Robin Becker/David Hagen/Livia von Samson (Hg.): Ästhetik nach Adorno. Positionen zur Gegenwartskunst.

Berlin: Verbrecher Verlag 2022. ISBN: 9783957325242. 286 Seiten, 25,00 €.

Autor/innen

  • Ronny Günl

DOI:

https://doi.org/10.25365/rezens-2023-1-11

Abstract

Zur (neuen) Theorieproduktion auf bekanntes Wissen zurückzugreifen, macht bekanntermaßen eine entsprechende Einordnung im Hinblick auf die Entstehungsbedingungen der referenzierten Literatur notwendig. Bezieht man sich positiv, gilt es die vorhandenen Erkenntnisse zu aktualisieren. Nicht vom Zeitkern, sondern von der Zeithülle müsste man so die Theorie befreien, um sie mit einem Sprung in die Gegenwart übertragen zu können. Bleibt dann aber noch mehr vom Denken übrig als der Name, der damit identifiziert beziehungsweise etikettiert wird?

Mit dieser Problematik beschäftigt sich der 2022 beim Verbrecher-Verlag erschienene Sammelband Ästhetik nach Adorno. Positionen zur Gegenwartskunst herausgegeben von Robin Becker, David Hagen und Livia von Samson. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um eine Auswahl von verschriftlichten Vorträgen der gleichnamigen Konferenz 2019 in Berlin. Der schillernde Titel bringt schon die Ambivalenz dieses Vorhabens ans Licht. Einerseits ließe sich das ästhetische Denken Adornos in ein historisierendes, kritisch-komparatives Verhältnis zur (ästhetischen) Theorieproduktion im Allgemeinen stellen, anderseits könnte der Versuch unternommen werden, das unvollendet gebliebene Werk Adornos für sich zu beanspruchen und weiterzudenken.
Dass sowohl das eine als auch das andere nicht zum Verständnis gegenwärtiger Kunstproduktion beiträgt, sondern zum Scheitern verurteilt sein muss, legt die programmatische Einleitung zu Grunde: "Ginge man in der Analyse und Kritik der Gegenwartskunst heute von [Adornos] Kategorien aus, wäre es leicht wie leichtfertig, die zeitgenössische Kunst bloß als Verfallsform der modernen abzutun" (S. 17f). Stattdessen müsse "das Verhältnis der Gegenwartskunst zur modernen Kunst weniger als dichotomes denn als dialektisches" (S. 19) begriffen werden, was heißt, dass sich die Begriffe und Kategorien eher als Reflexionsinstrumente mit Blick auf bestehende gesellschaftliche Bedingungen eignen. Damit soll nicht weniger als "das gesellschaftskritische Motiv der Ästhetik Adornos" (S. 23) wieder eingeholt werden (sofern man es als verloren betrachtet), mit dem sich der Band als Gegenentwurf zu akademischen Grenzziehungen versteht – sei es zwischen vereinzelten Disziplinen oder zwischen inner- und außeruniversitären Kontexten.

Ausgehend von einer Diskussion des Autonomiebegriffes zwischen Juliane Rebentisch und Kerstin Stakemeier hielt die Konferenz 2019 noch an der Struktur der einzelnen Kunstdisziplinen (bildende Kunst, Literatur, Musik und Aufführung) fest; im vorliegenden Band hat jedoch diese Trennung einem dreiteiligen Aufbau von Theorie, Analyse und Kritik Platz gemacht. Die Trennung der im Sinne der Kritischen Theorie zusammengehörigen Begriffe mag verwundern. Gleichzeitig bilden sich dadurch innerhalb der drei Kapitel neue begriffliche Konstellationen. Den Kapitelnamen muss insofern kaum Bedeutung geschenkt werden. Am ehesten sind sie Hüllen und richten sich nach der Form und dem zentrale Argument der jeweiligen Texte. Daraus geht eine thematische Mannigfaltigkeit hervor, die neue Verknüpfungen ermöglicht und auf den Zusammenhang zielt, anstatt nur spezifische, gegenstandsbezogene Kleinststudien aneinanderzureihen.

