Nora Haakh: Muslimisierte Körper auf der Bühne. Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater.
Bielefeld: Transcript 2022, ISBN: 978-3-8376-3007-7, 210 Seiten, Preis: € 30,00.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2022-2-02Abstract
Bei der im Januar 2021 im transcript Verlag erschienenen Publikation Muslimisierte Körper auf der Bühne. Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater handelt es sich um die bereits 2011 eingereichte Magisterarbeit der studierten (und unterdessen auch schon promovierten) Islamwissenschaftlerin, Dramaturgin und freien Performancemacherin Nora Haakh. Lässt einen diese zeiteinordnende Vorbemerkung, die der Studie vorangestellt ist, zu Lektürebeginn vielleicht erst noch kurz wundernehmen, und vorschnelle Mutmaßungen über die Aktualität der Untersuchung anstellen, zerstreuen sich solcherlei Gedanken rasch. Denn Haakhs Buch ist auch 2022 noch eine immense Bereicherung für das Verständnis inhaltlicher, struktureller, ästhetisch-formaler wie auch (identitäts-)politischer Dimensionen des postmigrantischen Theaters; und gerade sein Publikationsabstand von einer Dekade macht die Studie zu einem wichtigen Beitrag über die Genese des Gegenstandsfelds postmigrantischen Theaters im deutschsprachigen Raum.
Wie der Untertitel anzeigt, fokussiert Nora Haakh in ihren Ausführungen vor allem einen Aspekt der frühen postmigrantischen Theaterarbeit, und zwar die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Islamdebatte, die sich in einigen der zwischen 2006 und 2010 am Berliner Ballhaus Naunynstraße entstandenen Inszenierungen nachzeichnen lässt. Dabei stellt die Autorin mehrfach klar, dass ihre Schwerpunktsetzung keineswegs zugleich als ein Schwerpunkt postmigrantischer Theaterarbeit per se fehlzuinterpretieren sei. Zum Ballhaus Naunynstraße, das 2008 unter der Trägerschaft des Vereins Kultursprünge neu eröffnet wurde und unter der Intendanz von Shermin Langhoff deutschlandweit zur vermutlich wichtigsten Plattform postmigrantischer Kunst- und Kulturpraxis seiner Zeit avancierte, bringt Nora Haakh als ehemalige Regieassistentin sowie spätere Dramaturgin auch einen konkret arbeitspraktischen Bezug mit.
Ein zentrales Erkenntnisinteresse der Studie richtet sich auf Islambilder, genauer auf den "imaginierten Islam" in der deutschen Debatte wie auch den "fiktionalen Islam", der im Theater – gerade auch als Reaktion auf ebenjene gesellschaftlich geführte Debatte – thematisiert und/oder präsentiert wird (S. 19). Dabei befragt die Autorin einzelne Inszenierungen vornehmlich auf ihre identitätspolitische Verfasstheit. Theoretisch bezieht sie sich hierfür auf Positionen des postkolonialen, britischen Kulturtheoretikers Stuart Hall. Haakh teilt mit Hall nicht nur die Ablehnung eines Verständnisses von Identität als vermeintlich homogener Entität zugunsten einer Akzentuierung von Identität als prozesshafter Identifizierung und Positionierung, sondern auch das Interesse an einer Analyse des "Eintritt[s] von Angehörigen marginalisierter Gruppen in die Repräsentationsverhältnisse mit dem Ziel der aktiven Mitgestaltung des kollektiven Bildrepertoires" (S. 30) – was von Hall bereits als Identitätspolitik bezeichnet wird. Er unterscheidet dabei mit Rekurs auf Antonio Gramsci mit "Bewegungs- und Stellungskrieg" zwei unterschiedliche, miteinander verwobene Formationen von Identitätspolitik. Nora Haakh übernimmt die Unterscheidung, allerdings leicht modifiziert, und spricht in ihrer Studie von "Identitätspolitik 1 (für Bewegungskrieg) und Identitätspolitik 2 (als Stellungskampf)" (S. 38).
