Susanne Lettow/Sabine Nessel (Hg.): Ecologies of Gender. Contemporary Nature Relations and the Nonhuman Turn.
New York/London: Routledge 2022. (Environmental Humanities). ISBN: 9780367902391. 264 Seiten, 10 s/w-Abbildungen, 117,54 € (Hardcover) bzw. 35,25 € (eBook). DOI: 10.4324/9781003023319.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2023-2-14Abstract
"As we know, the figure of the human has not vanished, as Foucault predicted, although it has undergone significant change. It seems as if the nonhuman turn has initiated a shift from what Foucault called the 'empirico-transcendental doublet' into an 'onto-ethical' figure. This means that, in contrast to the history of philosophical anthropology, the human is no longer understood as a biological being that is, at the same time, the transcendental condition of the possibility of knowledge, but rather in terms of ontological claims that immediately translate into ethical-political ones." (S. 198)
Durch was würde sich ein Glossar des nonhuman turns auszeichnen? Auffällig wären wohl die Polyvalenz und Polysemie seiner operativen Begriffe und Konzepte, deren methodologische Absetz- und Abgrenzungsbewegungen sich sehr unterschiedlich begründen und die notwendig immer wieder zu kritischen Relektüren jener Figur des Menschen (zurück)führen, von der sie sich vordergründig abwenden. Mit der Bezeichnung nonhuman turn oder more-than-human turn werden kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven zusammengefasst, die an prozessphilosophische und relationale Theorien anknüpfen und aus den kontroversen Debatten rund um neu-materialistische Ansätze schöpfen. Anders als post(-human) akzentuieren die Präfixe non(-human) oder more-than(-human) die Dezentrierung des Anthropos als eine erweiternde Perspektive. Das Ineinandergreifen von Natur- und Kulturgeschichte angesichts von Klimawandel und Artensterben (als Prekarisierung menschlicher und nicht-menschlicher Lebensbedingungen) führt gegenwärtig in den Kultur- und Sozialwissenschaften wie auch in der Philosophie dazu, Problemstellungen des Ökologischen neu zu fassen und in Bezug auf nachhaltige Beziehungsweisen verstärkt auch affektive und nicht-instrumentelle Naturbeziehungen in den Blick zunehmen.
Genau hier setzt der in der Routledge Buchreihe Environmental Humanities erschienene Sammelband Ecologies of Gender an, um die Möglichkeiten und Schwächen des nonhuman turns sowohl für die Gender Studies als auch für die Environmental Humanities auszuloten. Einleitend halten die beiden Herausgeberinnen Susanne Lettow und Sabine Nessel den Einsatz des Bandes folgendermaßen fest: "In order to avoid a vitalist position, in which an all-encompassing concept of 'life' masks the historicity and complexity of social relations of power and inequality and the specific conditions and possibilities of human agency, we use the phrase 'ecologies of gender'." (S. 3) Diese Stellungnahme kondensiert jahrzehntelange Debatten, rund um nicht-menschliche Handlungsmacht und Symmetrisierung (wofür meist paradigmatisch Bruno Latour steht) sowie solche rund um den vitalistisch grundierten Neu-Materialismus (hier wäre etwa Rosi Braidottis Konzept von Zoé zu nennen oder der Vitalismus Jane Bennetts). Diese Debatten drehen sich um die Einsicht, dass die Historizität von Herrschaftsverhältnissen und Interessenskämpfen es erfordere, an einer Spezifität menschlicher Handlungsmacht festzuhalten, ohne dass damit automatisch ein (starker) Anthropozentrismus (als falscher Universalismus) einhergehen müsse.1 So sind es dezidiert (queer-)feministische und postkoloniale Theoriebezüge, auf welchen die dreizehn Beiträge des Bandes aufbauen, die explizit als "situated analyses" (S. 2) gerahmt werden. "Situiertheit" wird dabei ökologisch perspektiviert. Die Erweiterung auf nicht-menschliche Aktanten (u. a. chemische Substanzen, Artefakte oder Organismen) erlaubt es, die Figur des Menschen immer bereits als "more-than-human" zu lesen: "[W]e understand ecologies as complex, multilayered meshes of relations […] gender relations are always at the same time nature relations, and nature relations must conversely be conceived as mediated by gender relations" (S. 3). Solcherart "Ecologies" und "Gender" immer bereits im Plural gedacht, schlagen Lettow und Nessel vier Schlüsseldimensionen eines ökologischen Verständnisses von Geschlecht vor, die auch die Essays des Sammelbandes gliedern: "Creatures", "Materials", "Spaces" sowie "Temporalities". Die dreizehn Autor*innen entstammen aus verschiedenen (inter)disziplinären kulturwissenschaftlichen Hintergründen (wie etwa den Visual Culture Studies, der Kulturanthropologie, der Vergleichenden Literaturwissenschaft oder den Science-Technology and Society-Studies) und verhandeln theoretische und ästhetische Darstellungen und Narrative von Gender und Natur. Ihre Forschungsgegenstände sind u. a. Maulbeerbäume in Kanada, Fetischobjekte wie Texte oder Erdöl, verfilmte Traumata, filmische Mensch-Tier-Beziehungen, Glitzer, Pflanzen, Science-Fiction und chilenische Lachsfarmen.