Das Theorie-Kapitel versteht sich vor allem als begriffsgeschichtliche Rekonstruktion von Adornos Kategorien. Christian Grünys Beitrag "Material und Ort" fällt dabei besonders auf, da sich mit dem vorgestellten Materialbegriff trotz seiner Eigensinnigkeit etwas über die gegenwärtige künstlerische Praxis begreifen lässt. "[K]ein Material [liegt] einfach vor, sondern es ist immer das Resultat einer eigenen vorbereitenden Arbeit" (S. 52). Das bedeutet für Adorno, dessen Auseinandersetzung dahingehend vor allem im Briefwechsel mit dem Komponisten Ernst Křenek bestand, dass im Material eine geschichtliche Bewegung enthalten sei. Man könne so zunächst von "einem bestimmten Stand des Materials sprechen" (S. 52), der darüber hinaus Bewegungsrichtungen, -gesetzen, -tendenzen und -zwängen unterworfen sei. Die künstlerische Praxis und das Material blieben so dialektisch aufeinander bezogen. Grüny erklärt vor allem im Hinblick auf die oft missverstandene Kritik am sogenannten "Verfransungsprozess" der Künste, wie die Ausbildung und Tradition künstlerischer Disziplinen keinen außenstehenden Trends unterlägen, sondern historisch bedingt seien.

"Wogegen Adorno sich wendet, ist ein bloßes Ausscheren aus dem historischen Entwicklungszusammenhang, das sich nicht um das Gewesene bekümmert und sich frei an diesem und jenem bedient. Kritisiert wird nicht Unreinheit, sondern Inkonsequenz, und mit ihr die Gefahr des Dilettantismus und des fröhlich unreflektierten Herumbastelns" (S. 59).
Darin drückt sich vor allem eine Absage an kulturpessimistische Relativierungen gegenwärtiger Kunstproduktion aus, die eine ernstzunehmende Kritik in den Blick nehmen müsse. Grüny schlägt dazu den Begriff des Ortes vor, mit dem sich die Situierung des Materials untersuchen lässt. Im Konkreten meint er damit die "institutionelle Verortung und geopolitische Position" (S. 62), worin eine "gesellschaftliche Dimension […] als Referenz" (ebd.) erkennbar wird. Der anschließende Beitrag von Kaja Kröger "Gefühl zu Bild" führt diesen Ansatz weiter, indem sie unter Rückgriff auf Silvia Bovenschen die formlose Formbestimmtheit einer möglichen feministische Ästhetik bei Maria Lassnig und Ewa Plonowska Ziarek reflektiert (vgl. S. 74).
Neben dem Material wird so über viele Beiträge des Bandes hinweg immer wieder ein vergessen geglaubter Begriff – die Formproblematik – aktiviert und hintergründig mitverhandelt. Lars Hartmann konzediert im Text "Vom Wahrheitsgehalt und der 'Verfransung der Künste'" dahingehend eindimensional erscheinender Biennalen-Kunst gerade da Vielschichtigkeit, wo "sowohl autonom[e] wie engagiert[e], souveränitätsästhetisch[e] wie formalästhetisch[e] Momente" (S. 102) zusammenspielen. Im zeitgenössischen Kunstwerk ließen diese Ebenen, um mit Peter Bürgers "Theorie der Avantgarde" entgegen Adorno zu sprechen, eine "Kopplung von Autonomie und Engagement" (S. 103) zu. Vor allem die musiktheoretischen Beiträge, etwa Kim Fesers "vielleicht das Schimpfwort Robotermusik positiv aufgreifen", weisen dabei immer wieder auch in die Richtung medientheoretischer beziehungsweise -archäologischer Fragestellungen. Adornos Kritik sei insofern "durchzogen von der Diskussion des Automatisch-Mechanischen und dessen Verhältnis zum Lebendig-Subjektiven" (S. 137), was sich jedoch nicht apodiktisch äußert, sondern sich vielmehr gegen "tradierte Verfahren und Regeln, die im Kompositionsprozess nicht angepasst und umgearbeitet" (ebd.) werden, richtet.

