Wendy Hui Kyong Chun: Updating to Remain the Same. Habitual New Media.
Cambridge (MA): MIT Press 2016. ISBN: 978-0-262-03449-4. 246 S. Preis: € 32,49 (Hardcover).
Abstract
Der Arbeitstitel von Wendy Hui Kyong Chuns Updating to Remain the Same. Habitual New Media (2016) lautete Imagined Networks. Warum der Netzwerkbegriff nicht im Buchtitel aufscheint, jedoch eine Schlüsselrolle im formalen wie argumentativen Aufbau einnimmt, wird in der Lektüre nachvollziehbar. Schließlich möchte Chun unter Bezugnahme auf Jean-Luc Nancy ein Netzwerk mobilisieren, das außerhalb sauberer Verbindungslinien und Knotenpunkte eine (medialisierte) Gemeinschaft herzustellen vermag und plädiert, digitale Öffentlichkeitsräume zu imaginieren, die die 'Verletzlichkeit' ihrer UserInnen dereinst nicht sanktionieren.
Wie lange können die 'Neuen Medien' noch mit dem Begriff 'neu' attribuiert werden? Ebenfalls: sollte anstatt 'Sozialer Medien' nicht treffender von 'Asozialen Medien' gesprochen werden? Diese und ähnliche Fragestellungen tauchen im (deutschsprachigen) journalistischen Kontext wie auch in Kommentar- und Forenspalten immer wieder auf – gerne als spitzfindige Beobachtung oder milde Empörung geäußert. Chun, obgleich sie diese Fragen selbst nicht stellt, hat darauf interessante Antworten parat, denn ihre Untersuchungen der Neuen Medien und insbesondere der Sozialen Medien zielen methodisch wie inhaltlich auf Verlagerungen und Durchkreuzungen jener theoretischen Rahmungen (und imaginierten Netzwerke) ab, die derart reduktive Pointen erst ermöglichen. Dabei kommt einer Konnotation besonderes Gewicht zu, die in der Übersetzung von 'Social Media' zu Sozialen Medien oftmals verloren geht: Geselligkeit.
Zunächst steigt Chun jedoch im Vorwort mit dem vergnügt-schaurigen Titel "The Wonderful Creepiness of New Media" über Gemeinplätze ein: Die Neuen Medien sorgen deshalb für faszinierenden Grusel, da sie umkämpfte Grenzziehungen – wie etwa banal/revolutionär, Öffentlichkeit/Privatheit, Tratsch/politische Rede, ephemer/dauerhaft – verunklart oder gar invertiert haben. Das konnten sie wiederum deshalb, da sie "leaky", also durchlässig sind. Und ihre konstitutive Durchlässigkeit, ein zentraler Begriff bei Chun, macht sie "creepy" (es fällt auf, dass Chun von creepy und nicht von queer spricht). Ebenso hat sich die kollektive Konzeptualisierung und Visualisierung des Internets ebenso wie seiner Verheißungen und Potentiale paradigmatisch verändert. Der utopisch-ideelle Cyberspace der 1990er und das Imaginarium einer vermeintlich egalitären, da anonymen, elektronischen frontier (vgl. S. 104–111) ist in den 2010er Jahren dem Internet als reguliertem Überwachungsraum, als Netzwerk von Erfassungssystemen und privatisierten Räumen der Sozialen Medien gewichen, allesamt dem Diktat der Transparenz unterliegend. "[W]hy did we ever imagine the Internet – which is, at its base, a control protocol – to be an anonymous space of freedom? Why are network devices described as personal, when they are so chatty and promiscuous? Further, given the ephemerality of digital information, how has electronic memory become conflated with storage?" (S. X) Diese rhetorischen Fragen bilden die Ausgangsbasis für Chun, die ihre Thesen anhand von drei Leitbegriffen entfaltet: 'Netzwerk' ('Network'), 'Gewohnheit' ('Habit') und 'Gemeinschaft' ('Collective'). Gewohnheit, Bewohnen ("inhabit") und benachbarte Begriffe – wie jene der Eingewöhnung, der Gepflogenheit, der Regel oder des gewohnheitsmäßigen Tuns – werden in signifikanter Weise mit der 'Krise' in konstitutive Verbindung gebracht. Damit verlagern sie die Frage nach dem 'Neuen' der Neuen Medien hin zur Frage nach Alltäglichkeit und Wiederholbarkeit. Chun erörtert, was dem Bewusstsein oder der bewussten Handlung entschwindet und zur zweiten Natur