Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration.

Bielefeld: transcript 2015 (Post_koloniale Medienwissenschaft: Band 4). ISBN 978-3-8376-2575-2. 360 Seiten, Schwarz-Weiß Abbildungen. Preis: € 26,99.

Autor/innen

  • Viktoria Metschl

Abstract

Verkennung als Leugnung veranschaulicht zwei sich ergänzende Strukturbedingungen des Redens über Rassismus und 'Ausländerfeindlichkeit' in Deutschland. Zum einen wird Rassismus nur wörtlich benannt, um dessen gesellschaftliche Wirksamkeit zu verneinen, was eine genauere Analyse der Arbeit, die Rassismus für eine gesellschaftliche Figuration leistet, von vornherein umgeht. Zum anderen ist eine derartige Nicht-Aussage nur auf Basis einer noch viel weiter verbreiteten Verkennung möglich, der zufolge Nicht-Rassistisch-Sein lediglich eine Frage des 'guten', individuellen Willens bzw. des 'korrekten' Sprechakts sei. In dieses folgenreiche Feld des "beredten Schweigens" (S. 10) über Rassismus in Deutschland, des Aus-Sprechens als Weg-Sprechen, interveniert Nanna Heidenreichs 2015 im transcript Verlag erschienene Monographie V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration

In insgesamt fünf thematisch gegliederten Kapiteln werden juristische, soziale/politische, historische und visuelle Dimensionen und Ausdrucksformen dessen, was sie gleich zu Beginn als den "deutschen Ausländerdiskurs" (S. 9) – ein "Gefüge von institutionellen Regelungen, sprachlichen Konventionen, Alltagspraktiken und Visualisierungen" (S. 9) – definiert, von der Autorin gleichermaßen verschränkt wie miteinander konfrontiert. Der Schwerpunkt liegt auf in Deutschland (vorrangig seit den 1970er Jahren mit einigen älteren Beispielen) produzierten Spielfilmen, da diese aufgrund ihrer proklamierten-intendierten Fiktionalität besonders geeignet seien, die Angewiesenheit des Sichtbar-Machens von Migrationsgeschichte in Deutschland auf Geschichten in Plural und Pluralität, also narrative Möglichkeiten zu vermitteln. Indem sie die erzählerischen als immer auch geschichtliche Spiel(film)räume nicht von ihren materiellen Grundlagen im technischen und produktions-ökonomischen Sinne trennt, setzt die Studie dazu an, Migrationsgeschichte als Mediengeschichte zu denken, weshalb "Migrationsbewegungen […] stets auch so etwas wie Bewegungen einer medialen und technologischen Avantgarde" (S. 12) wiedergeben. In diesem Sinne betont der Text, dass Migration immer gesellschaftliche Transformation bedeutet, die "sich in und mit Filmen und Videos formiert und ereignet. " (S. 20)

Die ersten Interventionen des Buches zeigen sich inspiriert von Pierre Bourdieus Werk Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Tatsächlich stellt im ersten Kapitel die detaillierte Analyse des folgenschweren Tauschverhältnisses für das Wort 'Ausländer' zwischen der diskursiven Ebene im deutschen Sprachgebrauch und der juristischen Ebene der Gesetzgebung der Bundesrepublik eine faszinierende, substanzielle Grundlage und Gegengewichtung zu den späteren verstärkt film- und bildtheoretischen Überlegungen Heidenreichs dar. Transformationen sprachlicher Figuren bzw. sozialer Phantasmen (aus 'Gastarbeiter' wird 'Ausländer') werden in einem Gefüge juristischer und politischer Kontinuitäten kontextualisierbar. Heidenreich gelingt eine Demystifizierung von hoher politischer Relevanz, welche sich vor allem an zwei Schlüsselbegriffen manifestiert: Durch historische Perspektivierung widerlegt sie den bundesrepublikanischen Mythos der "Voraussetzungslosigkeit" von Migration nach Deutschland, deren 'Beginn' zumeist fälschlich mit dem Anwerbeabkommen mit Italien 1955 erinnert wird. Zweitens wird durch Erläuterung der gesetzlichen Grundlage, die 'Deutsch'-Sein seit 1913 und bis in die Gegenwart als "Recht des Bluts, also der Abstammung" (S. 35) festlegt, die angenommene Unaussprechlichkeit von 'Rasse' in der deutschen Sprache aufgrund ihrer Vergangenheit, die keine solche ist, thematisiert. 

