Julia Schade: Unzeit. Widerständige Zeitlichkeiten in Performance, Kunst, Theorie.
Berlin: Neofelis 2024. ISBN: 978-3-95808-448-3. 370 Seiten, 28,00 €.
DOI:
https://doi.org/10.25365/rezens-2025-1-05Abstract
Bei der im vergangenen Jahr im Berliner Neofelis-Verlag erschienenen Studie Unzeit. Widerständige Zeitlichkeiten in Performance, Kunst, Theorie handelt es sich um die bearbeitete Fassung der bereits 2020 abgeschlossenen, 2021 mit dem WISAG-Preis der Universität Frankfurt ausgezeichneten Dissertation der Medien- und Theaterwissenschaftlerin Julia Schade. Ihre tiefgehenden und weitreichenden Überlegungen zu einem "andere[n] Denken von Zeitlichkeit und ein[em] Denken anderer Zeitlichkeit" (S. 16, kursiv i. O.) kommen dabei mitnichten zur Unzeit, sondern wie gerufen. Ereignen sie sich doch in einer Zeit, in der das Bewusstsein für die Pluralität von Zeiterfahrungen und Zukunftsregimen beständig wächst; zumal diese Pluralität in Theorie und Kunst verstärkt ihre Bühnen der Be- und Verarbeitung findet. Das zentrale Erkenntnisinteresse Schades besteht in der Mammutaufgabe, das westlich geprägte Zeitdenken, das von der einen Zeit ausgeht, die sich linear – in der hegemonialen Logik sukzessiven Fortschritts – entfaltet, auf seine "blinden" Flecken zu untersuchen, indem sie es zuvorderst mithilfe poststrukturalistischer Theorie durcharbeitet, um so nicht zuletzt Prämissen der eigenen Theoriesozialisierung ein Stück weit zu verlernen.
Für die Fundstücke von "Zeitlichkeiten in der Zeit, die sich als Widerständigkeit innerhalb der ordnenden, strukturierenden und Maß gebenden einen Zeit bemerkbar machen und gleichzeitig auf die Potenzialität möglicher anderer Zeitlichkeiten verweisen" (S. 17, kursiv i. O.), setzt die Autorin die titelgebende "Unzeit" zugleich als Sammelbegriff und Denkfigur für widerständige Zeitlichkeiten wie Zäsur, Nachleben, Verschleppung, Verschränkung, Unterbrechung. Diese unterlaufen die normative Zeitordnung und verweisen auf die potenzielle Vielgestaltigkeit von Zeit. Der primäre Gegenstand von Julia Schades Buch ist also Theorie, ja, Philosophie der Zeit. Dazu passt, dass sie als ihre Methode ein "Denken im Material" (S. 33) ausweist. Der Material-Begriff spielt hier auf die insgesamt fünf Inszenierungsbeispiele an, die sie in ihre Studie miteinbezogen hat. Arbeiten von William Kentridge, andpartnersincrime, Rabih Mroué, Frédérique Aït-Touati & Bruno Latour sowie Eva Meyer-Keller aus den Jahren 2012 bis 2018 stehen also für beispielgebende Materialisierungen widerständiger Zeitlichkeiten, insofern sie solche erfahrbar machen, indem sie sie aus der Abstraktion in die konkrete Anschauung überführen.
Am Beispiel von Kentridges multimedialer Installation mit dem sprechenden Titel The Refusal of Time (2012) widmet sich das erste Kapitel der Kritik der einen Zeit aus einer post- und dekolonialen Perspektive. Ausgehend von inszenatorischen Elementen wie der sich im Zentrum der Installation befindlichen Atemmaschine sowie der Verwendung von Montagetechniken und anderen Formsprachen der Avantgarden arbeitet Schade heraus, wie Kentridge im Zusammenspiel mit der Materialität und Indexikalität seiner Referenzen z. B. rhythmische Abweichungen oder die Erfahrung einer komplexen "thick time" (S. 53) szenisch erfahrbar macht. Und zwar gerade dort, wo auf das Zeitalter der Industrialisierung mit seinen vielfältigen Prozessen der Synchronisierung – von Uhren wie auch Körpern – referenziert wird; als dasjenige Zeitalter, das im Westen mit der mechanischen Etablierung der einen Zeit auch die Voraussetzung einer imperialen, kolonialen Weltordnung erschuf. Mit Bezugnahmen auf die Theorien von Saidiya Hartmann und Christina Sharpe wird eine Revision des mit dem modernen Zeitregime der einen Zeit verbundenen europäischen Universalismus vorgenommen, um auf das Ausgeschlossene und Ungedachte des Kolonialismus, aber auch auf sein widerständig rumorendes, nachlebendes Erbe und seine potenzielle Erfahrbarkeit in Kentridges Installation hinzuweisen.