Im Gegensatz zu ästhetischen Theorien, die auf ein Regelsystem hinauslaufen, zeigt sich bei Adorno vielleicht am deutlichsten, dass für eine gelingende Form Kritik als reflektierende Selbstüberschreitung immanent sein muss, wie Lucas Amoriello am Beispiel der Lyrik von Thomas Kling nachzeichnet (vgl. S. 144). Das gilt einerseits für das Kunstwerk, und andererseits für die Kritik. "So vollzieht Klings Lyrik die Arbeit an der Sprache durch eine kritische Intensivierung [der] poetische[n] Form" (S. 160). Es käme folglich nicht auf eine Aktualisierung der Begriffe Adornos für eine zeitgenössische Kunstkritik an, sondern vielmehr auf eine Intensivierung am Gegenstand, wodurch erst eine "überschüssige Dynamik der Sprache selbst hervorschieß[e]" (ebd.). Nur so ließe sich eine Aussage über die Verfasstheit der Gesellschaft anhand der Kunstproduktion machen.

Performative Künste wie Theater, Tanz oder Film, die für Adorno mit dem Vorrang der Musik eher von sekundärem Interesse waren, geraten im vorliegenden Band gegen Ende, vor allem im Kapitel "Kritik" in den Blick. Auf derselben Grundlage, auf der der Surrealismus in der Kritischen Theorie als Verfallsform der Kunst zur Lebensform angegriffen wurde, diskutieren die Beiträge von Irene Lehmann und Jakob Hayner Erika Fischer-Lichtes breit rezipierte "Ästhetik des Performativen" hinsichtlich einer Ästhetik, die ihr gesellschaftlich Äußeres durch gemeinschaftliche Selbstsetzung verzaubert. Das gelingt sowohl konstruktiv als auch polemisch. Hayner pointiert: "Das Verworrene ist, dass die in der Kunst immer enthaltene Kritik an der Vorherrschaft des Geistigen und Rationalen umkippt in eine offene Ablehnung desselben, die sich zudem bestens verträgt mit den irrationalistischen Tendenzen in der Gesellschaft als solcher. Der Mensch verlässt die von ihm geschaffene Welt, er schafft sich selbst ab – und es hilft die Kunst" (S. 220).
In dieser Passage wird mit scharfer Kritik weniger eine solipsistische Erkenntnis über das Werk Adornos erhellt, als dass sich ein feuilletonistischer Impuls von außen im Sinne der "bestimmten Negation" gegen eine selbstreferenzielle Theoriebildung Ausdruck verschafft. Gerade weil Adorno sich ebenso an diesem Gestus bediente, sind in diesem Zusammenhang bemühte Adorno-Exegesen ohne Frage mitgemeint. Es bietet sich insofern mit diesem Band vor allem an, über die eigene Forschungspraxis zu reflektieren. Eine Praxis, die nicht notwendigerweise etwas von Adorno wissen muss (das nicht ohnehin schon bekannt wäre), sondern sich zu ihm in ein Verhältnis setzen kann. Das abschließende Gespräch von Radek Krolczyk und Hannah Wolf über Kunstproduktion unter Pandemie-Bedingungen liefert dazu vor dem Hintergrund zunehmender Individualisierung, die durch eine falsche Kollektivität überblendet werden soll, wichtige Stichworte.

Autor/innen-Biografie

Ronny Günl

arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Visual History of the Holocaust des Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (LBIDH). Er studierte Theater-, Film und Medienwissenschaft an der Universität Wien und schloss im Jahr 2022 sein Studium mit der Masterarbeit "Bröckelnder Beton: zur kritischen Theorie im Begriff des Ereignisses" ab, in der er sich am Beispiel des Films Videogramme einer Revolution von Harun Farocki und Andrei Ujică mit einer Verknüpfung von Ästhetischer Theorie und Geschichtsphilosophie beschäftige. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit schreibt er u. a. für Jugend ohne Film, MALMOE, Versorgerin und jungle.world. Als Teil des Filmclub Tacheles gab er eine Anthologie über die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann mit heraus.

cover: Ästhetik nach Adorno

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Veröffentlicht

2023-05-10

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Medien