'Rasse' als Phänomen sozialer Produktion ungleicher Kategorien manifestiert sich, so zeigt Heidenreich, genau dort in ihrer absurden, weil realer Grundlagen mangelnden, Realitätswerdung durch bildliches, sprachliches, (polizeilich-)technologisches und körperliches Handeln der 'Mehrheitsgesellschaft', wo die juristische Kategorie als soziale "v/erkannt" und stetig produziert wird. An genau dieser Schnittstelle von Imagination und Realität, wo rassistische Kategorien zumeist mit einer "Epidermisierung"[1] durch visuelle Marker zusammenarbeiten, treten die Bewegungen der Filmbilder hinzu. 

Die folgenden drei Kapitel von V/Erkennungsdienste sind daher in filmanalytischem Verfahren einigen besonders wirkkräftigen Markierungen des Othering im 'deutschen Ausländerdiskurs' in Spielfilmen gewidmet. Dabei geht es um Repräsentationskritik aus Perspektive der als solche bezeichneten post_kolonialen und feministischen Filmwissenschaft und das entsprechende Subversionspotential der filmischen Arbeit am "dünnen Grad zwischen Affirmation (oder tendenzieller Apologektik) und Auflösung bzw. Umschrift" (S. 68) von "Vorurteilen" und "Stereotypen". 

"Hindurchgehen: Den Erzählungen Raum und Zeit geben" greift das Kino als "Legitimitätsmaschine" (S. 96) des 'deutschen Ausländerdiskurses' auf, indem die Zirkulation der stereotypen Figur des "kriminellen Ausländers" (S. 94) anhand sehr anschaulich beschriebener Beispiele und Sequenzanalysen nachgezeichnet wird. Heidenreich behält dabei ihre politische produktive Auffassung der Filmbilder als 'bedeutungsexzessiv' bei, d.h. nicht auf eine festgeschriebene Bedeutung fixierbar, wie das der 'Ausländerdiskurs' wünscht und praktiziert. Heidenreichs Reflexion zum Überschuss des Bildes lässt die Legitimitätsmaschine Kino auch zum Counter-Erkennungsdienst der vorgelagerten Legitimitätsmaschinen werden, denn " (d)er Einsatz von Bildmaterial, das stereotyp ist, ist immer ein Zitat und kann als solches subvertiert, parodiert, auseinandergenommen, deplatziert oder markiert werden. "  (S. 76) 

In ähnlichem Vorgehen wird die Auseinandersetzung mit Konzepten der Genealogie, im Sinne sexueller und gender-bezogener Kategorieproduktion einerseits, im Sinne von Abstammungslinien andererseits, geführt. "Filmische Indexierung von Migration und Genealogie" (S. 106) wird mit Jacques Hassouns Theorie der "Schmuggelpfade der Erinnerung" (S. 105) konterkariert, um die Genea-Logik (in Anlehnung an Sigrid Weigel) zu verkomplizieren, auszusetzen und neu zusammenzusetzen. Daraus ergeben sich aus und mit den Operationen der Filmbilder neue Vorstellungen von Familie und eine geschlechterdifferenz-sensible Perspektive auf die diskursive Absteckung von Innen- und Außenräumen im deutschen Kontext des Migrationsdiskurses.