Das zweite Kapitel geht nochmal einen Schritt zurück – und verdeutlicht, dass Julia Schade das anvisierte Durcharbeiten und Verlernen ernst meint. Anstatt bei der Position zeitgenössischer Kritik zu verharren, nimmt sie ihre Leser*innen mit zu historischen Szenen des Denkens einer westlichen Philosophie der Zeit, wie sie u. a. von Immanuel Kant oder später von Walter Benjamin und Gershom Scholem vollzogen wurde. Das sehr dichte, anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Theoriekapitel historisiert mit der Vorstellung der Zeit als "Figur der Zykloide" (S. 115) in den Schriften von Benjamin und Scholem nicht nur die dem Zeitdenken inhärente Möglichkeit, Zeit/lichkeit anders zu denken. Es zeigt sich vor allem auch daran interessiert, nachzuspüren, wie das theoretische Verhältnis von Zeit und Form, Formgebung und Formveränderung war, ist und sein könnte. Hierfür ist es unter anderem Benjamins Begriff der Plastizität, der für die potenzielle (Ver-)Formbarkeit von Zeit in Stellung zu bringen wäre. In der Zäsur, dem Ereignis oder dem Zwischenfall betrete "Unzeit", die hier auch nochmal an Schriften des Frankfurter Komparatisten Werner Hamacher rückgebunden wird, zuvorderst im Bereich der Künste die Bühne. An diese Überlegung schließt Schade konsequenterweise die Erläuterung ihres Theaterverständnisses an, das wesentlich in der theaterwissenschaftlichen Denkschule von Ulrike Haß und Nikolaus Müller-Schöll sowie französischer, poststrukturalistischer Referenzdenker wie Jacques Derrida oder Jean-Luc Nancy verortet ist, und Theater "als Gegenentwurf zu einem Theater der Sichtbarkeit und der Präsenz" (S. 186) begreift. Neben den Inszenierungen – so wird hier deutlich –, ist es auch jenes Theorie-Material, mit dem sie denkt und arbeitet, und auf das sie in der Studie fortan immer wieder Bezug nehmen wird. Ohne es explizit zu machen, offenbart sich hier Schades methodische Form des Denkens-mit, die meines Erachtens auch als Versuch gedeutet werden kann, die eigene Positionalität über das schreibende In-Szene-Setzen ihrer relationalen Verwobenheit mit dieser spezifischen Denkschule herauszustellen und dadurch zu markieren.
Im dritten Kapitel widmet sich Schade entlang der Lecture Performance Riding on a Cloud von Rabih Mroué der Kritik eines spezifischen Präsentismus im Zeitdenken von Gegenwart, demzufolge innerhalb der Ordnung von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft immer nur ein davor und danach gedacht werde. Hier ist es insbesondere der der Inszenierung zugrunde liegende, thematische Aspekt des Traumas, welcher auf eine radikal andere Zeitlichkeit verweist. Schließlich zeige sich im Trauma eine unbegrenzt andauernde Nachträglichkeit, die die separierende Zeitachsenlogik komplex unterwandere.
Mein persönliches Lieblingskapitel ist das vierte Buchkapitel, das sich entlang von drei Inszenierungsbeispielen und Theorien des Neuen Materialismus verschiedenen Konstellationen mehr-als-menschlicher Verschränkungen und ihren widerständigen Zeitlichkeiten widmet. Hier wechseln sich theoretische Differenzierungen zu vorgestellten Enden der Zeit (messianisch vs. eschatologisch), pointiert referierte kritische Positionen zum Anthropozän-Denken (z.B. bzgl. der inhärenten Wiederkehr universalistischer Denkmuster) und dichte Aufführungsbeschreibungen auf eine Weise ab, dass eine regelrechte Sogwirkung bei der Lektüre entsteht. Überhaupt ist die trotz aller Komplexität verblüffend klare Theorievermittlung ein großes Verdienst dieser Studie. Selten habe ich etwa eine so eingängige Erläuterung von Karen Barads Konzept der Diffraktion gelesen. Hier wird Theorie nicht einfach der Liebe zum Elfenbeinturm wegen betrieben. Vielmehr erhalten Leser*innen ein sprachlich gekonntes und zugleich spürbar an Nachvollziehbarkeit interessiertes Angebot, sich theoretischen Überlegungen zu widerständigen Zeitlichkeiten hinzugeben, die stets als gesellschaftspolitisch relevant erkennbar bleiben und daraus Momente der Dringlichkeit generieren.
Während es zu Kentridge und auch Mroué schon einiges an theaterwissenschaftlicher Forschung gibt, würdigt Schades Buch mit Boundaries und Living Matters – längst überfällig – auch je eine Arbeit des Frankfurter Labels andpartnersincrime sowie der materialklugen Performancemacherin Eva Meyer-Keller. Als Leserin hätte ich mir einzig eine nähere und transparentere Begründung der Auswahl des Inszenierungskorpus gewünscht. So zeigt die Studie einen kaum kommentierten Hang zu dokumentarischen oder recherchebasierten Stoffen, die entweder installativ oder als Lecture Performances mit dem Publikum geteilt werden. Hier hätten mich Ausführungen zum Zusammenhang von Genre, Affekt und Zeitlichkeit, produktionsästhetische Fragen zur offensichtlichen Theorieaffinität der Künstler*innen selbst und rezeptionsästhetische Dimensionen, die auch plurale Zeitlichkeitsempfindungen während der Aufführung einbeziehen, interessiert – insbesondere vor dem formulierten Anspruch eines relationalen Ansatzes. Dieser führt dazu, dass es bei den theoretischen Positionen immer auch darum geht, kritisch anzumerken, wenn die Denker*innen in eine Logik der distanziert von außen blickenden "Schauordnung" (S. 265) zurückfallen. Mit dem Wissen und der Sensibilität, das einem selbst das auch immer wieder passieren kann, regt Julia Schades Buch nicht zuletzt an, in einem nächsten Schritt auch nochmal konsequenter darüber nachzudenken, wie auch bestimmte Aspekte der theaterwissenschaftlichen Aufführungs- und Inszenierungsanalyse dieser Logik immer wieder anheimfallen und also ebenfalls Prozessen des Verlernens unterzogen werden müssten.

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