wird. Dies beinhaltet aber auch die techno-philosophischen Implikationen des Updates: Wenn digitale Informationen um (aktualisiert) erhalten zu bleiben, gelöscht werden müssen, Speichern also immer auch Löschen bedeutet, haftet somit den gespeicherten Informationen etwas Untotes an. Hierin – Neue Medien nicht vorrangig als viral, disruptiv und instantan sondern in Abhängigkeit des Habituellen zu begreifen – liegt die erste bedeutsame strategische Wende in Chuns Theorie der Neuen Medien. Die zweite erfolgt via Substitution durch homophone Nachbarschaft: 'NYOU Media' ersetzt 'New Media'. Obschon Chun den Begriff an manchen Stellen schlicht als Sprachspiel einsetzt, erweitert und aktualisiert dieser jedoch grundlegend die Unterscheidung zwischen Massen- und Neuen Medien. Wird doch das massenmedial generierte 'Wir' wie auch das immer an der Schwelle zur Obsoleszenz positionierte 'Neue' von einem dividuellen, im Sinne Jean-Luc Nancys singular-pluralen 'YOU'/'Du' (oder einem Homonym der englischen Sprache geschuldet: 'Ihr') abgelöst – einem networked You (NYOU) also.
Updating to Remain the Same entfaltet auf nur knapp 174 Seiten Fließtext – begleitet von zahlreichen, großflächigen Illustrationen und Visualisierungen – eine sehr dichte Programmatik. Die Autorin verknüpft in erzählerischer wie prägnanter Prosa divergente Positionen aus Neurobiologie, Programmiersprachen und Kulturwissenschaften. Viele ihrer leitenden Gedanken begegnen den LeserInnen mehr als nur einmal und sind außerdem oftmals fettgedruckt hervorgehoben (dieser Schriftsatzwechsel kann sowohl erleichternd als auch irritierend wahrgenommen werden). Es scheint, dass Chun auch textstrategisch eine Methodik entwickelt, die mit Habitualisierung und wiedergängerischen Momenten arbeitet und die Gedankengänge als Feedbackschleifen immer wieder neu überschreibt, aktualisiert und revidiert.
Das Buch ist in zwei Abschnitte gegliedert "Part I: Imagined Networks, Glocal Collections"und "Part II: Privately Public: The Internet's Perverse Subjects". Da Chun mit Updating to Remain the Same mehrere Texte bündelt, die bereits in anderen Zusammenhängen erschienen sind, besteht das Buch aus disparaten Teilen, die teils nur lose mittels der Begriffe Network, Habit und Collective verbunden sind. Dieser Umstand macht es manchmal schwierig, den roten Faden zu halten.
Im ersten Buchteil erörtert Chun, wie der Netzwerkbegriff zum "defining concept of our epoch" (S. 25) wurde. Er hat die sich immer weiter ausdifferenzierenden Wissens- und Machtbereiche der hochtechnologisierten und globalisierten Postmoderne in ein skalierbares Bezugssystem gesetzt und eine Erfassungsmethodik angeboten: Abstrakta und Entitäten durch vielschichtige Verbindungslinien aneinander zu knüpfen und dadurch ihre Beziehung zu visualisieren. Obgleich Chun unterschiedliche Netzwerktheorien bespricht, hält sie fest, dass diese alle einer Transparenzlogik verhaftet sind: Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren wird als Schlüssel zur Ermächtigung begriffen (vgl. S. 43). Da die Methodik des präzisen Beschreibens das durch sie habhaft gewordene Phänomen immer auch mit hervorbringt, operiert die Netzwerkanalyse als capturing system – eine von Chuns vielen Brückenschlägen zu Big Data. Ebenfalls sieht die Autorin nicht als Erste Netzwerkanalysen der neoliberalen Ideologie zuspielend: die Gesellschaft weicht dem lose zusammenhängenden Kollektiv, d.h. soziopolitische Aktanten eines Netzwerks mögen zwar nur in ihrer Beziehung zueinander (= ihren Gewohnheiten!) gedacht werden, sind aber dennoch immer als Individuen visualisiert bzw. erfasst. Sie sind somit auch immer einzeln adressierbar und können haftbar gemacht werden. Was dies für die UserInnen (die YOUs) der Social Media Plattformen bedeutet, führt Chun in Part II aus.