Die Problematik der Fixierung bestimmter produzierter, rassisierter, kategorisierter und v/erkannter Identitäten in Innen-, Außen- und Bildräume wird im dritten Kapitel "Un-/Sichtbarkeiten" auf Körperkleidung und deren prominentestes Beispiel der Verschleierungstechniken, das 'Kopftuch', übertragen, das im visuellen Index der V/Erkennungsdienste einer generalisierenden Idee des Islams zugeschrieben und im hegemonialen, sexistischen Interesse als stellvertretende Chiffre für eine Unterdrückung der 'Frau' missbraucht wird. Innovativ ist hier die angewandte Linse der Bildtheorien, die die Differenzen zwischen Islam und Christentum in der kunst- und religionsgeschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Bild und Erkennen, sprich Bild und dessen angenommenem Wahrheitsgehalt, analysieren. Für die Autorin zeigt sich hierin eine Kontinuität europäisch-christlicher Hegemonie, die Bild mit Evidenz gleichsetze, während aus der Bildgeschichte des Islams ein kreatives Terrain der Opazität hervorgehe und nicht zuletzt subversive (Film)Bildpraktiken zulassen. Wenn es allerdings heißt, dass " (d)er Antagonismus von Christentum und Islam (oder von Okzident und Orient) sich heute v.a. als Bilderstreit" manifestiere, dann ist zu fragen, ob der dezidierte Fokus des Kapitels auf historische Auseinandersetzungen zwischen Bilddenken (Zentralperspektive vs. Ornamentik) und verallgemeinerten Begriffen von 'Christentum' und 'Islam', nicht selbst Gefahr läuft, der reaktionären Devolution durch Kulturalisierung des Politischen in die Hände zu spielen und vollkommen vielfältige Möglichkeiten des Bildgebrauches von muslimisch-geprägten Künstler_innen in eine gemeinsame 'Tradition' zu stellen. In diesem Sinne wird auch der damals wie heute revolutionäre Beitrag Fanons zur "Kopftuch-Debatte" als Mimikry-Technik verkürzt, während es tatsächlich um konkrete Bewaffnung der revolutionären Front geht. Was als "lange Tradition eines Kampfes um Bilder und um Abbildung und Blickkultur" (S. 196) dargestellt wird, ist viel eher die lange Tradition eines gegen-gewalttätigen Kampfes zwischen Kolonialmacht und anti-kolonialer Befreiung. Ohne Zweifel stehen beiden Traditionen in enger Verbindung. Deshalb wäre es erfreulich gewesen, um der Symbol- und Wortzirkulation innerhalb des 'Ausländerdiskurses' zu entkommen, mehr zur politischen Bedeutung des Schleiers und seiner Bildwerdungen zu lesen, die ihn m.E. viel mehr in die Nähe des hoodies als eines 'Islam' rücken und die Inkrustation sexistisch-kolonialer Politiken bis heute herausfordern.

Die Perspektive der Religion innerhalb der "Perspektive der Migration" erlangt innerhalb des Kapitels jedoch wieder erhellende Relevanz, sobald Heidenreich die christliche Prägung des Evidenzdenkens in eine Dekonstruktion der Authentizitäts-Versessenheit des Sprechens über 'Deutsche' und 'Ausländer' überführt und nicht zuletzt das Kino an sich in einer europäisch-christlichen Genealogie der Machtapparate situiert.

Kapitel 4 kehrt zurück zu Verschränkungen von Bildproduktion, Sexismus und Rassismus, die schon über den Schleier und die Fanon-Referenzen auftauchten. Heidenreich greift Ansätze der antirassistischen Theorie um colorism und genitalism sowie der feministischen Filmtheorie nach Kaja Silverman auf (vgl. S. 264) und untermauert Argumente mit sorgfältig beobachteten Filmszenen. Sexuelle Ökonomien innerhalb des sexistisch-kolonialen Feldes des 'Ausländerdiskurses' und kontinuierliche V/Erkennung der Opfer bespricht Heidenreich in filmischen Darstellungen der Arbeitsverhältnisse von Prostitution und lässt sichtbar werden, wie europäische "universal sexuality (a universal heterosexuality) as a colonizing scheme of white supremacism"[2] funktioniert. Bleibt der Austragungsort der Sexualitäts- und Sex-Diskurse der Körper der 'Frau' auf und jenseits der Leinwand, so Heidenreich mit Querverweis zu Simmels "Philosophie des Geldes", dann nähert sich die Zirkulation der Bilder von Opfer-Ikonen der Zirkulation einer Währung an, selbst Währung im (Blut)Kreislauf der Ausbeutung werdend. Entscheidend ist in beiden Fällen der Glaube an den Opfer-Status ohne subjektive agency und die Macht der Währung. Den Prostituierten wird ihre Selbstbestimmung ein ums andere Mal abgesprochen, um oppressive, zweigeschlechtliche Heteronormativität, immer auch entlang des 'ius sanguinis' strukturiert, aufrecht zu erhalten.