Identitätspolitik 1 verfolgt das Ziel, "‘sich selbst ins Bild setzen‘ zu können, anstatt als Objekt dargestellt zu werden" (S. 41) und ist dabei aufgrund dominierender mimetischer Darstellungsweisen mit dem ambivalenten Dilemma der (zuweilen auch: strategischen) Selbst-Essentialisierung verknüpft. Identitätspolitik 2 geht deshalb noch einen Schritt weiter und "betrachtet Identität als nicht nur in Repräsentation dargestellt, sondern durch den Prozess der Repräsentation produziert" (ebd., Hervorhebung i.O.) und adressiert etwa mit der Produktion von Gegenbildern auch das Wirken hegemonialer Strukturen und Sprechweisen und bezieht sich damit nicht nur auf bestimmte marginalisierte, vermeintlich ‚authentische‘ Perspektiven, sondern auf die Gesellschaft als komplex-verwobenes Ganzes (vgl. S. 42). Beide Formen beschreiben Aushandlungskämpfe um Repräsentation, Sichtbarkeit und erweiterte Handlungsfähigkeit im Rahmen der sozial-relational gedachten Konfiguration beständig wechselnder Prozesse aktiver Positionierung und passiven Positioniert-Werdens (vgl. S. 36).
Spätestens hier wird deutlich, dass die Studie – auch wenn sie sich im Verlauf vornehmlich auf die spezifischen Debatten über Einwanderung, Islam und Muslim*innen konzentriert – mit Blick auf identitätspolitische Fragen für Untersuchungen anschlussfähig ist, die sich mit weiteren Aushandlungskämpfen zwischen Mehrheits- bzw. Dominanzgesellschaft und marginalisierten sozialen Gruppen beschäftigen.
Trotz der quantitativ hohen Migration von Gastarbeiter*innen in den 1960er und -70er Jahren, insbesondere von Menschen aus der Türkei nach Westdeutschland, wurde in der deutschen Debatte immer wieder abgelehnt, Deutschland als das, was es faktisch (eben nicht erst seit 2004, nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes) ist, auch anerkennend zu benennen: ein Einwanderungsland. Insbesondere die Forschung konstatiert dabei, Haakh zufolge, nicht nur ein veritables Gedächtnisvakuum zum Thema Einwanderung in der deutschen Erinnerungskultur, sondern hat auch aufgezeigt, wie trotz nachweislich nur geringem Bevölkerungsanteil mit angenommener islamischer Prägung in Deutschland (5%), es hier trotzdem zu einer konstanten Zunahme antimuslimischer Einstellungen kommen konnte. Der Ausbildung antimuslimischer Einstellungen gehen dabei komplexe, aktive wie passive Positionierungs-Prozesse voraus, die Haakh begrifflich als Islamisierung und/oder Muslimisierung von marginalisierten Menschen in der (und durch die) Mehrheitsgesellschaft fasst. Analog zum Konzept der racialisation würden u.a. türkischstämmige Menschen, die als Muslim*innen markiert oder wahrgenommen werden "[u]nabhängig von dem Stellenwert, den Religion in der individuellen Weltsicht und Alltagspraxis einnimmt, […] durch die Annahme, sich der Prägungen durch den imaginierten Islam nicht entziehen zu können, zu Muslim_innen gemacht" (S. 60). Im Rückgriff auf überholte Stereotype, Essentialisierungen und neo-orientalistische Imaginationen dienten Prozesse der Muslimisierung einzelner Bevölkerungsgruppen – so die referierte Position kritischer Okzidentalismusforschung – der Neukonstruktion europäischer Mehrheitsidentität. Insbesondere geschlechterspezifische Konstruktionen wie die Figuration der unterdrückten muslimischen Frau wirkten zudem an der diskursiven Gegenüberstellung "westlicher" versus "islamischer" Kultur prägend mit (S. 63).
