles Deleuzes Kino-Schriften, insbesondere seiner Idee der "Affektik" zurückzutreten. Dadurch wird spätestens im dritten Kapitel ein kritischer Punkt erreicht, an dem das zuvor noch bewahrte Gleichgewicht zwischen der Autonomie der Bilder, Stimmen und Geschichten und der theoretischen Untermauerung zu kippen droht, Theorie die Überhand zu gewinnen scheint und die Frage aufwirft, ob 'Migration' nun dazu dient, Theorien wie die von Deleuze und Guattari vorstellbar zu machen, anstatt weiterhin ihre Bildlichkeit zu untersuchen so wie dies im ersten Kapitel begonnen wurde.
Im dritten Kapitel wird das Mittelmeer als "durchlöcherter" und von Durchkreuzungen und Überquerungen durchzogener Raum zum verstärkt akustischen Klangraum der Bilder. Es wird ein spezifischer Schwerpunkt auf die historische Formung der Überfahrt zwischen Algerien und Frankreich gesetzt, zu dem Kuster Hintergrundwissen über Immigrationsbestimmungen von Seiten des französischen und Emigrationsbestimmungen von Seiten des algerischen Staates liefert. Vor diesem Hintergrund geht es um die kleinen Formate und lyrics der Handy- und Musikvideos, die eine Genealogie der Lieder, Gesänge und (akustischen) Bilder der nordafrikanischen Emigration und Immigration verzweigen und fortführen. Es geht damit auch um das Kleiner- und Mehr-Werden des Films als Medium und seiner Signale zur Umstrukturierung des administrativ und militärisch verriegelten Mittelmeerraums: "Man breitet sich aus, man verteilt sich. Nicht topographische, sondern Nachbarschaftsbeziehungen; es geht hier um die kleinen Kontakte" (S. 272).
Die koloniale Metapher des Schiffs wird den prekären Booten der harragas gegenübergestellt, die weitreichenden Auswirkungen des stereotypen Kolonialfilms des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in die Gegenwart geholt. Die Ausdehnung des Mittelmeers versteht Kuster hier als Raum "der transnationalen Verbindungen und Routen der Migration, welche die Staatlichkeit nicht auflösen oder angreifen, sondern durchwühlen" (S. 216). Damit geht jedoch eine durch den 'post_kolonialen' Diskurs oft ins Abseits gedrängte dezidiert anti-koloniale Kritik verloren, die bestärken würde, dass Immigration und Emigration die koloniale Staatlichkeit Frankreichs damals wie heute sehr wohl und zurecht angreift. Abdelmalek Sayad, auf den am Rande Bezug genommen wird, hat schon früh aufgezeigt, dass Migration zwischen Nordafrika und Frankreich sowohl im offiziell kolonialen System als auch nach den formalen Unabhängigkeiten immer schon als politisch zu verstehen ist. Er belegt dies anhand von subversiven Auswirkungen der ruralen Emigration im kolonial besetzten Algerien oder auch anhand von Streik- und Sabotage-Organisation in französischen Fabriken durch algerische Arbeiter*innen. Dieses Wissen versteckt sich im Text ohne im Vokabular direkt sichtbar zu sein, aber bricht in jedem Fall dann hervor, wenn die Kasbah Algiers als exemplarisch für den durchlöcherten Raum genannt wird und auf anti-koloniale Stadtguerilla-Techniken angesprochen wird, die in den von der Autorin evozierten terrains vagues der Metropole oder Kolonie wiederauftauchen.
Auf die kraftvolle Aufforderung der harraga am Ende des dritten Kapitels, "die Schengener Grenze zu verbrennen – und zwar immer dort wo sie sich aufrichtet" (S. 273) in ihren vielen materiellen wie immateriellen Formen, mündet das Buch in eine von Derrida angeführte Coda. Das Konzept des durchlöcherten Raums wird von einer Kritik an Homi K. Bhabhas Idee des Dritten Raums als schwarzes Loch ergänzt. In diesem abschließenden Teil geht es in Verbindung mit den Signalen der migrantischen (Musik-)Videos um die Prozesse des Sendens und Empfangens von Nachrichten der Migration, die angesichts der Mordmaschinen der aktuellen Migrationspolitiken immer Botschaften des Todes implizieren. Ihnen werden lange Passagen von Zahlen der auf dem Mittelmeer bei der Überfahrt Umgekommenen hinzugefügt. Dann verweist die Autorin die Gewalt dieser numerischen Abstraktion, um mit Édouard Glissant auf die Aktualität der Versklavung von Menschen durch die europäischen Nationen zurückzukommen – eine Aktualität, der immer die Erinnerung an frühere Überfahrten, ihr Gelingen und Scheitern innewohnt. So entlässt Kuster die Lesenden zwischen Édouard Glissant und Jacques Derrida auf der Überfahrt und schürt im Rückgriff auf den Beginn des Buches doch etwas Hoffnung auf zukünftige Kompliz*innenschaft und Schleichwege eines gerechteren Zusammenlebens in Europa.
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