Im Schluss-Kapitel erweitert die Autorin noch einmal den Horizont und bietet Beispiele an, die ein "Kino der Evidenz und der Wiedererkennbarkeit" (S. 292) hinter sich lassen. Dieses oft video- und kleine Formen-affine, transnationale und multimediale Kino übt Kritik am Begriff des Postmigrantischen. Heidenreich enttarnt diese Idee der präfix-gestützten Periodisierung als Zuschreibung, die zwar die "überfällige Affirmation von Migration als Tatsache der Gegenwartsgesellschaft zum Ausdruck bringt", jedoch die "Fortschrittslogik des Ausländerdiskurses auch hinsichtlich dessen Geschichtsvergessenheit" (S. 297) reproduziert. Hierin kommt nicht zuletzt das Augenmerk der Autorin für Details in Begrifflichkeiten und Schreibweisen (postmigrantisch, post_kolonial, …) zum Ausdruck, welches immer wieder entscheidende Akzente setzt.

Auch jene Momente sind hervorzuheben, in denen aktivistisches als angewandtes Wissen in den ansonsten akademischen Text einbricht und Blickwinkel nochmals multipliziert. Sie sind vernetzt mit Nanna Heidenreichs eigener Positionierung und ihren vielfältigen Tätigkeitsfeldern zwischen Hochschule, Filmkunst und politischem Aktivismus. "Ich schalte mich ein in ihre Verhandlungen – um Teil davon zu sein, und nicht nur deren Protokollantin." (S.72) In diesem Sinne zeichnet sich als nur eine von vielen weiterführenden Fruchtbarmachungen der Erkenntnisse aus V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration die Parallele zu kritischen Polizeistudien ab, wo die technische Weiterentwicklung der Bildmedien und Datengenerierung mit den alten Mechanismen der Rassisierung und Ausbeutung kollaboriert und unter dem Tarnmantel der 'Prävention' zum "policing of the future"[3] wird. "Spekulative Archive" (S. 320) hingegen und die "Fähigkeit des Kinos, uns ein Archiv möglicher Zukunft zur Verfügung zu stellen, ebenso wie es verschiedene Vergangenheiten zu vergegenwärtigen vermag" (S. 78) können als Widerstandstaktiken mobilisiert werden, ebenso gut wie sie sich von 'Ausländer'- und anderen Diskursen des Verleugnens kooptieren lassen.

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[1] Frantz Fanon: "Peau Noire, Masques Blancs". In: Ders. Oeuvres. Paris 2011, S. 45–258, S. 66.

[2] Greg Thomas: The Sexual Demon of Colonial Power. Pan-African Embodiment and the Colonial Schemes of Empire. Bloomington 2007, S. 52.

[3] Vgl. Aldo Legnaro/ Andrea Kretschmann: "Das Polizieren der Zukunft". In: Kriminologisches Journal, Nr. 2, 2015, S. 94-111.

Autor/innen-Biografie

Viktoria Metschl

studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Sie arbeitete als Übersetzerin und Assistentin für Filmproduktionen in Algerien und Frankreich sowie als Mitarbeiterin des UNHCR in Algier. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsplattform "Mobile Cultures and Societies. Interdisciplinary Studies on Transnational Formations", wo sie im Projekt "Delokalisation, Figuration, Archiv" arbeitete und ihre Dissertation zur algerischen Revolution und kinematographischer Solidarität verfasste.

Veröffentlicht

2017-11-15

Ausgabe

Rubrik

Film