Updating to Remain the Same kann leicht als Fatalismus verstanden werden und ein kulturpessimistisches Szenario evozieren – das imperative Update hat doch nur zur Folge in permanenter Selbstoptimierung auf der Stelle zu treten. In Kapitel "Part I/ 2. Habit + Crisis = Update" weist Chun diese Assoziation zwar nicht ganz von der Hand, jedoch werden die einzelnen Termini einer solchen Gleichung im Kontext divergierender Ansätze erörtert. Es ist die Gewohnheit, die Chun dabei insbesondere interessiert und die sie im Kontext unterschiedlicher Theoriebildungen (etwa jene Félix Ravaissons) und Definitionen erörtert. Updating to remain the Same ließe sich etwa auch mit Gilles Deleuze als "the Habit of saying I" (S. 6) begreifen. Big Data – das Zusammenspiel staatlicher und privatwirtschaftlicher Erfassungssysteme – bildet die Gewohnheiten der UserInnen ab und ermöglicht prognostische Aussagen – das Habituelle als Information. Alltagshandlungen als zweite Natur bespricht Chun aber auch kritisch in Abhängigkeit von Zeitlichkeiten und Erinnerung/Gedächtnis. Ideologie als kennzeichnende Vorstellung einer Gesellschaft von sich selbst lässt sich ebenfalls über ihre automatisierten und unbewussten Handlungen verstehen – das ideologische Moment des Habituellen.
Wenn von digitalen Technologien (computer/smartphone/wearables) als Speichermedien oder 'personal' gesprochen wird, so verdecken jene Begriffe die eigentlichen operativen Vorgänge. Denn die Neuen Medien sind grundsätzlich leaky (durchlässig) und promiscuous (promiskuitiv). Smartphones und andere personal devices empfangen und versenden permanent Datenpakete, sie teilen sich also ständig mit – sie sind gesellig. Die mediale Berichterstattung über Neue Medien/Social Media ist demnach vorrangig von Enthüllungen offener Geheimnisse geprägt. Wichtiger als verwundert zu fragen, warum etwa Wikileaks überhaupt der Status einer zeitgeschichtlichen Zäsur zugeschrieben wurde, ist es Chun jedoch der Frage nachzugehen, was die konstitutive Durchlässigkeit digitaler Technologien für Gemeinschaftsbildungen in, mit und durch Soziale Medien bedeutet: Sowohl in ihrer positiven Dimension, sich über anteilnehmende Zugehörigkeit zu definieren (love), wie in ihrer negativen, sich über gemeinsame Ächtung zu definieren (hate) – naturgemäß kommt es hier zu einem Zirkelschluss. Chun geht es im zweiten Teil hauptsächlich darum darzulegen, wie NYOU Media öffentliche und private Räume invertiert haben und warum es notwendig ist, gegen die vorherrschende Dialektik der Transparenz anzutreten. Denn diese hat zur Folge, dass die Operationen der digitalen Technologien (ihre leakiness) unsichtbar gemacht werden und die Userin für ihr attestiertes (Fehl)Verhalten (ihre leaks, z.B. ein Nacktfoto) individuell verantwortlich gemacht wird – YOUs never forget. Chun gendert die Userin, da gerade an dieser die vermeintliche Sicherheit einer überholten und ohnehin ideologisch fragwürdigen Privacy in ihrer sanktionierenden Gewalt offenbart wird: Scham und Schande. Daher positioniert sich die Autorin auch klar gegen eine 'Epistemologie des Outings' (vgl. S. 135–165) und optiert mit Bezug auf Nancys inoperabler Gemeinschaft für ein Recht auf Öffentlichkeit. Wenn Chun die Verletzlichkeit der UserInnen zum gemeinschaftsbildenden Potential erhebt, befindet sie sich durchaus in Nachbarschaft zu Judith Butler. Unklar bleibt, ob Chun für eine neue Ethik plädiert, die sie aus einem technischen a priori ableitet (leakiness) oder ob sie mit ihrer Theorie der Neuen Medien eine politische Forderung stützen möchte. In jedem Fall bildet Updating to Remain the Same den letzten Teil von Chuns Trilogie eines transformativen Ablöseprozesses: "[H]ow Computers ermerged as a form of mass media to end mass media by replacing the mass with the new, the we with the YOU" (S. 18).
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