Im Zentrum des ersten Teils "Creatures: The Biopolitics of Making Kin" stehen Pflanzen. Sie tauchen darin auf als Technologien, als eugenische Metaphern von Züchtung und Reinheit, als literarische und mythologische Topoi der Frau als Pflanze und nehmen in all der Ambivalenz von Donna Haraways Aufruf des Sich-Verwandt-Machens unterschiedliche Beziehungsgestalt an. Catriona Sandilands greift auch methodisch aufs harawayanisch geprägte story telling zurück, um damit poetologische, wirtschafts- und kolonialgeschichtliche Fäden der Kultivierung von Maulbeerbäumen in Kanada zu verknüpfen. Mit "The Vegetal Subjects of Feminist Speculative Fiction" setzt sich Natalie Meeker vorrangig mit den utopischen Romanen der weißen US-Amerikanerin Charlotte Perkins Gilman (1860–1935) auseinander und legt den rassistischen Kern der Züchtungsfantasien von Gilmans weißem, sozialdarwinistisch verfassten Feminismus frei. Die Wieder-Verzauberung der Natur als Vorbedingung öko-politischen Handelns ist Thema von Swarnalatha Rangarajan, die auf feministisch-indigenen Widerstand in Indien fokussiert sowie die Parallelen von indischer und griechischer Mythologie in der Verhandlung sexualisierter Gewalt herausarbeitet.
Der zweite Teil des Bandes, "Materials: Agency in/of Transcorporeal Assemblages" verhandelt Selbsttechnologien (etwa synthetisches Testosteron), Fetische und unsere ambivalente Beziehungen zu Plastik. Nicole Seymour kritisiert mittels queer-ökologischer Ansätze dominante Rhetoriken von Umweltbewegungen, insbesondere jene der reinen Natur, die es zu bewahren gelte, und thematisiert stattdessen die affektiven Bindungen zu Plastik (etwa in Form von Glitzer oder in der Kunst) und weiß wohl, dass auch Autoliebhaber*innen ähnlich widerstreitende Gefühle ob des Narrativs des Verzichts haben. Kathrin Peters liest Paul B. Preciados Testo Junkie als Experimentierraum mit Selbst-/Subjektivierungstechnologien, wobei für Peters die biophysiologischen Effekte von Testosteron nicht kausal oder deterministisch zu verstehen sind und gleichzeitig "scripted narratives" (von Bildern und Texten) die maskuline Subjektivierung von Preciados Autor-Ich anleiten/vorzeichnen und so den Experimentierraum (zumindest schwach) prädeterminieren. Ramona Mosse sucht die Anthropo-Scenes zeitgenössischer Theaterproduktionen auf, die menschliche Zeiterfahrung mit geologischer Tiefenzeit konstellieren und (weiße) feministische/weibliche Emanzipation in Abhängigkeit der technologischen Innovationen des Petro-Kapitalismus auf der Bühne problematisieren.
Mit "Spaces: Landscapes and Architectures of Power and Imagination" geht es im dritten Abschnitt vorrangig um die filmische Verhandlung von "Naturecultures" (ein weiterer harawayanischer Begriff in diesem Band). So widmen sich etwa Sabine Nessel und Andrea Seier in ihren Texten fantastischen Momenten und Motiven im europäischen Arthouse-Kino, die Begehrensstrukturen über Spezies- und Geschlechter-Grenzen hinweg thematisieren, ohne den "Ausbruch" aus den Verhältnissen zu verklären. Im letzten Teil von Ecologies of Gender nimmt sodann Susanne Lettows Essay "The Figure of the Human" eine Schlüsselrolle für die Problemstellungen des Bandes ein. Wie von mir einleitend zitiert, schlägt Lettow vor, die Figur des Menschen unter der Prämisse des nonhuman turns und unter kritischer Relektüre prominenter Autoren der philosophischen Anthropologie als onto-ethische Figur zu verstehen. Dass wir aktuell begrifflich auch in so unterschiedlichen Gegenwartsdiagnosen wie Kapitalozän, Chthuluzän oder Anthropozän immer wieder zur Relektüre des Menschen (bzw. des Kollektivsingulars Menschheit) angehalten werden, hat ihr zufolge weniger mit den Schwächen der Theoriebildung als solcher zu tun und vielmehr mit Problemen und Widersprüchen selbst, durch die es hindurchzuarbeiten gilt. Lettows onto-ethische Figur schlägt denn auch notwendig immer in eine ethisch-politische Dimension um, ohne damit aber gleich eine politische Programmatik vorzuzeichnen. Diese Schwächen des nonhuman turns, die sich etwa in Fragen nach politischer Organisationsfähigkeit und Verantwortung recht eklatant stellen, greift etwa Sven Bergmans kulturanthropologischer Essay auf ("Speculative Ecologies: Salmon Farming and Marine Microplastics as Slow Disasters") der damit als einer der wenigen Texte Arbeitskämpfe (hier: Gewerkschaften in Chile) behandelt.
Abschließend sei bemerkt, dass meine vorangestellte Frage hinsichtlich eines Glossars des nonhuman turns nicht bloß dazu dient, meine Besprechung des Sammelbands Ecologies of Gender zu eröffnen. Gerade weil der Sammelband seine Stärke aus seiner essayistischen Pluralität zieht, wäre es hilfreich gewesen, auf ein Glossar der vielzähligen Analysekonzepte und Neologismen (u. a. "Plastisphere", "Planthropocene", "Plantationocene", "multispecies inquiry", "ecofeminism/ecohumanism") zurückgreifen zu können, insbesondere da diese Begriffe in den Texten oft unterschiedliche Fluchtlinien zeichnen.
Anmerkungen:
1 Von einer schärferen Kritik an neumaterialistischen Theorien – insbesondere im Hinblick auf Fragen der politischen Organisation und Verantwortlichkeit – ist etwa der Sammelband Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung (Hg. v. Hannes Bajohr, De Gruyter 2020) gekennzeichnet, der in Ecologies of Gender ebenfalls referenziert wird.
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