Die von Haakh mit beeindruckender sprachlicher Eleganz und Präzision vorgenommenen, begrifflich wie theoretisch einführenden Ausführungen machen deutlich: Es ist die Thematisierung und Dekonstruktion dieser epistemisch gewaltsamen Prozesse ebenso wie der identitätspolitische Kampf um Sichtbarkeit und Sichtbarmachung, wonach "(Post-)Migrant*innen" – darunter insbesondere auch die türkischstämmigen und als Kinder türkischer Eltern in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Akteur*innen der zweiten und dritten Generation – streben. Im Kontext der Arbeit des Ballhaus Naunynstraße setzte sich die Selbstbezeichnung "postmigrantisch" frühzeitig durch, um einerseits eine "Haftfläche für Identitätskonstruktionen bereit[zu]stellen" (S. 97) und andererseits Aufmerksamkeit zu erregen, auch ganz pragmatisch, indem man dem Berliner Kulturbetrieb eine neue Warenmarke zuführt.
Im umfangreichsten Kapitel zur Analyse identitätspolitischer Strategien in Inszenierungen des Ballhaus Naunynstraße geht Haakh zunächst von drei Phasen mit drei verschiedenen (sich im Verlauf entwickelten) Zielsetzungen aus: 1. Produktionen wie Schwarze Jungfrauen (2006) und Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke? (2008), die individuelle Lebensgeschichten in den Mittelpunkt stellen; 2. Arbeiten wie Die Schwäne vom Schlachthof (2008) und Lö Bal Almanya (2010), die die Präsenz türkischer Einwander*innen in der deutschen Geschichte thematisieren; und 3. Inszenierungen wie Verrücktes Blut (2010) oder Schnee (2010), die als Kommentare zu aktuelle Debatten über Integration und Islam rezipiert werden können.
Bei den Arbeiten der ersten Phase handelt es sich um semi-dokumentarische Monologe, die "gebrochene Narrative von Selbst-Erzählungen" (S. 127) darstellen, um nicht zuletzt gezielte Verwirrung bezüglich ihres eigenen Wahrheits- bzw. Authentizitätsgehalts zu stiften. Diese Phase, so führt Haakh überzeugend aus, ist im Bereich von Identitätspolitik 1 zu verorten und gewissermaßen noch Kind eines Diskurses um Hybridität und Interkultur, wie er in der ersten Hälfte der Nuller Jahre geführt wurde. In dieser Zeit formierte sich ein vom "Authentizitätskult" ethnifizierter Themen ausgehender Zwang zu autobiografischen Stoffen im postmigrantischen (wie auch postkolonialen) Theater. Auch die Inszenierungen der zweiten Phase sind noch dem Dokumentartheater zuzuordnen, wobei Aspekte der deutschen Nachkriegsgeschichte thematisch angeeignet und entsprechend einer postmigrantischen Perspektive erweitert werden. Erst die Produktionen der dritten Phase nehmen sich klassischer Stoffe und Vorlagen an, und stehen damit für Identitätspolitik 2, um das Theater damit nicht mehr als "Schaufenster", sondern als "Labor" für die theatrale Untersuchung hegemonialer Blicke zu nutzen (S. 173).
Insgesamt fällt neben der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der dezidiert dramaturgische Zugriff auf die Analysen auf. Damit ist gemeint, dass sich die Ausführungen zwischen der Einordnung in gesellschaftspolitische Kontexte, vergleichenden Aussagen zu Stückfassung und Inszenierung sowie versierten Einordnungen des Quellenmaterials bewegen. Wer angesichts von Titel und Gegenstand umfangreichere, theaterwissenschaftliche Aufführungsanalysen erwartet, wird enttäuscht; findet diese, insbesondere zum postmigrantischen Theater, allerdings aktuell in anderen Publikationen wie jenen von Hans Roth (2022) oder Friederike Oberkrome (2022). Wer diese gar nicht erst erwartet, kann sich bei Haakhs Muslimisierte Körper auf der Bühne auf eine kenntnis- und immens lehrreiche Studie freuen, die das Theater als Akteur identitätspolitischer gesellschaftlicher Aushandlungen ernst nimmt, und am reichhaltigen Beispielmaterial des Ballhaus Naunynstraße (2006 bis 2010) aufzeigt, wie postmigrantisches Theater zu einem "breiteren und unverkrampfteren Umgang mit dem Islam als Element deutscher Gesellschaft" (S. 180) beitragen kann, etwa indem es an der Subversion, Kritik und/oder Aussetzung insbesondere vergeschlechtlichter Muslimisierung von Körpern und Personen aktiv mitwirkt.
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